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VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.12.2008 - 11 S 1453/07 - asyl.net: M15128
https://www.asyl.net/rsdb/M15128
Leitsatz:

1. Ausweisungen von Unionsbürgern waren - sofern kein dringender Fall vorlag - wegen Verstoßes gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG formell rechtswidrig, wenn zwar ein Widerspruchsverfahren durchgeführt wurde, Ausgangs- und Widerspruchsbehörde aber identisch waren. In diesem Fall wurde das gemeinschaftsrechtlich gebotene Vier-Augen-Prinzip nicht gewahrt (im Anschluss an EuGH, Urt. v. 29.04.2004 ­ Rs. C-482/01 und C-493/01 [Orfanopoulos und Oliveri] ­ Slg. 2004, I-5257).

2. Im Rahmen der bei Befristungsentscheidungen nach § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU zu treffenden Ermessensentscheidung über die Länge der Frist ist es, wenn der Ausländer sich zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Befristungsantrag in Strafhaft befindet oder vor kurzem befunden hat, in der Regel geboten, die Strafvollstreckungsakten und die Gefangenenpersonalakten beizuziehen.

 

Schlagwörter: D (A), Unionsbürger, Ausweisung, Rücknahme, Wiederaufgreifen des Verfahrens, Änderung der Rechtslage, Änderung der Rechtsprechung, Widerruf, Auslegung, Antrag, Klageantrag, Sperrwirkung, Wirkungen der Ausweisung, Altfälle, Zuwanderungsgesetz, örtliche Zuständigkeit, gewöhnlicher Aufenthalt, Ausländerbehörde, Regelausweisung, Ermessen, Ermessensausweisung, Straftat, Wiederholungsgefahr, Widerspruchsverfahren, dringender Fall, Befristung, Spezialprävention, Privatleben, EMRK, Verhältnismäßigkeit, räuberische Erpressung, Körperverletzung
Normen: VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1; VwVfG § 48 Abs. 1; VwVfG § 49; AuslG § 8 Abs. 2; VwVfG § 3 Abs. 1 Nr. 3; EMRK Art. 8 Abs. 1; RL 64/221/EWG Art. 9 Abs. 1; FreizügG/EU § 7 Abs. 2 S. 2
Auszüge:

1. Ausweisungen von Unionsbürgern waren - sofern kein dringender Fall vorlag - wegen Verstoßes gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG formell rechtswidrig, wenn zwar ein Widerspruchsverfahren durchgeführt wurde, Ausgangs- und Widerspruchsbehörde aber identisch waren. In diesem Fall wurde das gemeinschaftsrechtlich gebotene Vier-Augen-Prinzip nicht gewahrt (im Anschluss an EuGH, Urt. v. 29.04.2004 ­ Rs. C-482/01 und C-493/01 [Orfanopoulos und Oliveri] ­ Slg. 2004, I-5257).

2. Im Rahmen der bei Befristungsentscheidungen nach § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU zu treffenden Ermessensentscheidung über die Länge der Frist ist es, wenn der Ausländer sich zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Befristungsantrag in Strafhaft befindet oder vor kurzem befunden hat, in der Regel geboten, die Strafvollstreckungsakten und die Gefangenenpersonalakten beizuziehen.

(Amtliche Leitsätze)

 

[...]

I. Die Berufung ist nach Zulassung durch das Verwaltungsgericht statthaft und auch sonst zulässig. Die Berufungsbegründung wurde form- und fristgemäß vorgelegt (vgl. § 124 a Abs. 1 bis 3 VwGO).

