VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 20.11.2008 - M 10 K 08.2480 - asyl.net: M15086
https://www.asyl.net/rsdb/M15086
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Verlängerung, Aufenthaltserlaubnis, vorübergehender Aufenthalt, Großeltern, Enkelkinder, Pflege, Krankheit, psychische Erkrankung, chronische Erkrankung, sonstige Familienangehörige, Schutz von Ehe und Familie, Erlasslage
Normen: AufenthG § 25 Abs. 4 S. 1; AufenthG § 36 Abs. 2; GG Art. 6
Auszüge:

[...]

Die in der Form einer Verbescheidungsklage erhobene Verpflichtungsklage ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg. [...]

Das Gericht geht mit der Beklagten davon aus, dass ein Anspruch auf Verlängerung der ursprünglich als Aufenthaltsbewilligung nach § 28 AuslG erteilten und dann als Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 AufenthG verlängerten Aufenthaltserlaubnis auf der Grundlage des § 25 Abs. 4 AufenthG nicht besteht. [...]

Aus der systematischen Stellung des § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG ergibt sich, dass diese Vorschrift nicht auf diejenigen Fälle anwendbar ist, in denen ein Daueraufenthalt oder ein in seiner Zeitdauer unabsehbarer Aufenthalt in der Bundesrepublik angestrebt wird. Ein Daueraufenthalt wird angestrebt, wenn die vom Ausländer vorgetragenen Gründe für den Aufenthalt auf eine völlig ungewisse und in zeitlicher Hinsicht unabsehbare Entwicklung, die eine Prognose hinsichtlich der Beendigung des Aufenthalts in Deutschland nicht zulässt, gestützt sind (vgl. Hailbronner, Kommentar zum Aufenthaltsgesetz, § 25, RdNr. 80 m.w.N.). Bei der Erteilung der ursprünglichen Aufenthaltsbewilligung bzw. der Verlängerung als Aufenthaltserlaubnis ist die Beklagte davon ausgegangen, dass es sich bei der Erkrankung der Schwiegertochter um eine vorübergehende psychische und physische Überlastungssituation, bedingt durch die Kindererziehung von drei kleinen Kindern und der bevorstehenden Geburt eines vierten Kindes handle. Durch die inzwischen vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen und Atteste ist jedoch zu Tage getreten, dass die Schwiegertochter der Klägerin an einer schweren chronischen, psychischen Erkrankung leidet und deshalb bereits mehrmals akut stationär-psychiatrisch behandelt werden musste. [...] Diese Atteste verdeutlichen, dass bei der Schwiegertochter der Klägerin eine chronische Erkrankung vorliegt und sie auf unabsehbare Zeit nicht in der Lage sein wird, sich selbst um ihre derzeit drei, fast fünf, acht und zehn Jahre alten Kinder zu kümmern. Der Aufenthalt der Klägerin zur Kinderbetreuung und Haushaltsführung ist wegen der Unabsehbarkeit der Dauer des Aufenthalts nicht mehr als vorübergehender Aufenthalt im Sinne des § 25 Abs. 4 AufenthG anzusehen. Angestrebt wird von der Klägerin vielmehr ein längerfristiger Aufenthalt zur Kinderbetreuung und Haushaltsführung. § 25 Abs. 4 AufenthG scheidet deshalb als Rechtsgrundlage für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus.

Grundsätzlich kann die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis im Falle der Klägerin auf § 36 Abs. 2 AufenthG gestützt werden. Nach dieser Vorschrift kann sonstigen Familienangehörigen eines Ausländers zum Familiennachzug eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn es zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist. Der Nachzug nach § 36 Abs. 2 AufenthG muss auf die Herstellung und Wahrung einer familiären Lebensgemeinschaft ausgerichtet sein, die grundsätzlich auf Dauer angelegt sein muss und sich nicht in einer bloßen finanziellen Förderung oder der Mithilfe zur Kindererziehung erschöpfen darf. Erforderlich ist eine Lebensgemeinschaft, die dem Schutz des Art. 6 GG unterfällt. Es ist nur eine solche Situation schutzwürdig, bei der im Falle einer Versagung des Nachzugs die Interessen der Familienangehörigen mindestens genauso stark berührt wären, wie dies im Falle von Ehegatten und minderjährigen ledigen Kindern der Fall sein würde. Im Hinblick auf den Zweck der Nachzugsvorschriften, die Einheit der Familie und Lebensgemeinschaft zu schützen, müssen nach Art und Schwere so ungewöhnlich große Schwierigkeiten für den Erhalt der Gemeinschaft zu befürchten sein, dass die Versagung der Aufenthaltserlaubnis als schlechthin unvertretbar anzusehen ist (Hailbronner, a.a.O., § 36, RdNr. 12 m.w.N.). Zu berücksichtigen sind ferner die Regelerteilungsvoraussetzungen, Erteilungsvoraussetzungen und Versagungsgründe der §§ 5, 27 und 29 AufenthG (Hailbronner, a.a.O., § 36, RdNr. 9).

