VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 20.11.2008 - AN 5 K 08.01186 - asyl.net: M15085
https://www.asyl.net/rsdb/M15085
Leitsatz:

Der Ausschlussgrund des § 60 Abs. 8 AufenthG liegt nicht vor, wenn der Ausländer zu mehreren Einzelstrafen verurteilt wurde, die nur zusammengerechnet eine Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren ergeben.

 

Schlagwörter: D (A), Ausweisung, zwingende Ausweisung, besonderer Ausweisungsschutz, Niederlassungserlaubnis, Kontingentflüchtlinge, Juden, Sowjetunion, Erlasslage, Altfälle, Ermessen, Privatleben, EMRK, Abschiebungsandrohung, Russland, Unterschutzstellung, Pass, Wiederholungsgefahr, Gefahr für die Allgemeinheit, Einzelstrafen, Strafurteil
Normen: AufenthG § 53 Nr. 1; AufenthG § 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 1; AufenthG § 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 5; EMRK Art. 8; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 8; HumHAG § 1 Abs. 1; HumHAG § 2a Abs. 1 Nr. 1
Auszüge:

Der Ausschlussgrund des § 60 Abs. 8 AufenthG liegt nicht vor, wenn der Ausländer zu mehreren Einzelstrafen verurteilt wurde, die nur zusammengerechnet eine Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren ergeben.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die Ausweisung des Klägers ist rechtmäßig.

Der Kläger erfüllt auf Grund der Verurteilung durch das Amtsgericht ... vom 27. März 2007 die Voraussetzungen einer zwingenden Ausweisung nach § 53 Nr. 1 AufenthG, weil er wegen vorsätzlicher Straftaten innerhalb von fünf Jahren zu mehreren Freiheitsstrafen von zusammen mindestens drei Jahren rechtskräftig verurteilt worden ist. Der Kläger genießt aber den besonderen Ausweisungsschutz des § 56 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, weil die ihm am 14. November 1997 erteilte unbefristete Aufenthaltserlaubnis gemäß § 101 Abs. 1 AufenthG als Niederlassungserlaubnis fortgilt, er eine solche demzufolge besitzt und weil er sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat. Ob der Kläger darüber hinaus besonderen Ausweisungsschutz auch nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 AufenthG besitzt, weil er unter entsprechender Anwendung des Gesetzes über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge vom 22. Juli 1980 (HumHAG) im Bundesgebiet aufgenommen und ihm am 8. Juni 2004 ein Reiseausweis nach dem Abkommen vom 28. Juli 1951 erteilt wurde, kann dahingestellt bleiben, weil es hierauf im Hinblick auf den besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG nicht ankommt.

Der den besonderen Ausweisungsschutz genießende Kläger kann gemäß § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden. Solche schwerwiegende Gründe liegen gemäß § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG in der Regel in den Fällen des § 53 vor. Da der Kläger den Ausweisungstatbestand des § 53 Nr. 1 AufenthG erfüllt, ist demzufolge davon auszugehen, dass schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung die Ausweisung rechtfertigen. Anhaltspunkte für eine Ausnahme von der Regel des § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG sind nicht ersichtlich. [...]

Genießt der Kläger somit besonderen Ausweisungsschutz, reduziert sich gemäß § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG zudem die zwingende Ausweisung des § 53 AufenthG in eine Regelausweisung. [...]

Atypische Umstände, die die Annahme eines Ausnahmefalls von der Regelausweisung gebieten würden, sind beim Kläger nicht gegeben. [...]

Der in der Ausweisung liegende Eingriff in das Privatleben des Klägers im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK ist gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK statthaft, weil er gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die zur Verhinderung von strafbaren Handlungen des Klägers notwendig ist. Sie erweist sich unter Berücksichtigung der dargelegten persönlichen Verhältnisse des Klägers nicht als unverhältnismäßig.

Im Übrigen hat die Beklagte die Ausweisung des Klägers in ihrem Bescheid vom 8. Juli 2008 hilfsweise auch im Ermessenswege verfügt. [...]

Soweit die Beklagte dem Kläger in den Ziffern II und III des Bescheides die Abschiebung in die Russische Föderation angedroht hat, ist die Klage begründet. Der Abschiebung in diesen Staat steht das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 1 AufenthG entgegen. Der Bescheid der Beklagten vom 8. Juli 2008 ist deshalb insoweit aufzuheben.

Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat mit Beschluss vom 7. August 2008 (19 B 07.1777) entschieden, dass jüdische Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion auf Grund des Beschlusses der Ministerpräsidentenkonferenz vom 9. Januar 1991 die Rechtsstellung eines Kontingentflüchtlings entsprechend § 1 Abs. 1 HumHAG genießen und sich auch ohne Vorliegen eines Verfolgungsschicksals auf den Schutz des Abschiebungsverbotes nach Art. 33 GFK/§ 60 Abs. 1 AufenthG berufen können. Dies hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in dem den Beteiligten bekannten Beschluss vom 7. August 2008 ausführlich und nachvollziehbar unter Hinweis auf den historischen Hintergrund sowie Sinn und Zweck der Aufnahme dieser Personengruppe sowie deren gewollte Gleichstellung mit den nach dem HumHAG aufgenommenen Flüchtlingen begründet. Dabei ist allerdings nicht zu verkennen, dass auch die von der Beklagten im angefochtenen Bescheid ebenso wie in der Klageerwiderung mit Schriftsatz vom 10. November 2008 vertretene Auffassung, wonach die nur in entsprechender Anwendung des HumHAG aufgenommenen jüdischen Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion nicht die Rechtsstellung eines Kontingentflüchtlings nach § 1 Abs. 1 HumHAG erworben haben, durchaus bedenkenswert erscheint, weil insbesondere das HumHAG auf diese Personengruppe – mangels einer Verfolgungssituation – nicht unmittelbar angewendet wurde. Dem hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof dadurch Rechnung getragen, dass er die Revision gegen den Beschluss vom 7. August 2008 zugelassen hat, weil eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zum Rechtsstatus der so genannten Kontingentflüchtlinge nicht zuletzt wegen der unterschiedlichen Rechtsprechung verschiedener Oberverwaltungsgerichte aus Gründen der Rechtssicherheit, der Rechtseinheitlichkeit und der Fortbildung des Rechts im allgemeinen Interesse liege. Die Beklagte hat aber ebenso wenig wie der Vertreter des öffentlichen Interesses gegen den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 7. August 2008, dem ein gegen die Beklagte gerichtetes Verfahren zu Grunde lag, Revision eingelegt. Die Kammer folgt deshalb jedenfalls aus Gründen der Rechtseinheitlichkeit und Rechtssicherheit der damit rechtskräftig gewordenen Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs. [...]

Die Kammer folgt der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs auch insoweit, als danach davon auszugehen ist, dass sich die bereits seit Jahren in der Bundesrepublik Deutschland lebenden jüdischen Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion auch nach Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes weiterhin auf die ihnen mit der entsprechenden Anwendung des HumHAG gewährten Rechtsfolgenverheißungen berufen dürfen. Dabei ist zwar nicht verständlich, wenn der Bayerische Verwaltungsgerichtshof zu der gegenteiligen Auffassung der Beklagten in seinem Beschluss vom 7. August 2008 unter Hinweis auf die §§ 102 und 103 AufenthG ausführt, sie entbehre mithin jeder Grundlage. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof geht dabei nämlich nicht darauf ein, dass das Aufenthaltsgesetz in § 101 Abs. 1 durchaus differenziert zwischen denjenigen, denen eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis nach § 1 Abs. 3 HumHAG und denjenigen, denen die unbefristete Aufenthaltserlaubnis nur in entsprechender Anwendung des HumHAG erteilt worden ist. Gleichwohl schließt sich die Kammer jedenfalls aus den bereits dargelegten Gründen auch insoweit der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs an.