Gegenstand der Berufung sind die Verpflichtungsanträge auf Rücknahme der Ausweisung (Hauptantrag) sowie auf Befristung der Sperrwirkungen derselben mit sofortiger Wirkung (Hilfsantrag). Beide Anträge enthalten als Minus - ohne dass es insoweit einer ausdrücklichen Antragstellung bedarf - jeweils einen Antrag auf Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats. Entgegen dem Berufungsvorbringen ist der auf Rücknahme gerichtete Antrag nicht auch als Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 LVwVfG zu verstehen. Eine (zusätzliche) Klage auf Wiederaufgreifen des Verfahrens i.S.d. § 51 VwVfG ist nicht erhoben worden, da der anwaltlich vertretene Kläger sowohl bei der Behörde als auch beim Verwaltungsgericht ausdrücklich einen Rücknahmeantrag gestellt hat (ebenso VGH BW, Urt. v. 24.01.2007 - 13 S 451/06 - InfAuslR 2007, 182 = EZAR NF 93 Nr. 3). Auf eine sachdienliche Auslegung seines Antrags in dem Sinne, dass er auch auf ein Wiederaufgreifen nach § 51 LVwVfG gerichtet ist, kann sich der Kläger auch deswegen nicht berufen, weil er trotz ausdrücklichen Hinweises nach § 86 Abs. 3 VwGO, dass das Gericht lediglich von einem Rücknahmeantrag ausgehe, in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht keinen weitergehenden Klageantrag gestellt hat. Ein solcher Antrag wäre aber auch nicht sachdienlich. Der Kläger kann sein Rechtsschutzziel - rückwirkende Beseitigung einer rechtswidrigen Ausweisung, hilfsweise Befristung ihrer Wirkungen - mit den gestellten Anträgen verfolgen. Wiederaufgreifensgründe nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 LVwVfG liegen demgegenüber nicht vor. Insbesondere liegt in der Änderung der Rechtsprechung zu den Anforderungen an die Ausweisung freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger, wie sie sich in dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 03.08.2004 (- 1 C 30.02 - BVerwGE 121, 297 = InfAuslR 2005, 18) manifestiert, keine Änderung der Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 LVwVfG (vgl. Senatsurteil vom 30.04.2008 - 11 S 759/06 - juris m.w.N.). Ein Wiederaufgreifen nach Ermessen außerhalb des Anwendungsbereichs von § 51 Abs. 1 LVwVfG (vgl. hierzu wiederum Senatsurteil vom 30.04.2008 - 11 S 759/06 - juris m.w.N.) käme in Betracht, wenn der Anwendungsbereich des § 48 LVwVfG wegen der Bindungswirkung eines die Ausweisung als rechtmäßig bestätigenden rechtskräftigen Urteils nach § 121 VwGO nicht eröffnet wäre. Dies ist indessen nicht der Fall. Der Kläger kann sein Rechtsschutzziel im Rahmen des § 48 LVwVfG verfolgen. Auch ein auf Widerruf nach § 49 LVwVfG gerichteter Antrag wäre nicht sachdienlich. Der Widerruf einer rechtmäßigen Ausweisung ist jedenfalls insoweit ausgeschlossen, als es um die Berücksichtigung von Sachverhaltsänderungen geht, die für den Fortbestand des spezialpräventiven Zwecks dieser Verfügungen erheblich sind; insoweit wird § 49 LVwVfG durch den spezielleren § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG bzw. durch § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU verdrängt (vgl. BVerwG, Urt. v. 07.12.1999 - 1 C 13.99 - BVerwGE 110, 140 = NVwZ 2000, 688; Urt. v. 04.09.2007 - 1 C 21.07 - BVerwGE 129, 243 = NVwZ 2008, 82 = EZAR NF 10 Nr. 8).

