VGH Baden-Württemberg

Merkliste
Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 05.02.2009 - 11 S 18/09 - asyl.net: M15123
https://www.asyl.net/rsdb/M15123
Leitsatz:

1. Wird ein nicht durch einen Rechtsanwalt vertretener Ausländer, der sofort vollziehbar ausgewiesen wurde, nach erfolglosem Abschluss eines Verfahrens auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes aus der Haft abgeschoben und teilt anschließend die abschiebende Ausländerbehörde dem Gericht im Klageverfahren mit, ihr sei keine neue ladungsfähige Anschrift des Klägers bekannt, ergeben sich allein daraus grundsätzlich keine Zweifel am Rechtsschutzinteresse, die bereits eine Betreibensaufforderung i.S. des § 92 Abs. 2 VwGO rechtfertigen.

2. Über die Bewilligung einer öffentlichen Zustellung entscheidet nach § 56 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 186 Abs. 1 Satz 1 ZPO das Prozessgericht. Dies ist der zur Entscheidung berufene Spruchkörper, im verwaltungsgerichtlichen Verfahren also die Kammer in der nach § 5 Abs. 3 VwGO vorgesehenen Besetzung, soweit nicht an ihrer Stelle kraft Gesetzes oder aufgrund Übertragungsbeschlusses ein Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylVfG, § 6 Abs. 1 VwGO) oder aufgrund Zustimmung der Beteiligten ein einzelner Richter als Vorsitzender oder Berichterstatter (§ 87a Abs. 2 und 3 VwGO) entscheiden.

 

Schlagwörter: Verfahrensrecht, Beschwerde, Prozesskostenhilfe, Zurückverweisung, Anfechtungsklage, Ausweisung, Rücknahmefiktion, Betreibensaufforderung, Zustellung, öffentliche Zustellung, Rechtsschutzinteresse, Abschiebung, ladungsfähige Anschrift, Prozessbevollmächtigte, Zuständigkeit, Prozessgericht, Berichterstatter
Normen: VwGO § 146 Abs. 1; VwGO § 130 Abs. 2 Nr. 2; VwGO § 92 Abs. 2; VwGO § 56 Abs. 1; VwGO § 56 Abs. 2; ZPO § 185; ZPO § 186 Abs. 1; VwGO § 5 Abs. 3; VwGO § 6 Abs. 1; VwGO § 87a Abs. 2; VwGO § 87a Abs. 3
Auszüge:

1. Wird ein nicht durch einen Rechtsanwalt vertretener Ausländer, der sofort vollziehbar ausgewiesen wurde, nach erfolglosem Abschluss eines Verfahrens auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes aus der Haft abgeschoben und teilt anschließend die abschiebende Ausländerbehörde dem Gericht im Klageverfahren mit, ihr sei keine neue ladungsfähige Anschrift des Klägers bekannt, ergeben sich allein daraus grundsätzlich keine Zweifel am Rechtsschutzinteresse, die bereits eine Betreibensaufforderung i.S. des § 92 Abs. 2 VwGO rechtfertigen.

2. Über die Bewilligung einer öffentlichen Zustellung entscheidet nach § 56 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 186 Abs. 1 Satz 1 ZPO das Prozessgericht. Dies ist der zur Entscheidung berufene Spruchkörper, im verwaltungsgerichtlichen Verfahren also die Kammer in der nach § 5 Abs. 3 VwGO vorgesehenen Besetzung, soweit nicht an ihrer Stelle kraft Gesetzes oder aufgrund Übertragungsbeschlusses ein Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylVfG, § 6 Abs. 1 VwGO) oder aufgrund Zustimmung der Beteiligten ein einzelner Richter als Vorsitzender oder Berichterstatter (§ 87a Abs. 2 und 3 VwGO) entscheiden.

(Amtliche Leitsätze)

 

[...]

Die nach § 146 Abs. 1 VwGO statthafte Beschwerde ist zulässig und hat dahingehend Erfolg, dass der angefochtene Beschluss entsprechend § 130 Abs. 2 Nr. 2 VwGO auf den insoweit sinngemäß gestellten Antrag des Klägers aufgehoben wird und der Prozesskostenhilfeantrag des Klägers an das Verwaltungsgericht zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen wird. Denn das Verwaltungsgericht hat die Voraussetzungen für eine Fortsetzung des Klageverfahrens zu Unrecht verneint und dadurch die Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag getroffen, ohne sich mit den Erfolgsaussichten der Klage in der Sache selbst auseinander zu setzen (zur Zurückverweisung in diesen Fällen vgl. allgemein VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 14.07.2003 - 7 S 536/03 -, VBlBW 2004, 36 und vom 26.03.1979 - VII 3206/778 -, ferner OVG Hamburg, Beschluss vom 13.12.1989 - Bs IV 606/89 -, juris, und OVG Saarland, Beschluss vom 28.09.2007 - 1 D 399/07 -, juris und vom 28.06.1996, NVwZ-RR 1997, 391; Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl. 2007, § 150 Rn 2; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 65. Aufl. 2007, § 572 Rn. 23).

