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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 07.11.2008 - 2 BvR 629/06 - asyl.net: M15097
https://www.asyl.net/rsdb/M15097
Leitsatz:

Die Ablehnung einer Verpflichtungsklage auf Feststellung eines Abschiebungsverbots gem. § 60 Abs. 2-7 AufenthG als offensichtlich unbegründet setzt die Darlegung voraus, warum die Klage nicht nur unbegründet, sondern offensichtlich unbegründet ist; keine Ablehnung als offensichtlich unbegründet, wenn Herkunftsländerinformationen Hinweise auf eine Gefährdung des Klägers enthalten.

 

Schlagwörter: Verfassungsbeschwerde, offensichtlich unbegründet, Verpflichtungsklage, Begründungserfordernis, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Indien, Sikh, International Sikh Youth Federation, ISYF, Rechtsweggarantie, Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit
Normen: AsylVfG § 78 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7; GG Art. 19 Abs. 4; GG Art. 2 Abs. 2
Auszüge:

Die Ablehnung einer Verpflichtungsklage auf Feststellung eines Abschiebungsverbots gem. § 60 Abs. 2-7 AufenthG als offensichtlich unbegründet setzt die Darlegung voraus, warum die Klage nicht nur unbegründet, sondern offensichtlich unbegründet ist; keine Ablehnung als offensichtlich unbegründet, wenn Herkunftsländerinformationen Hinweise auf eine Gefährdung des Klägers enthalten.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Kammer ist für die Entscheidung zuständig, da das Bundesverfassungsgericht die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden hat (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Sie nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet im Sinne von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG. Die angegriffene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.

1. Die gemäß § 78 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG unanfechtbare Abweisung einer Asylklage als offensichtlich unbegründet setzt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts voraus, dass im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen des Gerichts vernünftigerweise keine Zweifel bestehen können und sich bei einem solchen Sachverhalt nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung die Abweisung der Klage geradezu aufdrängt. Aus den Entscheidungsgründen muss sich klar ergeben, weshalb das Gericht zu einem Urteil nach § 78 Abs. 1 AsylVfG kommt, warum also die Klage nicht nur als schlicht unbegründet, sondern als offensichtlich unbegründet abgewiesen wird (vgl. BVerfGE 65, 76 <95 f.>; 71, 276 <293 f.>; BVerfGK 1, 298 <302>). Durch diese Darlegungspflicht wird die Gewähr für die materielle Richtigkeit verstärkt (vgl. BVerfGE 71, 276 <293 f.>; vgl. auch BVerfGE 65, 76 <95 f.>; 71, 276 <293 f.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 3. September 1996 – 2 BvR 2353/95 –, NVwZ-Beil. 2/1997, S. 9; Beschlüsse der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. Februar 1993 – 2 BvR 1869/92 –, InfAuslR 1993, S. 146 <148>, und vom 2. März 1993 – 2 BvR 2075/92 –, NVwZ 1993, S. 769). Die Entscheidungsgründe müssen die Maßstäbe erkennen lassen, die der Klageabweisung als offensichtlich unbegründet zugrundeliegen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 16. November 2000 – 2 BvR 1684/98 –, juris, Rn. 4), und sich nach diesen Maßstäben mit dem Einzelfall auseinandersetzen, wobei die Darlegung besondere Sorgfalt erfordert, wenn das Bundesamt den Asylantrag lediglich als (schlicht) unbegründet abgelehnt hat (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 20. Dezember 2006 – 2 BvR 2063/06 –, NVwZ 2007, S. 1046; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 9. November 1993 – 2 BvR 1214/93 –, InfAuslR 1994, S. 41 <42>; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. April 1992 – 2 BvR 1038/90 –, InfAuslR 1992, S. 257 <258>). Die schlichte Behauptung, die Klage sei offensichtlich unbegründet, genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. Februar 1993 – 2 BvR 1869/92 –, InfAuslR 1993, S. 146 <149>, und vom 2. März 1993 – 2 BvR 2075/92 –, NVwZ 1993, S. 769).

Diese Grundsätze gelten nicht nur für Verfahren, die das Asylgrundrecht betreffen oder in denen es um die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG (ehemals § 51 Abs. 1 AuslG) geht (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 20. September 2001 – 2 BvR 1392/00 –, InfAuslR 2002, S. 146 <148> m.w.N.), sondern auch für die Abweisung der Klage auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG als offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 20. Dezember 2006 – 2 BvR 2063/06 –, NVwZ 2007, S. 1046). Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die unanfechtbare Abweisung der Klage als offensichtlich unbegründet ergeben sich insoweit aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Auch im Anwendungsbereich des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG muss den schutzwürdigen Interessen des Betroffenen wirksam Rechnung getragen werden. Die auf der Hand liegende Aussichtslosigkeit der Klage muss sich eindeutig aus der Entscheidung selbst ergeben, und die diesbezüglichen Annahmen müssen auf einer hinreichend verlässlichen Grundlage beruhen.

Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gewährleistet nicht nur, dass jeder potentiell rechtsverletzende Akt der Exekutive in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht der richterlichen Prüfung unterstellt ist; vielmehr müssen die Gerichte den betroffenen Rechten auch tatsächliche Wirkung verschaffen (vgl. BVerfGE 35, 263 <274>; 40, 272 <275>; 67, 43 <58>; 84, 34 <49>; stRspr). Die Erfordernisse wirkungsvollen Rechtsschutzes bestimmen sich unter anderem nach dem sachlichen Gehalt des als verletzt behaupteten Rechts (vgl. BVerfGE 60, 253 <297>), hier des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Ein Instanzenzug kann zwar nicht beansprucht werden. Steht aber, wie im Falle der Abweisung der Klage als offensichtlich unbegründet (§ 78 Abs. 1 AsylVfG), nur eine Instanz zur Verfügung, so verstärkt dies die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Ausgestaltung des Verfahrens im Hinblick auf die Wahrheitserforschung (vgl. BVerfGE 83, 24 <31>; 87, 48 <61 f.>).

2. Die daraus für den vorliegenden Fall folgenden Anforderungen hat das Verwaltungsgericht verkannt.

Die Begründung für die Anwendung des § 78 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG in den Gründen des angegriffenen Urteils erschöpft sich in der Feststellung, die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungshindernisses gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG lägen nicht vor, und dem Verweis auf die Darstellungen des Bundesamtes, das, offensichtlich rechtmäßig, den Antrag des Beschwerdeführers als offensichtlich unbegründet abgewiesen habe. Die bloße Behauptung offensichtlicher Unbegründetheit genügt den besonderen Anforderungen, die an die Begründung der Abweisung einer Klage als offensichtlich unbegründet im Sinne des § 78 Abs. 1 AsylVfG zu stellen sind, nicht (vgl. BVerfGE 71, 276 <293>).

Zudem fehlt es an einer hinreichend verlässlichen Grundlage für die Annahme einer auf der Hand liegenden Aussichtslosigkeit der Klage und damit für die Rechtfertigung der Klageabweisung als offensichtlich unbegründet. Dies gilt vor allem hinsichtlich der vom Bundesamt nach § 51 Abs. 5 VwVfG in Verbindung mit § 48, § 49 VwVfG zu treffenden Ermessensentscheidung.

Das Gericht hat es versäumt, sich mit den Anhaltspunkten für Gefährdungen exponierter Vertreter von Organisationen wie der International Sikh Youth Federation, die sich aus dem Gutachten des Südasien-Instituts der Universität Heidelberg vom 26. April 2004 ergaben, auch nur ansatzweise auseinanderzusetzen. Die in diesem Gutachten, das dem Gericht bereits nach der eigenen Erkenntnismittelliste bekannt war, enthaltenen Hinweise auf die Gefahr einer unmittelbaren Verhaftung exponierter Vertreter von in Indien als terroristisch eingestuften Sikh-Organisationen wie der ISYF hätten Anlass zur Prüfung und näheren Begründung des gefundenen Ergebnisses geben müssen. [...]

Angesichts dieser Anhaltspunkte für eine von der Einschätzung im Bescheid des Bundesamtes abweichende tatsächliche Ausgangssituation und des sich daraus ergebenden Prüfungsbedarfs sowie angesichts der bis zur angegriffenen Entscheidung ergangenen einschlägigen, in der Frage eines Abschiebungsverbotes uneinheitlichen Rechtsprechung anderer Verwaltungsgerichte (vgl. etwa Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 26. Juni 1995 – 10 UE 1282/95 –, juris; Thüringer Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 29. März 2001 – 3 KO 827/98 –, InfAuslR 2002, S. 154 ff.; VG Sigmaringen, Urteil vom 15. Oktober 2003 – A 1 K 10601/99 –, juris; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 7. September 2004 – 14 A K 79/03.A – juris; VG Frankfurt (Oder), Urteil vom 8. März 2005 – 7 K 268/04.A –, juris; VG Mainz, Urteil vom 27. April 2005 – 7 K 755/04.MZ –, juris; VG Göttingen, Urteil vom 5. Juli 2005 – 2 A 129/05 – juris; Sächsisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 2. November 2005 – 1 B 492/03.A – juris; zur Frage einer Gefahr der Folter und menschenunwürdiger Haftbedingungen in Indien auch BVerfGE 108, 129 <139 ff.>; EGMR, Urteil vom 15. November 1996 – 70/1995/576/662 (Chahal vs. Vereinigtes Königreich) –, NVwZ 1997, S. 1093 ff.) durfte das Gericht die Klage des Beschwerdeführers nicht abweisen, und erst recht nicht als offensichtlich unbegründet abweisen, ohne das Bestehen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG auf der Grundlage hinreichender Sachverhaltserforschung geklärt und seine Entscheidung mit eigenen Ausführungen begründet zu haben. [...]