II. Die Berufung ist jedoch nur zum Teil begründet. [...]

1. Die Ausweisungsverfügung vom 25.05.1999 hat zur Folge, dass der Kläger nicht erneut ins Bundesgebiet einreisen und sich darin aufhalten darf (§ 8 Abs. 2 Satz 1 AuslG 1990). Diese Wirkungen entfaltet die Ausweisung auch heute noch, so dass die Klagebegehren nicht etwa deshalb ins Leere gehen und mangels Rechtsschutzinteresses unzulässig sind, weil die Ausweisung gegenstandslos geworden wäre. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der der Senat folgt (Senatsurteil vom 23.07.2008 - 11 S 2889/07 - InfAuslR 2008, 429), ist geklärt, dass vor dem 01.01.2005 unter Geltung des AuslG 1990 und des AufenthG/EWG bestandskräftig gewordene Ausweisungen von Unionsbürgern nicht mit Inkrafttreten des FreizügG/EU gegenstandslos geworden, sondern weiterhin wirksam sind (BVerwG, Urt. v. 04.09.2007 – 1 C 21.07 – BVerwGE 129, 243 = NVwZ 2008, 82 = EZAR NF 10 Nr. 8; ebenso zuvor bereits VGH BW, Beschl. v. 18.08.2005 – 13 S 1253/05 – und Urt. v. 24.01.2007 – 13 S 451/06 – InfAuslR 2007, 182 = EZAR NF 93 Nr. 3; BayVGH, Beschl. v. 21.03.2006 – 19 CE 06.721 – juris; OVG RP, Urt. v. 08.02.2007 – 7 A 11318/06.OVG – InfAuslR 2007, 226; vgl. auch Epe in GK-AufenthG, IX-2 § 1 Rn. 21 m.w.N.; Harms in Storr u.a., ZuwG, 2. Aufl., § 6 FreizügG/EU Rn. 32; Hailbronner, AuslR, Kommentar, D 1 § 7 Rn. 25; a.A. OVG B-Brb., B. v. 15.03.2006 – OVG 8 S 123.05 – InfAuslR 2006, 259 = NVwZ 2006, 953; Gutmann, InfAuslR 2005, 125 und InfAuslR 2008, 105). [...]

3. Da die Ausweisungsverfügung rechtswidrig ist, das Rücknahmeermessen der Behörde nach § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG eröffnet. [...]

c) Die Rechtswidrigkeit der bestandskräftig gewordenen Ausweisungsverfügung schon zum Zeitpunkt ihres Erlasses folgt entgegen der Auffassung des Klägers nicht schon daraus, dass ihre Wirkungen von der Ausländerbehörde nicht bereits bei Erlass befristet worden sind. Die dem System des deutschen Ausländerrechts immanente Trennung zwischen der Ausweisung und der Befristung ihrer gesetzlichen Folgen erweist sich nicht als konventionswidrig (vgl. EGMR, Urt. v. 28.06.2007 - Individualbeschwerde Nr. 31753/02 [Kaya] - InfAuslR 2007, 325; BVerwG, Urt. v. 23.10.2007 - 1 C 10.07 - a.a.O.). [...]

d) Die Ausweisung war auch nicht deshalb rechtswidrig, weil sie als Regelausweisung ergangen wäre und Unionsbürger nur im Ermessenswege ausgewiesen dürfen (vgl. dazu BVerwG, Urt. v. 03.08.2004 - 1 C 30.02 - BVerwGE 121, 297 301 ff.> = InfAuslR 2005, 18). Denn das Regierungspräsidium hat im Widerspruchsbescheid hilfsweise Ermessen ausgeübt.

e) Die Ausweisungsverfügung in der maßgeblichen Gestalt des Widerspruchsbescheides entsprach entgegen der Auffassung des Klägers materiell gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen. [...]

g) Die Ausweisungsverfügung war indes formell rechtswidrig. Der Kläger hätte nur unter Beachtung der Verfahrensanforderungen aus Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG ausgewiesen werden dürfen.

aa) Diese Vorschrift ist vorliegend anzuwenden, da die Richtlinie 64/221/EWG durch die Richtlinie 2004/38/EG erst mit Wirkung vom 30.04.2006 (vgl. Art. 38 Abs. 2 RL 2004/38/EG) aufgehoben wurde. Die formelle Rechtmäßigkeit von Verfügungen gegen den von Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG erfassten Personenkreis ist nach dem Grundsatz des intertemporalen Verwaltungsverfahrensrechts, dass neues Verfahrensrecht auf abgeschlossene Verwaltungsverfahren keine Anwendung findet, nach der Rechtslage zur Zeit der letzten Behördenentscheidung zu prüfen (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 18.10.2006 – 13 S 192/06 – InfAuslR 2007, 49 = EZAR NF 19 Nr. 18).