Die Beklagte hat bereits das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 36 Abs. 2 AufenthG verneint. Sie ist der Ansicht, dass die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für die Klägerin allein schon deshalb nicht in Betracht kommt, weil der Ehemann der Klägerin in der Türkei lebt und dies die engere familiäre Gemeinschaft darstellt. Zudem sei keine außergewöhnliche Härte ersichtlich, weil andere Betreuungsmöglichkeiten und auch andere Familienangehörige wie z. B. die Mutter der Schwiegertochter der Klägerin vorhanden seien. Es würden bereits umfangreiche externe Betreuungsmaßnahmen für die Kinder von den zuständigen Stellen des Sozialreferats geleistet. Auch habe die Schwiegertochter der Klägerin nicht dazu bewegt werden können, sie einer Therapie zu unterziehen.

Das Gericht ist demgegenüber der Rechtsauffassung, dass der Familiennachzug der Klägerin zu ihrem im Bundesgebiet lebenden Sohn und ihren Enkelkindern zur Betreuung und Erziehung ihrer Enkelkinder zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist. Das Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte scheidet nicht bereits deshalb aus, weil die Klägerin verheiratet ist und ihr Ehegatte in der Türkei lebt. Die Beklagte verweist diesbezüglich zwar auf die Kommentierung in Hailbronner, AufenthG, RdNr. 26 zu § 36 AufenthG, wonach ein Nachzug verheirateter Familienangehöriger oder der Nachzug volljähriger lediger Familienangehöriger, von denen noch ein Elternteil im Ausland lebt, ausscheidet. Diese Kommentierung nimmt Bezug auf eine Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Mannheim vom 28. Oktober 1991. Dieser Entscheidung lag ein Sachverhalt zu Grunde, in dem die zuziehende Ausländerin die Hilfsbedürftige war. Die Erforderlichkeit der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte wurde verneint, weil die Ausländerin zu ihrer Mutter in die Bundesrepublik zuziehen wollte, aber noch einen Vater und eine Großmutter in Polen hatte. Im vorliegenden Fall ist jedoch nicht die zuziehende Klägerin die Hilfebedürftige, sondern ihr Sohn und ihre Enkelkinder. Die vorläufigen Anwendungshinweise zum Aufenthaltsgesetz sprechen daher in Ziffer 36.1.1.1.4.1 auch lediglich davon, dass ein Nachzug durch Art. 6 GG jedenfalls dann nicht geboten ist, wenn der nachzugswillige sonstige Familienangehörige über familiäre Bindungen im Ausland verfügt, die in gleicher oder stärkerer Weise durch Art. 6 GG geschützt sind. Im Falle der Klägerin ist sowohl ihre Beziehung zu ihrem Sohn und den Enkelkindern, die in der Bundesrepublik leben, als auch ihre Beziehung zu ihrem Ehemann, der in der Türkei lebt, durch Art. 6 GG geschützt. Es ist nicht davon auszugehen, dass automatisch der Schutzbereich des Art. 6 GG für die ausländische Beziehung überwiegt. § 36 AufenthG sieht keinen allgemeinen Ausschlussgrund für das Vorliegen des Tatbestandsmerkmals des Vorliegens einer außergewöhnlichen Härte vor. Vielmehr ist im konkreten Einzelfall stets zu prüfen, ob im Falle der Versagung des Nachzugs die Interessen des im Bundesgebiet lebenden Ausländers oder des nachzugswilligen sonstigen Familienangehörigen mindestens genauso stark berührt wären, wie dies im Fall von Ehegatten und minderjährigen ledigen Kindern der Fall sein würde. Nach Art und Schwere müssen so erhebliche Schwierigkeiten für den Erhalt der familiären Lebensgemeinschaft drohen, dass die Versagung der Aufenthaltserlaubnis ausnahmsweise als unvertretbar anzusehen ist. Liegen diese Voraussetzungen vor, wird die außergewöhnliche Härte nicht durch das Vorliegen einer anderen, durch Art. 6 GG geschützten Beziehung wieder zunichte gemacht.

