SG Dortmund

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Zitieren als:
SG Dortmund, Urteil vom 10.11.2008 - S 47 AY 276/06 - asyl.net: M15095
https://www.asyl.net/rsdb/M15095
Leitsatz:

Es ist Sache der Sozialbehörde, etwaige Zweifel an der Volkszugehörigkeit von Leistungsberechtigten nach § 2 Abs. 1 AsylbLG aufzuklären.

 

Schlagwörter: D (A), Asylbewerberleistungsgesetz, Rechtsmissbrauch, Aufenthaltsdauer, freiwillige Ausreise, Kosovo, Roma, Glaubwürdigkkeit, Beweislast, Amtsermittlungsgrundsatz, Sachaufklärungspflicht, Familienangehörige, Falschangaben, Zurechnung, Memorandum of Understanding, UNMIK, Mitwirkung, Passbeschaffung, Passbeschaffungskosten, Taschengeld, Einreise, Drittstaatenregelung
Normen: AsylbLG § 2 Abs. 1
Auszüge:

Es ist Sache der Sozialbehörde, etwaige Zweifel an der Volkszugehörigkeit von Leistungsberechtigten nach § 2 Abs. 1 AsylbLG aufzuklären.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die Klage ist zulässig und begründet.

Durch die Bewilligung von Leistungen nach § 3 AsylbLG anstelle solcher Leistungen nach § 2 AsylbLG werden die Kläger beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG, weil diese Vorgehensweise rechtswidrig ist. Den Klägern steht für den gesamten streitbefangenen Zeitraum ein Anspruch auf die erhöhten Leistungen nach § 2 AsylbLG zu. [...]

Dem Anspruch steht auch nicht entgegen, dass die Kläger die Dauer ihres Aufenthaltes rechtsmissbräuchlich beeinflusst haben.

Wie das Wort "rechtsmissbräuchlich" im Sinne des § 2 AsylbLG zu verstehen ist, wird weder in der Vorschrift selbst noch an anderer Stelle im Gesetz definiert. In den Gesetzesmaterialien wird ausgeführt, dass nur derjenige Ausländer Leistungen nach § 2 erhalten solle, der unverschuldet nicht ausreisen könne (BT-Drs. 15/420 Seite 121). In den Gesetzesmaterialien wird ebenfalls darauf hingewiesen, dass die Bestimmung des § 2 über die Folgen rechtsmissbräuchlichen Verhaltens an den Entwurf der Richtlinie des Rates der Europäischen Union (jetzt: EG-Richtlinie 2003/9/EG vom 27.01.2003, Amtsblatt Nr. L 031 vom 06.02.2003, Seite 18) anknüpfe, mit der die Festlegung von Mindestnormen bei der Aufnahme von Asylbewerbern geregelt werden sollte. In Artikel 16 des Entwurfes sind Formen "negativen Verhaltens" erfasst, die auf nationaler Ebene die Einschränkung von Leistungen erlaubten (BT-Drs. a.a.O). Danach sind die Mitgliedsstaaten zur Einschränkung und zum Entzug der im Rahmen der Aufnahmebedingungen gewährten Vorteile berechtigt, wenn der Asylbewerber den ihm zugewiesenen Aufenthaltsort ohne vorherige Unterrichtung der Behörde bzw. ohne die erforderliche Genehmigung verlässt, wenn er seinen Melde- und Auskunftsverpflichtungen nicht in angemessener Frist nachkommt oder im gleichen Mitgliedsstaat schon einen Antrag gestellt hat (vgl. hierzu auch Hessisches LSG, Beschluss vom 30.10.2006, L 9 AY 7/06 ER).

Das BSG (Urteil vom 08.02.2007, B 9b AY 1/06 R mit Anmerkung Luthe in Juris PR-SozR 10/2007 Anmerkung 3) hat ausgeführt, rechtsmissbräuchlich sei die Selbstbeeinflussung der Aufenthaltsdauer, die von der Rechtsordnung missbilligt werde. Hierfür sei Voraussetzung ein subjektiv vorwerfbares Ausnutzen einer Rechtsposition.

In weiteren Urteilen vom 17.06.2008 (B 8/9 b AY 1/07 R, Rn. 31 ff) hat das BSG weiter ausgeführt, ein rechtsmissbräuchliches Verhalten im Sinne des § 2 setze ein vorsätzliches Verhalten voraus, ein bloß fahrlässiges Verhalten erfülle den Tatbestand des § 2 nicht. Der Vorsatz müsse sich sowohl auf die tatsächlichen Umstände als auch auf die Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes richten.

Nach der Rechtsprechung des nunmehr ausschließlich für Streitigkeiten nach dem AsylbLG zuständigen 8. Senat des BSG, der sich die Kammer nach eigener Prüfung anschließt, wird der Missbrauchstatbestand des § 2 Abs. 1 AsylbLG nicht allein schon dadurch erfüllt, dass der Ausländer nicht freiwillig ausreist (anders noch der 9b Senat des BSG, Urteil vom 08.02.2007, B 9b AY 1/06 R).