bb) In Ausweisungsverfahren gegen Unionsbürger und assoziationsrechtlich privilegierte türkische Staatsangehörige wurde - außer in dringenden Fällen - Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG in Deutschland verletzt, wenn weder ein Widerspruchsverfahren stattfand noch sonst eine zweite zuständige Stelle im Sinne der Richtlinie im Verwaltungsverfahren eingeschaltet wurde (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.09.2005 – 1 C 7.04 – BVerwGE 124, 217 = InfAuslR 2006, 110 = NVwZ 2006, 472 = EZAR NF 40 Nr. 1).

cc) Hier wurde zwar ein Widerspruchsverfahren durchgeführt, doch hat dieses den gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen deshalb nicht genügt, weil keine zweite unabhängige Stelle eingeschaltet war und deshalb das Vier-Augen-Prinzip nicht gewahrt wurde. Ausgangsbehörde und Widerspruchsbehörde waren identisch. Die zweite Stelle muss aber, wie sich aus der Rechtssprechung des EuGH ergibt, eine andere sein als diejenige, welche für die Entscheidung über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet zuständig ist (EuGH, Urt. v. 29.04.2004 – Rs. C-482/01 und C-493/01 [Orfanopoulos und Oliveri] – Slg. 2004, I-5257 = InfAuslR 2004, 268 = NVwZ 2004, 1099 = EZAR 810 Nr. 14; in diesem Sinne wohl auch VGH Bad.-Württ., Urt. v. 18.10.2006 - 13 S 192/06 - InfAuslR 2007, 49 52> = EZAR NF 19 Nr. 18).

dd) Es lag auch kein dringender Fall vor, der die Einschaltung einer zweiten unabhängigen Stelle entbehrlich gemacht hätte. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 13.09.2005 - 1 C 7.04 -, a.a.O.) ist das Merkmal der Dringlichkeit als Ausnahme vom Grundsatz der Freizügigkeit "besonders eng auszulegen"; ein dringender Fall kann erst dann angenommen werden, wenn ein Zuwarten mit der Vollziehung der Ausweisung nicht zu verantworten ist, etwa weil die begründete Besorgnis besteht, die von dem Ausländer ausgehende erhebliche Gefahr werde sich schon vor Abschluss des „Hauptverfahrens“ realisieren. Die Verzögerung durch Einschaltung einer zweiten Behörde ist dann nicht hinnehmbar. Daher genügt für die Annahme eines dringenden Falles nicht, dass die Ausländerbehörde die sofortige Vollziehung der Ausweisung angeordnet hat. Vielmehr muss (vergleichbar den Anforderungen aus § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO für die Anordnung der sofortigen Vollziehung einer Ausweisung nach den Maßstäben der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts) ein besonderes öffentliches Interesse daran festgestellt werden, das „Hauptverfahren“ nicht abzuwarten, sondern die Ausweisung sofort zu vollziehen, um damit einer "weiteren, unmittelbar drohenden erheblichen Gefährdung" der öffentlichen Ordnung durch den Ausländer zu begegnen. Daran gemessen lag kein dringender Fall vor. Der Kläger befand sich zum Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung in Haft. Er wurde erst ein Jahr später aus der Haft heraus nach Italien abgeschoben. Zudem wurde tatsächlich ein Widerspruchsverfahren durchgeführt, wenngleich nicht ein solches, dass den Anforderungen des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG genügt hat.