Härtefallbegründend sind solche Umstände, aus denen sich ergibt, dass entweder der im Bundesgebiet lebende oder der nachzugswillige Familienangehörige auf die Lebenshilfe angewiesen ist, die sich nur im Bundesgebiet erbringen lässt. Der Nachzug sonstiger Familienangehöriger zur Kinderbetreuung, wenn ein Elternteil nicht mehr zur Kinderbetreuung in der Lage ist, stellt einen anerkannten Fall einer außergewöhnlichen Härte im Sinne des § 36 Abs. 2 AufenthG dar (Hailbronner, a.a.O., § 36 RdNr. 32, vorläufige Anwendungshinweise Ziffer 36.1.2.7). Im vorliegenden Fall sind der Sohn der Klägerin und ihre Enkelkinder auf familiäre Lebenshilfe angewiesen, weil die Schwiegertochter der Klägerin aufgrund ihrer Erkrankung zu einer ordnungsgemäßen Versorgung und Betreuung ihrer Kinder und des Haushalts nicht in der Lage ist. Diese Lebenshilfe lässt sich nur im Bundesgebiet erbringen, weil der Sohn der Klägerin eine Aufenthaltserlaubnis besitzt, die Kinder im Bundesgebiet geboren sind und ihnen nicht zuzumuten ist, ihre gesicherte Aufenthaltsstellung im Bundesgebiet aufzugeben, um eine Betreuung durch die Klägerin sicherzustellen. Eine Ablehnung eines Nachzugs alleine mit dem Hinweis, dass der Betreuungsbedarf anderweitig abgedeckt werden kann, ist nicht möglich. Das Wesen der Familie als Beistandsgemeinschaft, wie sie durch Art. 6 GG geschützt wird, wird durch die persönliche und direkte Lebenshilfe der Angehörigen geprägt. Entscheidend ist alleine, dass die Betreuungsleistungen von der Klägerin erbracht werden. Es ist zwar richtig, dass die Beklagte für die Enkelkinder der Klägerin insoweit Leistungen erbringt, als sie den Kindergarten, die Schule, den Hort und heilpädagogische Tagesstätten besuchen. Für die Betreuungsleistungen in der Familie (Beaufsichtigung außerhalb des Schul- und Kindergartenbesuches, Essen, Körperpflege, Kleidung, Arztbesuche etc.) ist jedoch alleine die Klägerin zuständig. Diese Leistungen werden von der Klägerin unstreitig auch erbracht. Die von der Klägerin erbrachte Betreuungsleistung ist im Rahmen der Prüfung des Vorliegens einer außergewöhnlichen Härte nicht erfolgsorientiert dahingehend zu prüfen, ob es der Klägerin gelingt, über die bloße Betreuungsleistung hinaus noch positiv auf eine Integration ihrer Enkelkinder hinzuwirken oder sogar den Krankheitsverlauf bzw. die Therapiebereitschaft ihrer Schwiegertochter zu beeinflussen. Das Vorliegen der außergewöhnlichen Härte bestimmt sich alleine durch den Umstand, dass die Schwiegertochter zur Betreuung der Kinder nicht in der Lage ist und die Betreuungsleistungen von der Klägerin tatsächlich erbracht werden.

Der Beklagten ist zwar durchaus zuzugeben, dass die Betreuung der Kinder durch die Klägerin nicht den Idealfall darstellt, weil die Kinder teilweise wegen der Erkrankung ihrer Mutter Verhaltensauffälligkeiten vorweisen und die Klägerin wegen der fehlenden deutschen Sprachkenntnisse nicht in der Lage ist, zielführend mit den Einrichtungen, die die Kinder besuchen, zusammen zu arbeiten. Die Beklagte hat jedoch bislang keine Alternativen aufgezeigt bzw. durchgeführt, die eine bessere, der schwierigen familiären Situation angepasste Betreuung der Kinder sicherstellen würde. [...]

Das Gericht sieht sich trotz der Bejahung einer außergewöhnlichen Härte bei dem derzeitigen Sach- und Rechtsstand nicht in der Lage, die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Dem steht zunächst der im gerichtlichen Verfahren gestellte Verbescheidungsantrag entgegen. Zudem stellt die Rechtsvorschrift des § 36 Abs. 2 AufenthG auch beim Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis in das Ermessen der Behörde. In diesem Zusammenhang sind die Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 AufenthG sowie die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen der §§ 27 und 29 AufenthG von Bedeutung. [...]