Die Rechtsstellung des Klägers als Flüchtling im Sinne des HumHAG ist auch nicht wegen der am 18. März 1999 erfolgten Ausstellung eines russischen Passes an ihn gemäß § 2 a Abs. 1 Nr. 1 HumHAG erloschen. Nach dieser Vorschrift erlischt die Rechtsstellung nach § 1 HumHAG dann, wenn der Ausländer sich freiwillig oder durch Annahme oder Erneuerung eines Nationalpasses erneut dem Schutz des Staates, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, unterstellt. Das Erlöschen der Rechtsstellung setzt aber voraus, dass die Passerlangung objektiv als Unterschutzstellung zu betrachten ist und dass mit der Passausstellung eine Wiedererlangung des vollen diplomatischen Schutzes des Heimatstaates bezweckt war (vgl. BVerwG, Urteil vom 2.12.1991, 9 C 126/90, NVwZ 1992, 679 zu dem wortgleichen § 15 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG a.F., jetzt: § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG). Da der Kläger in der mündlichen Verhandlung angegeben hat, er habe sich den Pass ausstellen lassen, weil man das in Russland ab dem Alter von 16 Jahren mache und weil er angenommen habe, dass er einen deutschen Ausweis erst nach sieben Jahren erhalte, ist demzufolge davon auszugehen, dass die Voraussetzungen für ein Erlöschen der Rechtsstellung nach § 1 HumHAG nicht erfüllt waren und sind.

Ohne Bedeutung für die Stellung des Klägers als Kontingentflüchtling ist es ferner, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auf den vom Kläger gestellten Asylantrag mit Bescheid vom 11. Juni 2008 festgestellt hat, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG offensichtlich nicht vorliegen. Das Bundesamt hat dabei erkennbar nur auf die Frage, ob dem Kläger in seinem Heimatstaat eine politische Verfolgung droht, abgestellt. Eine derartige politische Verfolgung hat aber die Aufnahme des Klägers als jüdischer Emigrant aus der ehemaligen Sowjetunion nicht vorausgesetzt. Den vom Kläger nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs als Flüchtling nach dem HumHAG erlangten Schutz des § 60 Abs. 1 AufenthG hat das Bundesamt damit nicht beseitigt. Dies war mit seiner Entscheidung auch nicht beabsichtigt.

Das aus § 60 Abs. 1 AufenthG sich ergebende Verbot der Abschiebung des Klägers in seinen Heimatstaat wird auch nicht durch § 60 Abs. 8 AufenthG beseitigt. Nach § 60 Abs. 8 AufenthG findet Abs. 1 zwar keine Anwendung, wenn – was hier allenfalls in Betracht kommt – der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens 3 Jahren verurteilt worden ist. Dies setzt voraus, dass eine konkrete Wiederholungs- oder Rückfallgefahr vorliegt. Dabei ist mit der Festlegung einer Mindestfreiheitsstrafe von drei Jahren nicht nur der unbestimmte Rechtsbegriff eines besonders schweren Vergehens konkretisiert. Vielmehr ist die der gesetzlichen Regelung zu Grunde liegende Wertung zu beachten, dass Straftaten, die so schwerwiegend sind, dass sie zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren geführt haben, typischerweise mit einem hohen Wiederholungsrisiko verknüpft sind (BVerwG, Urteil vom 16.11.2000, 9 C 6/00 – Juris – zu dem § 60 Abs. 8 AufenthG entsprechenden früheren § 51 Abs. 3 AuslG).

Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 AufenthG nicht, weil er nicht wegen eines besonders schweren Vergehens zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Es trifft zwar zu, dass der Kläger im Urteil des Amtsgerichts ... vom 27. März 2007 zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten sowie einer weiteren Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt wurde, so dass die gegen ihn verhängten Freiheitsstrafen zusammengerechnet mehr als drei Jahre betragen. Der mit Schriftsatz der Regierung von ... als Vertreterin des öffentlichen Interesses vom 12. November 2008 vertretenen Auffassung, damit seien die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 AufenthG (auch) erfüllt, kann aber nicht gefolgt werden. Dieser Betrachtungsweise steht nämlich schon der Wortlaut des § 60 Abs. 8 AufenthG entgegen, der nicht darauf abstellt, ob der Kläger wegen mehrerer Straftaten bzw. im Wege der Zusammenrechnung mehrerer Einzelstrafen zu mindestens drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Vielmehr verlangt er eine Verurteilung zu mindestens drei Jahren Freiheitsstrafe. Eine derartige Verurteilung ist mit dem Urteil des Amtsgerichts ... vom 27. März 2007, das auch aus beiden Einzelstrafen nicht eine Gesamtstrafe gebildet hat, ebenso wenig gegeben wie wenn der Kläger etwa an zwei aufeinander folgenden Tagen einmal zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sieben Monaten und das andere Mal zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten verurteilt worden wäre. Auch dann fehlt es an einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren. [...]