4. Weder nationales Recht noch Gemeinschaftsrecht gebieten es im vorliegenden Fall dem Beklagten, die gegen den Kläger ergangene - lediglich formell rechtswidrige - Ausweisungsverfügung zurückzunehmen.

a) Für das nationale Recht folgt dies daraus, dass im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG im Hinblick auf das Gebot der materiellen Gerechtigkeit einerseits und das der Rechtssicherheit andererseits nur ausnahmsweise ein Rücknahmeanspruch besteht; die Aufrechterhaltung des Bescheides müsste dann "schlechthin unerträglich" sein. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Behörde durch unterschiedliche Ausübung der Rücknahmebefugnis in gleichen oder ähnlich gelagerten Fällen gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstößt oder wenn Umstände gegeben sind, die die Berufung der Behörde auf die Unanfechtbarkeit als einen Verstoß gegen die guten Sitten oder das Gebot von Treu und Glauben erscheinen lassen. Darüber hinaus vermag die offensichtliche Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts, die sich zum Zeitpunkt des Erlasses beurteilt, die Annahme zu rechtfertigen, seine Aufrechterhaltung sei schlechthin unerträglich (vgl. BVerwG, Urt. v. 23.10.2007, a.a.O. m.w.N.). Eine solche Fallgestaltung ist hier nicht gegeben. Insbesondere war die Ausweisung nicht offensichtlich rechtswidrig. Denn die Anforderungen des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG war zum damaligen Zeitpunkt dem Gesetzgeber, den Behörden und auch den Gerichten noch nicht bewusst. Erst durch die Entscheidung des EuGH in Sachen "Orfanopoulos und Oliveri" (EuGH, Urt. v. 29.04.2004 – Rs. C-482/01 und C-493/01 – Slg. 2004, I-5257 = InfAuslR 2004, 268 = NVwZ 2004, 1099 = EZAR 810 Nr. 14) offenbarte sich die Fehlerhaftigkeit des Verfahrens.

b) Die dargestellten Grundsätze werden vorliegend durch Gemeinschaftsrecht nicht modifiziert. Der EuGH erkennt die Rechtssicherheit als allgemeinen Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts an, der auch das Institut der Bestandskraft von Verwaltungsentscheidungen umfasst. Er verlangt daher nicht, dass eine Verwaltungsbehörde verpflichtet werden muss, eine gemeinschaftsrechtswidrige bestandskräftige Verwaltungsentscheidung in jedem Fall zurückzunehmen (U. v. 13.01.2004 – Rs. C-453/00 [Kühne & Heitz NV] – Slg. 2004, I-837 Rdn. 24 = NVwZ 2004, 459 = DVBl 2004, 373 = InfAuslR 2004, 139; U. v. 12.02.2008 – Rs. C-2/06 [Kempter] – Slg. 2008, I-0000 Rdn. 37 = EuZW 2008, 148 = DÖV 2008, 505 = NVwZ 2008, 870). Der in Art. 10 EG verankerte Grundsatz der Zusammenarbeit verpflichtet eine Verwaltungsbehörde auf einen entsprechenden Antrag hin aber jedenfalls dann, eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung zu überprüfen und ggf. zurückzunehmen, wenn

- die Behörde nach nationalem Recht zur Rücknahme befugt ist,

- die Entscheidung infolge eines Urteils eines in letzter Instanz entscheidenden nationalen Gerichts bestandskräftig geworden ist,

- das Urteil, wie eine nach seinem Erlass ergangene Entscheidung des Gerichtshofs zeigt, auf einer unrichtigen Auslegung des Gemeinschaftsrechts beruht, die erfolgt ist, ohne dass der Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht wurde, obwohl der Tatbestand des Art. 234 Abs. 3 EG erfüllt war, und

- der Betroffene sich, unmittelbar nachdem er Kenntnis von der besagten Entscheidung des Gerichtshofs erlangt hat, an die Verwaltungsbehörde gewandt hat (EuGH, U. v. 13.01.2004 – Rs. 19 C-453/00 [Kühne & Heitz NV] – a.a.O. Rdn. 28; zustimmend Ruffert, JZ 2004, 620; ebenso BVerwG, B. v. 15.3.2005 – 3 B 86.04 – DÖV 2005, 651).

