FG Münster

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Zitieren als:
FG Münster, Urteil vom 01.12.2008 - 5 K 4329/03 Kg - asyl.net: M15165
https://www.asyl.net/rsdb/M15165
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Kindergeld, Erwerbstätigkeit, Verfassungsmäßigkeit, Gleichheitssatz, Türken, Sozialabkommen Türkei, Genfer Flüchtlingskonvention, Asylberechtigte, Konventionsflüchtlinge, Inländergleichbehandlung, Kinderfreibeträge, Vorläufiges Europäisches Sozialabkommen, Wohnen, Gemeinschaftsunterkünfte
Normen: EStG § 62 Abs. 2; GG Art. 3 Abs. 1; GFK Art. 24 Abs. 1; GFK Art. 29; EStG § 62 Abs. 1; EStG § 32 Abs. 6; EStG § 31; vorläufiges Europäisches Sozialabkommen Art. 2; AO § 8
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage ist unbegründet. [...]

1) Ein unmittelbarer Kindergeldanspruch des Beigel. gemäß § 62 Abs. 2 EStG in der Fassung des Gesetzes vom 13.12.2006 (BGBl I S. 2915), der gemäß § 52 Abs. 61 a EStG in allen noch offenen Fällen anwendbar ist (im Folgenden: EStG) besteht nicht, denn der Beigel. hatte im streitbefangenen Zeitraum keinen qualifizierten Aufenthaltstitel gemäß § 62 Abs. 2 EStG. Die Anerkennung als Asylberechtigter gewährt ausländerrechtlich nicht rückwirkend einen qualifizierten Titel gemäß § 62 Abs. 2 EStG (s. dazu FG Münster, Urteil vom 18. Dezember 2002 7 K 5361/00 Kg, EFG 2003, 785).

Nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung des BFH, der sich der erkennende Senat anschließt, sind sowohl die Neufassung des § 62 Abs. 2 EStG als auch die zeitliche Anwendungsregelung (§ 52 Abs. 61a Satz 2 EStG) verfassungsgemäß (BFH-Urteile vom 15. März 2007 III R 93/03, BFHE 217, 443, BFH/NV 2007, 1234; vom 22. November 2007 III R 54/02, BFHE 220, 45, BFH/NV 2008, 457; vom 21. Februar 2008, III R 79/03, BFH/NV 2008, 1036). In den beiden letztgenannten Entscheidungen tritt der BFH ausdrücklich den Entscheidungen des Finanzgerichts Köln vom 9. Mai 2007 (10 K 1690/07, EFG 2007, 1247; 10 K 983/04, EFG 2007, 1254) entgegen, das die Neuregelungen für verfassungswidrig hält. Nach dem Urteil des BVerfG vom 6. Juli 2004 (1 BvL 4/97, BVerfGE 111, 160, BFH/NV Beilage 2005, 114) liegt ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG nämlich nur vor, wenn die Gewährung von Kindergeld allein von der Art des Aufenthaltstitels abhängt. Da § 62 Abs. 2 Nr. 3 EStG im Hinblick auf die in § 62 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. c) EStG genannten Aufenthaltstitel eine Differenzierung vornimmt, wird gerade nicht mehr allein auf den Aufenthaltstitel abgestellt, so dass nach Auffassung des Senats kein Verfassungsverstoß vorliegt (vgl. BFH-Urteil vom 22. November 2007 III R 54/02, BFHE 220, 45, BFH/NV 2008, 457).

2) Ein Anspruch auf Kindergeld für den Beigel. besteht auch nicht gem. Art. 33 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei über soziale Sicherheit vom 30. April 1964, BGBl II 1965, 1170 in Gestalt des Zusatzabkommens vom 2. November 1984, BGBl II 1986, 1040. Nach dieser Regelung besteht ein Kindergeldanspruch nur dann, wenn der Kindergeldberechtigte erwerbstätig ist. Begünstigt sind auch nur Kinder, die sich in dem jeweils anderen Vertragsstaat gewöhnlich aufhalten. An diesen Voraussetzungen fehlt es im Streitfall. Der Beigel. war im streitbefangenen Zeitraum nicht erwerbstätig. Seine Kinder hielten sich ebenfalls in der Bundesrepublik Deutschland auf.

3) Auch ein Anspruch des Beigel. auf Kindergeld für den streitbefangenen Zeitraum gemäß Art. 24 Abs. 1 Buchstabe b des Abkommens vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl II 1953, 559; sogen. Genfer Konvention) - FlüAbk.- besteht nicht. Zwar unterfällt der Beigel. als rechtskräftig anerkannter Asylberechtigter unter den Geltungsbereich des FlüAbk. (FG Münster, Urteil vom 27. August 2002 1 K 4975/99 Kg, EFG 2002, 1619; Oberverwaltungsgericht für das Land NRW, Urteil vom 13. Dezember 1999 16 A 5587/97, Juris). Die o. g. Regelung der FlüAbk. gewährt Leistungen auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit, die ausschließlich aus öffentlichen Mitteln bestritten werden aber nur unter dem Vorbehalt "besonderer Bestimmungen" des Leistungsstaates (Art. 24 Abs. 1 Buchst. b ii FlüAbk.) Hierzu zählen die Einschränkungen des § 62 Abs. 2 EStG.