Erforderlich ist vielmehr, dass zu der bloßen Nichtausreise noch weitere Gesichtspunkte hinzutreten, die die Annahme einer Rechtsmissbräuchlichkeit rechtfertigen können.

Solche Umstände sind bei den Klägern nicht festzustellen. Es ist nicht feststellbar, dass die Kläger ihren Pass vernichtet haben, um die Aufenthaltsdauer zu beeinflussen, auch ein damit vergleichbarer Tatbestand liegt nicht vor. Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass die Kläger über ihre Identität oder ihre Volkszugehörigkeit getäuscht haben. Die Anfragen der Beklagten an das Verbindungsbüro im Kosovo haben vielmehr ergeben, dass der Kläger zu 1) in der angegebenen Gemeinde tatsächlich auch registriert war. Die Kammer hatte daher keine Zweifel, dass die Kläger tatsächlich aus dem Kosovo stammen.

Darüber hinaus hat die Kammer auch die Überzeugung gewonnen, dass die Kläger der Minderheitengruppe der Roma angehören. Nach Aktenlage haben sich die Kläger vom Beginn ihres Aufenthaltes in Deutschland an selbst als Roma bezeichnet, so dass widersprüchliche Angaben der Kläger zu keinem Zeitpunkt feststellbar sind. Zudem sprechen die Kläger die Sprache Romanes, die üblicherweise vorwiegend von den Roma gesprochen wird. [...]

Soweit die Beklagte die Volkszugehörigkeit der Kläger zu der Minderheitengruppe der Roma bezweifelt, so entbehren diese Zweifel nach der Überzeugung der Kammer einer ausreichenden Grundlage. Im wesentlichen stützt sich die Beklagte darauf, dass mit den Klägern angeblich verwandte Personen sich im Rahmen eines anderen Verwaltungsverfahrens zunächst selbst als Albaner und später als Roma bezeichnet hätten. Der Kammer hat sich nicht erschlossen, inwieweit diese Mutmaßungen die Feststellung stützen sollen, bei den Klägern handele es sich um Albaner. Den Klägern können insbesondere widersprüchliche Äußerungen dritter Personen in keiner Weise zugerechnet werden. Dies gilt auch für den Fall, dass es sich bei den dritten Personen um Verwandte der Kläger handelt. Zudem ist nicht nachvollziehbar, dass die Beklagte trotz des im Verwaltungsverfahren geltenden Amtsermittlungsgrundsatzes und trotz der stringenten Einlassungen der Kläger sowie der Auskünfte des Verbindungsbüros im Kosovo die Auffassung vertritt, es sei nun noch Sache der Kläger, ihre Volkszugehörigkeit zu beweisen. Denn hätte die Beklagte tatsächlich begründete Zweifel an der Volkszugehörigkeit der Kläger zu der Minderheitengruppe der Roma gehabt, wäre es naheliegend gewesen, die Kläger mit Hilfe von Dolmetschern näher zu befragen um weiteren Aufschluss zur Volkszugehörigkeit der Kläger zu erhalten. Angesichts der in sich schlüssigen, detailreichen und widerspruchsfreien Ausführungen der Kläger zur ihrer Volkszugehörigkeit kann es jedenfalls kaum ausreichen, dass die Beklagte Zweifel allein unter Hinweis auf Äußerungen Dritter artikuliert, ohne im Rahmen der Amtsermittlungspflicht ausreichende Bemühungen zu unternehmen, diese Zweifel auszuräumen. Die Vorgehensweise der Beklagten erlegt den Klägern eine Beweislast auf, die mit den gesetzlichen Vorschriften nicht in Einklang zu bringen ist, zumal nicht erkennbar ist, auf welche Weise die Kläger den geforderten Nachweis erbringen sollen.

Die Beklagte wird sich in diesem Zusammenhang darauf hinweisen lassen müssen, dass Ausfluss der Amtsermittlungspflicht auch die Verpflichtung ist, für die Kläger günstige Beweistatsachen zu ermitteln und sie sich nicht darauf beschränken kann, unter Bezugnahme auf Äußerungen Dritter Zweifel an den Aussagen der Kläger zu konstruieren, die bei näherer Betrachtung keinen Beweiswert für das vorliegende Verfahren haben. Dies gilt auch für die Ausführungen der Beklagten im Hinblick auf die Zweifel am Fluchtweg der Kläger innerhalb des Kosovo. Hierzu haben die Kläger detailreiche und nachvollziehbare Aussagen unterbreitet, die bei einer unvoreingenommenen Beurteilung der Sachlage Zweifel an der Richtigkeit der klägerischen Aussagen zerstreuen müssten, so dass nicht erkennbar ist, auf welcher fachlichen Grundlage die Beklagte die Angaben der Kläger zum Fluchtweg im Kosovo weiterhin in Zweifel zieht.

Steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass die Kläger sowohl aus dem Kosovo stammen als auch der Minderheitengruppe der Roma angehören, so muss bei der Frage der Rechtsmissbräuchlichkeit des Aufenthaltes der Kläger in Deutschland berücksichtigt werden, dass die Geschichte der Minderheitengruppe der Roma im Kosovo durch mangelnde Akzeptanz und Diskriminierung geprägt ist, die sich nach 1999 in gezielten Diskriminierungen und Einschüchterungen bis hin zu gewalttätigen Übergriffen und Brandstiftungen durch Kosovoalbaner äußerten.

Roma-Gemeinden im Kosovo weisen weniger als die Hälfte des Bevölkerungsstandes vor dem Beginn der Kampfhandlungen auf. Nach Einschätzung der Hochkommissarin für Menschenrechte habe mehr als die Hälfte der Roma seit Mitte Juni 1999 den Kosovo verlassen. Nach Angaben des UNHCR kehrten bis Juni 2004 rund 1000 Roma und 2000 Ashkali/Ägypter freiwillig in den Kosovo zurück. In der Folgezeit kam es zu zahlreichen Übergriffen auf Roma und Ashkali/Ägypter, so dass diese auch weiterhin Bedrohungen ihres Lebens und ihrer körperlichen Unversehrtheit erfahren müssen.

Das Memorandum of Understanding vom 31.03.2002 zwischen UNMIK und der Bundesrepublik Deutschland schließt Roma als Angehörige einer Minderheit mit abstrakt höherer Gefährdung grundsätzlich von den Rückführungen aus. Mit UNMIK ist am 26.04.2005 vereinbart worden, dass ab Mai 2005 nur einige wenige Roma in das Kosovo zurückgeführt werden könnten, die in Deutschland massiv straffällig geworden sind, also rechtskräftig zu Haftstrafen von mindestens zwei Jahren verurteilt wurden. Diese Voraussetzungen erfüllen die Kläger nicht. Die Kläger haben sich vielmehr nichts zu Schulden kommen lassen. Insbesondere der Kläger zu 1) hat zahlreiche gemeinnützige Tätigkeiten durchgeführt und es sogar hingenommen, dass von den Leistungen nach § 3 AsylbLG, die weit unter dem Niveau des SGB XII liegen, Abzüge wegen angeblich zu hoher Stromrechnungen vorgenommen wurden. Sind die Kläger aber nicht straffällig geworden, so kommt eine zwangsweise Rückführung in das Kosovo derzeit nicht in Betracht. Insoweit nimmt die Kammer ergänzend Bezug auf die Entscheidung des Bundessozialgerichtes vom 17.06.2008 (Az. B 8/9b AY 1/07 R), in der das BSG ausgeführt hat, eine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer liege dann nicht vor, wenn die Antragsteller auch ohne eine etwaige Vernichtung von Pässen in der gesamten Zeit ihres Aufenthaltes in Deutschland nicht hätten abgeschoben werden können. Hieraus entnimmt die Kammer, dass selbst bei der Vernichtung von Pässen, die vorliegend nicht festgestellt werden konnte, nicht in jedem Fall eine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer vorliegt. Erst Recht liegt daher bei den Klägern keine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer vor. Denn nach den o.g. Umständen wäre eine Abschiebung der Kläger zu keinem Zeitpunkt möglich gewesen. Dementsprechend sind die bisher bei dem Bundessozialgericht anhängig gewesenen beiden Revisionsverfahren, die Roma aus dem Kosovo betrafen, jeweils durch Anerkenntnis der Leistungsträger beendet worden (B 8 AY 6/07 R und B 8 AY 7/07 R; vgl. Terminbericht des Bundessozialgerichts vom 19.06.2008 über die Sitzung vom 17.06.2008). Es liegen keinerlei Hinweise darauf vor, dass sich die Sachlage zwischenzeitlich verändert hat.

Bei dieser Sachlage stünde dem Anspruch auf die begehrten Leistungen nach § 2 AsylbLG auch eine fehlende Mitwirkung der Kläger bei der Passbeschaffung nicht zwingend entgegen. Im Falle der Kläger kommt aber noch hinzu, dass diese finanziell gar nicht in der Lage wären, die Kosten der Passbeschaffung zu tragen, denn sie haben bisher nur Leistungen nach § 3 AsylbLG erhalten und dies nach den Einlassungen der Beklagten auch noch weit überwiegend in Gestalt von Gutscheinen. Soweit die Beklagte der Auffassung ist, den Klägern sei es zumutbar, die Kosten der Passbeschaffung aus den sogenannten Taschengeldzahlungen des § 3 Abs. 1 Satz 4 AsylbLG und aus den geringen Einkünften im Zusammenhang mit der Ausübung gemeinnütziger Tätigkeiten zu bestreiten, so sieht die Kammer dies als abwegig an, zumal die Beklagte von den Leistungen der Kläger über längere Zeiten auch noch Einbehaltungen vorgenommen hat.

Schließlich kann die Annahme der Rechtsmissbräuchlichkeit entgegen der Auffassung der Beklagten auch nicht damit begründet werden, dass diese über sichere Drittstaaten eingereist sind (vgl. LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 27.03.2006, L 3 ER 37/06 AY). [...]