Die dritte im Urteil Kühne & Heitz aufgestellte Voraussetzung ist immer dann erfüllt, wenn der gemeinschaftsrechtliche Gesichtspunkt, dessen Auslegung sich in Anbetracht eines späteren Urteils des Gerichtshofs als unrichtig erwiesen hat, von dem in letzter Instanz entscheidenden nationalen Gericht entweder geprüft wurde oder von Amts wegen hätte geprüft werden können. Es ist nicht erforderlich, dass die Parteien die betreffende gemeinschaftsrechtliche Frage vor dem nationalen Gericht aufgeworfen haben (EuGH, U. v. 12.02.2008 – Rs. C-2/06 [Kempter] – Slg. 2008, I-0000 Rdn. 44 = EuZW 2008, 148 = DÖV 2008, 505 = NVwZ 2008, 870). Hinsichtlich der vierten Voraussetzung hat der Gerichtshof im Urteil Kempter (a.a.O. Rdn. 60) klargestellt, dass die Möglichkeit, einen Antrag auf Überprüfung einer bestandskräftigen Verwaltungsentscheidung zu stellen, durch das Gemeinschaftsrecht in zeitlicher Hinsicht nicht beschränkt wird, die Mitgliedstaaten jedoch berechtigt sind, angemessene Rechtsbehelfsfristen festzulegen. Bei Erfüllung aller genannten Voraussetzungen verdichtet sich das in § 48 LVwVfG eingeräumte Rücknahmeermessen auf Null zugunsten der Rücknahme (Epe in GK-AufenthG, Vor § 1 FreizügG/EU Rdn. 54; Discher in GK-AufenthG, Vor §§ 53 ff. AufenthG Rdn. 596; ähnlich Weiß , DÖV 2008, 477 485 f.>).

Daran gemessen hat sich hier das Rücknahmeermessen schon deshalb nicht zugunsten der Rücknahme verdichtet, weil der Kläger die Ausweisungsverfügung bestandskräftig werden ließ, ohne gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen.

5. Der Beklagte hat indes das ihm zustehende Rücknahmeermessen nicht hinreichend ausgeübt, so dass der Kläger auf seinen als Minus im Verpflichtungsantrag enthaltenen Bescheidungsantrag einen Anspruch auf Aufhebung von Nr. 1 des angefochtenen Bescheides und auf Verpflichtung des Beklagten zur Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO) hat. [...]

6. Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, dass die Wirkungen der Ausweisung auf den heutigen Zeitpunkt befristet werden.

a) Über den geltend gemachten Befristungsanspruch ist nach § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU unter Zugrundelegung der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats zu befinden (Senatsurteil vom 23.07.2008 - 11 S 2889/07 - InfAuslR 2008, 429).

b) Bei der im behördlichen Auswahlermessen verbleibenden Bestimmung der Länge der Frist sind nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 04.09.2007 - 1 C 21.07 - a.a.O.) in einem ersten Schritt das Gewicht des Grundes für die Verlustfeststellung bzw. Ausweisung sowie der mit der Maßnahme verfolgte spezialpräventive Zweck zu berücksichtigen. Es bedarf der Prüfung im Einzelfall, ob die vorliegenden Umstände auch jetzt noch das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der gesetzlichen Sperrwirkungen als Dauereingriff in das Freizügigkeitsrecht mit Blick auf die Anforderungen des § 6 Abs. 1 und 2 FreizügG/EU tragen. Die Behörde hat dazu auch das Verhalten des Betroffenen nach der Ausweisung zu würdigen und im Wege einer Prognose auf der Grundlage einer aktualisierten Tatsachenbasis die (Höchst-) Frist nach dem mutmaßlichen Eintritt der Zweckerreichung zu bemessen. Im Falle einer langfristig fortbestehenden Rückfall- bzw. Gefährdungsprognose ist nach der Vorstellung des Gesetzgebers aber auch bei Unionsbürgern ein langfristiger Ausschluss der Wiedereinreise nicht ausgeschlossen (BT-Drs. 15/420 S. 105). Die im Rahmen des ersten Schritts von der Behörde zu treffende Gefahrprognose muss - ebenso wie bei der Ausweisung (vgl. dazu BVerwG, Beschl. v. 16.10.1989 - I B 106.89 - EZAR 124 Nr. 11 = InfAuslR 1990, 4 5> m.w.N.; Discher in GK-AufenthG, Vor §§ 53 ff. AufenthG Rn. 1711 ff.) - gerichtlich voll überprüfbar sein.