Das Verfahren über die Anfechtungsklage des Klägers gegen die Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 25.04.2006 ist auf den - wohl bereits mit Schreiben vom 09.04.2007 sinngemäß gestellten - Antrag des Klägers fortzusetzen. Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts gilt die Klage nicht nach § 92 Abs. 2 VwGO als zurückgenommen.

Nach § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO gilt die Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als zwei Monate nicht betreibt. Der Kläger ist in der Aufforderung auf diese und die sich aus § 155 Abs. 2 VwGO ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen (§ 92 Abs. 2 Satz 3 VwGO). Da die Betreibensaufforderung die Zweimonatsfrist nach § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO in Lauf setzt, muss sie gemäß § 56 Abs. 1 und 2 VwGO nach den Vorschriften der Zivilprozessordnung (§§ 166 ff. ZPO) zugestellt werden. Unter den Voraussetzungen des § 185 ZPO - in der hier noch maßgebenden früheren Fassung der Bekanntmachung vom 05.12.2005 (BGBl. I S. 3202) -, kann das auch durch öffentliche Bekanntmachung (öffentliche Zustellung) geschehen, über deren Bewilligung das "Prozessgericht" entscheidet (§ 186 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Eine Betreibensaufforderung setzt aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art. 19 Abs. 4, Art. 103 Abs. 1 GG) voraus, dass im Zeitpunkt ihres Erlasses - hier am 16.10.2006 - bestimmte, sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers bestanden haben. Berechtigte Zweifel am Fortbestehen des Interesses an einer Sachentscheidung des Gerichts kann der Kläger durch aktives Handeln begründen, z.B. durch freiwillige Ausreise in sein Heimatland, durch Untertauchen im Bundesgebiet (vgl. BVerwG, Urteil vom 06.08.1996 - 9 C 169.95 - BVerwGE 101, 323 <327>) oder durch Abbruch seines Kontakts zu dem das Gerichtsverfahren betreibenden Bevollmächtigten. Derartige Zweifel können aber auch begründet sein, wenn der Kläger prozessuale Mitwirkungspflichten nicht erfüllt und damit ein Desinteresse an der weiteren Verfolgung seines Begehrens zeigt (BVerwG, Beschluss vom 05.07.2000 - 8 B 119.00 - NVwZ 2000, 1297, und Beschluss vom 12.04.2001 - BVerwG 8 B 2.01 - NVwZ 2001, 918; zur vergleichbaren Regelung in § 81 AsylVfG: BVerwG, Urteil vom 23.04.1985 - 9 C 48.84 - BVerwGE 71, 213 <219> und Urteil vom 13.01.1987 - 9 C 259.86 - NVwZ 1987, 605). Jedoch muss die Erfüllung der jeweiligen Pflicht nach Lage des Falles vom Kläger zu erwarten sein. Stets muss sich daraus auch der Schluss auf den Wegfall seines Rechtsschutzinteresses, also auf ein Desinteresse des Klägers an der weiteren Verfolgung seines Begehrens ableiten lassen. Denn § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO ist eine Vorschrift mit Ausnahmecharakter und kein Hilfsmittel zur bequemen Erledigung lästiger Verfahren oder zur vorsorglichen Sanktionierung prozessleitender Verfügungen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 05.07.2000, a.a.O.; Clausing in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Kommentar, § 92 Rn. 39 und 46 ff. m.w.N.). Entsteht - wie hier - Streit über die Wirksamkeit der fiktiven Klagerücknahme, muss das Verfahren zur Klärung dieser Frage fortgesetzt und entweder - bei Bejahung der Wirksamkeit - mit einer Endentscheidung über die Beendigung des Verfahrens oder - bei Verneinung der Wirksamkeit - mit einer Endentscheidung über die Klage in der Sache beendet werden (vgl. Clausing, a.a.O. Rn. 77 ff.).

Gemessen daran sind die Voraussetzungen der Rücknahmefiktion nach § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO nicht erfüllt. Zum einen war die Betreibensaufforderung vom 16.10.2006 mangels hinreichender sachlich begründeter Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses nicht rechtmäßig. Zum anderen wurde die Betreibensaufforderung dem Kläger nicht ordnungsgemäß zugestellt, weil die Anordnung ihrer öffentlichen Zustellung durch den Berichterstatter gegen § 56 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 186 Abs. 1 Satz 1 ZPO verstieß, wonach über die Bewilligung der öffentlichen Zustellung das Prozessgericht entscheidet.