4) Ein Kindergeldanspruch des Beigel. besteht auch nicht gemäß Art. 29 FlüAbk. i.V.m. § 62 Abs. 1 EStG. Nach dieser Regelung werden von Flüchtlingen keine anderen oder höheren Gebühren, Abgaben oder Steuern, gleichviel unter welcher Bezeichnung erhoben, als unter ähnlichen Verhältnissen von Staatsangehörigen des Aufnahmelandes. Durch die Nichtgewährung von Kindergeld werden Flüchtlinge steuerrechtlich aber nicht schlechter gestellt, als Inländer. Auch Flüchtlinge, die einkommensteuerliche Einkünfte beziehen, kommen in den Genuss der Kinderfreibeträge gemäß § 32 Abs. 6 EStG. Soweit das Kindergeld gemäß § 31 EStG der Förderung der Familie dient, besteht ebenfalls kein Anspruch aus Art. 29 FlüAbk., denn insoweit hat das Kindergeld ein von den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die steuerliche Belastung unabhängige sozialrechtliche Funktion (BFH Urteile vom 25. Oktober 2007 III R 90/03, BFHE 219/540, BFH/NV 2008, 286; vom 22. November 2007 III R 60/99, BFHE 220, 39, BFH/NV 2008, 846). Ansprüche auf Teilhabe an Sozialleistungen werden aber nicht von Art. 29, sondern von Art. 24 FlüAbk. geregelt (sh. Gliederungspunkt 3).

5) Ein Kindergeldanspruch besteht auch nicht gemäß Art. 2 des Vorläufigen Europäischen Abkommen über Soziale Sicherheit unter Ausschluss der Systeme für den Fall des Alters, der Invalidität und zugunsten der Hinterbliebenen (BGBl II 1956, 507) i.V.m. Art. 2 des Zusatzprotokolls dazu (BGBl II 1956, 528), im Folgenden: Vorläufiges Europäisches Abkommen über Soziale Sicherheit. Ein Anspruch von Flüchtlingen auf nicht auf Beiträgen beruhenden Leistungen besteht danach nämlich nur dann, wenn der Flüchtling seit mindestens 6 Monaten im Gebiet der Bundesrepublik "wohnt". Das Merkmal des "Wohnens" ist in den vorgenannten Regelungen nicht definiert. Allerdings unterscheidet das Vorläufige Europäische Abkommen über Soziale Sicherheit in Art. 2 Abs. 1 Buchst. a) bis d) die Begriffsmerkmale des "Wohnens" und des "Aufenthalts" bzw. des "gewöhnlichen Aufenthalts", so dass nach der Abkommensregelung dem Merkmal des "Wohnens" gegenüber dem "Aufenthalt" eine eigene Bedeutung zukommen muss. Der Senat zieht zur Begriffsbestimmung des "Wohnens" die zu § 8 AO entwickelten Grundsätze heran. Gemäß § 8 AO hat einen Wohnsitz jemand dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Das setzt voraus, dass Räumlichkeiten vorhanden sind, die objektiv auf Dauer zum Wohnen geeignet sind und dass Umstände bestehen, die auf ein Beibehalten und Benutzen der Wohnung schließen lassen (sh. z.B. BFH Urteil vom 19. März 2002 I R 15/01, BFH/NV 2002, 1411). Ein Übergangsheim für Asylbewerber ist nach Auffassung des erkennenden Senats nicht zum dauernden Wohnen geeignet und bestimmt (anderer Ansicht: FG Düsseldorf, Urteil vom 31. Juli 2008, 14 K 2206/06 KG, StE 2008, 628, Revision eingelegt, Az. des BFH III R 75/08). Der Aufenthalt dort ist sowohl vom Betreiber als auch vom Flüchtling von vornherein darauf angelegt, von nur vorübergehender Natur zu sein. Die räumliche Situation (keine für die Familien allein zur Verfügung stehenden Küche, Bad und Gemeinschaftsflächen) ist auch objektiv nicht zum dauernden Wohnen geeignet. Letztlich beruht der Aufenthalt in staatlichen Übergangsheimen auch nicht auf einer freien Entscheidung, sondern auf einer staatlichen Zuweisung.

Im streitbefangenen Zeitraum hat der Beigel. sich mit seiner Familie im Übergangsheim für Asylbewerber aufgehalten. [...]