In einem zweiten Schritt muss sich die an der Erreichung des Zwecks der Verlustfeststellung bzw. Ausweisung orientierende äußerste Frist an höherrangigem Recht, d.h. gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben und verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen messen und ggf. relativieren lassen (BVerwG, Urt. v. 04.09.2007 - 1 C 21.07 - a.a.O.). Dieses normative Korrektiv bietet der Ausländerbehörde ein rechtsstaatliches Mittel dafür, fortwirkende einschneidende Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen (vgl. BVerwG, Urt. v. 11.08.2000 - 1 C 5.00 - BVerwGE 111, 369 373> = InfAuslR 2000, 483 zur Regelbefristung). Dabei sind insbesondere die in § 6 Abs. 3 FreizügG/EU genannten schutzwürdigen Belange des Unionsbürgers in den Blick zu nehmen. Haben z.B. familiäre Belange des Betroffenen durch die Geburt eines Kindes im Bundesgebiet nach der Ausweisung an Gewicht gewonnen, folgt daraus eine Ermessensverdichtung in Richtung auf eine kürzere Frist. Die Abwägung nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, die auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalles nach Gewichtung der jeweiligen Belange vorzunehmen ist, kann im Extremfall bis zu einer Ermessensreduzierung auf Null mit dem Ergebnis einer Befristung auf den Jetzt-Zeitpunkt, d.h. auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz, führen (vgl. BVerwG, Urt. v. 04.09.2007 - 1 C 21.07 - a.a.O. u. Urt. v. 07.12.1999 - 1 C 13.99 - BVerwGE 110, 140 150 f.> = InfAuslR 2000, 176). Kraft des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts muss in diesen Fällen die Befristung so erfolgen, dass sich das dem Unionsbürger zustehende Freizügigkeitsrecht sogleich entfalten kann. Der Anwendungsvorrang erfordert es, dass die Befristung nicht von weiteren Voraussetzungen abhängig gemacht wird, wie insbesondere der Regelung in § 7 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU, wonach eine Frist erst mit der Ausreise beginnt (vgl. BVerwG, Urt. v. 07.12.1999 - 1 C 13.99 - a.a.O. zu § 8 Abs. 2 Satz 4 AuslG 1990). In den Fällen des Wegfalls der notwendigen qualifizierten Wiederholungsgefahr ist daher auch nach Ergehen einer Feststellungsentscheidung nach § 6 FreizügG/EU die Ausreise des ansonsten Freizügigkeitsberechtigten entgegen der Regelung in § 7 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU nicht Voraussetzung für das erneute Entstehen des Aufenthaltsrechts.

c) Gemessen an diesen Grundsätzen ist der Beklagte nicht verpflichtet, die Befristung auf den heutigen Tag - d.h. ohne Einhaltung einer mit der Ausreise beginnenden angemessenen Frist - auszusprechen. Der Senat vermag nicht festzustellen, dass eine Befristung auf den heutigen Tag nach dem Zweck der Ermächtigung die allein rechtmäßige Ermessensbetätigung wäre (vgl. § 114 VwGO).

aa) Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass der spezialpräventive Zweck der Ausweisung schon jetzt erreicht ist. Vielmehr geht von dem Kläger zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung für die öffentliche Ordnung aus, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. [...]

bb) Aus Art. 8 EMRK folgt keine zu einem Anspruch auf sofortige Befristung führende Ermessensreduzierung auf Null. [...]