Wird ein nicht durch einen Rechtsanwalt vertretener Ausländer, der - wie der Kläger - sofort vollziehbar ausgewiesen wurde, nach erfolglosem Abschluss eines Verfahrens auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes aus der Haft abgeschoben und teilt anschließend die abschiebende Ausländerbehörde dem Gericht im Klageverfahren mit, ihr sei keine neue ladungsfähige Anschrift des Klägers bekannt, ergeben sich allein daraus grundsätzlich keine Zweifel am Rechtsschutzinteresse, die bereits eine Betreibensaufforderung i.S. des § 92 Abs. 2 VwGO rechtfertigen. Die nach negativem Abschluss des Verfahrens über den Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO vollzogene Abschiebung des Klägers unmittelbar aus der Haft und die Mitteilung des Regierungspräsidiums Karlsruhe, dass ihm keine neue ladungsfähige Anschrift des Klägers bekannt sei, mögen zwar Umstände gewesen sein, die das Gericht - ähnlich wie vor Bewilligung einer öffentlichen Zustellung - zu eigenen Nachforschungen und Ermittlungen zum Aufenthaltsort des Klägers und insoweit insbesondere dazu berechtigten, den Kläger zum Betreiben des Verfahrens durch Angabe einer ladungsfähigen Anschrift aufzufordern. Zweifel am Fortbestand seines Rechtsschutzinteresses im Sinne des § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO ergaben sich daraus zu diesem Zeitpunkt aber nicht. Sie wären im Hinblick auf die einschneidenden Rechtsfolgen nach § 92 Abs. 2 VwGO erst begründet gewesen, wenn der Kläger eine entsprechende Anfrage des Gerichts innerhalb einer gesetzten Frist unbeantwortet gelassen hätte. Das war jedoch am 16.10.2006 nicht der Fall. Zudem dürfte zu diesem Zeitpunkt auf der Hand gelegen haben, dass es dem Kläger nach seiner gerade elf Tage zurück liegenden Abschiebung nicht möglich gewesen sein dürfte, umgehend eine neue ladungsfähige Anschrift aus dem Ausland mitzuteilen. Auch war der Kläger vor seiner Abschiebung nicht ohne Weiteres verpflichtet, vorsorglich eine ladungsfähige Anschrift für die Zeit nach der Abschiebung anzugeben oder ohne konkrete gerichtliche Aufforderung einen Zustellungsbevollmächtigten im Inland zu benennen (vgl. § 56 Abs. 3 VwGO).

Darüber hinaus verstieß die vom Berichterstatter beschlossene Anordnung über die öffentlichen Zustellung der Betreibensaufforderung gegen § 56 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 186 Abs. 1 Satz 1 ZPO. Danach entscheidet das "Prozessgericht" über die Bewilligung der öffentlichen Zustellung. Dies ist der zur Entscheidung berufene Spruchkörper, im verwaltungsgerichtlichen Verfahren also die Kammer in der nach § 5 Abs. 3 VwGO vorgesehenen Besetzung, soweit nicht an ihrer Stelle kraft Gesetzes oder aufgrund Übertragungsbeschlusses ein Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylVfG, § 6 Abs. 1 VwGO) oder aufgrund Zustimmung der Beteiligten ein einzelner Richter als Vorsitzender oder Berichterstatter (§ 87a Abs. 2 und 3 VwGO) entscheiden (vgl. Meissner in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, a.a.O., § 56 Rn. 67; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 66. Auflage, § 186 Rn. 4; Stein/Jonas/Roth, ZPO, 21. Auflage, § 204 Rn. 4). Der Berichterstatter wäre für die Bewilligung der öffentlichen Zustellung im Falle des Klägers mithin nur zuständig gewesen, wenn ihm zuvor der Rechtsstreit gemäß § 6 VwGO als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen worden wäre oder die Beteiligten zuvor einer Entscheidung durch den Berichterstatter nach § 87a Abs. 2 und 3 VwGO zugestimmt hätten. Beides war nicht der Fall, insbesondere hatte bis zur Bewilligung der öffentlichen Zustellung lediglich der Beklagte auf die entsprechende Anfrage der Kammervorsitzenden eine Zustimmung i. S. des § 87a Abs. 2 und 3 VwGO erteilt, nicht aber der Kläger. War die Bewilligung der öffentlichen Zustellung schon aus diesem Grund nicht ordnungsgemäß, kann der Senat offen lassen, ob sie darüber hinaus rechtlichen Bedenken im Hinblick auf das Gebot unterliegt, zuvor alle Möglichkeiten zu erschöpfen, das Schriftstück dem Empfänger in anderer Weise zu übermitteln (vgl. dazu das Senatsurteil vom 17.04.2002 - 11 S 1823/01 - InfAuslR 2002, 375 m.w.N.). [...]