(2) Unzweifelhaft stellt die Ausweisung, die nach der nunmehr erfolgten Befristung ihrer Wirkungen ein fünfjähriges Aufenthaltsverbot im Bundesgebiet zur Folge hat, einen Eingriff in das Recht des Klägers auf Achtung seines Privatlebens dar. Dieser Eingriff verfolgt indes legitime Ziele im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK, nämlich die Aufrechterhaltung der Ordnung und die Verhinderung von strafbaren Handlungen. Er ist darüber hinaus notwendig zur Erreichung dieser Ziele. Ein Eingriff ist nach der Rechtsprechung des EGMR notwendig, wenn ein dringendes soziales Bedürfnis besteht und er verhältnismäßig zum legitimen Ziel ist (Urt. v. 22.04.2004 - Nr. 42703/98 [Radovanovic] - InfAuslR 2004, 374). Es muss ein gerechter Ausgleich getroffen werden zwischen dem Recht des Klägers auf Achtung des Privatlebens auf der einen und den Interessen der öffentlichen Sicherheit und der Verhinderung von Straftaten auf der anderen Seite. Erforderlich ist eine Verhältnismäßigkeitsprüfung unter Beachtung der vom EGMR entwickelten Kriterien, die im Wesentlichen in den Entscheidungen Boultif und Üner zusammengefasst worden sind (EGMR, Urt. v. 02.08.2001 - Nr. 54273/00 [Boultif] - InfAuslR 2001, 476; Urt. v. 05.07.2005 - Nr. 46410/99 [Üner] - InfAuslR 2005, 450 = DVBl 2006, 688). Nach diesen Entscheidungen sind zu berücksichtigen die Art und Schwere der begangenen Straftaten, die Dauer des Aufenthalts in dem Staat, aus dem der Betreffende ausgewiesen werden soll, die seit Begehen der Straftat vergangene Zeit und das Verhalten des Betroffenen seit der Tat, die Staatsangehörigkeit aller Beteiligten, die familiäre Situation des Betroffenen und gegebenenfalls die Dauer seiner Ehe sowie andere Umstände, die auf ein tatsächliches Familienleben hinweisen, ob der Partner bei Begründung der familiären Beziehung Kenntnis von der Straftat hatte, ob der Verbindung Kinder entstammen und schließlich die Schwierigkeiten, die der Partner in dem Land haben kann, in das der Betroffene ausgewiesen werden soll. Von Bedeutung ist ferner das Interesse und Wohl der Kinder sowie die Intensität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland oder zum Bestimmungsland. Bei Ausweisungen von Immigranten der zweiten Generation, zu denen der Kläger gehört, berücksichtigt der EGMR neben den genannten allgemeinen Kriterien die besonderen Bindungen, die diese Personen mit dem Aufenthaltsstaat eingegangen sind, in dem sie ihre Erziehung erhalten, den Großteil ihrer sozialen Kontakte geknüpft und folglich ihre eigene Identität entwickelt haben (EGMR, Urt. v. 26.09.1997 - 85/1996/704/896 [Mehemi] - InfAuslR 1997, 30 = NVwZ 1998, 164; Urt. v. 21.10.1997 - 122/1996/741/940 [Boujlifa] - InfAuslR 1998, 1). Demgemäß erachtet es der EGMR neben der Intensität der Bindung und dem Alter des Ausgewiesenen für maßgeblich, welche Sprache der Ausgewiesene spricht und ob es Verwandte oder andere soziale Beziehungen im Herkunftsstaat bzw. umgekehrt familiäre Bindungen oder Verwandte im Aufenthaltsstaat gibt (EGMR, Entsch. v. 04.10.2001 - 43359/98 [Adam] - EuGRZ 2002, 582 = NJW 2003, 2595).

Daran gemessen gebietet Art. 8 Abs. 2 EMRK es nicht, von einer Aufenthaltsbeendigung abzusehen und die Wirkungen der Ausweisung auf sofort zu befristen: [...]