VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 26.11.2008 - 8 K 489/08 - asyl.net: M15167
https://www.asyl.net/rsdb/M15167
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, Familienzusammenführung, deutsche Kinder, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Visumsverstoß, Visum nach Einreise, Geburt, Duldung, Anspruch, Ermessen, Zumutbarkeit, Visumsverfahren, Schutz von Ehe und Familie
Normen: AufenthG § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3; AufenthG § 5 Abs. 2 S. 1 Nr. 1; AufenthV § 39 Nr. 5; AufenthG § 5 Abs. 2 S. 2; GG Art. 6
Auszüge:

[...]

Die Klage ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang, nämlich bezüglich des Hilfsantrages, begründet. [...]

Die Klage hat mit ihrem Hauptantrag, den Beklagten zu verpflichten, der Klägerin ab Antragstellung eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG zu erteilen, keinen Erfolg.

Der Klägerin steht kein Anspruch auf Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis zu, weil sie die allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG nicht erfüllt. Nach dieser Vorschrift setzt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis u.a. voraus, dass der Ausländer mit dem erforderlichen Visum eingereist ist. [...]

Die Klägerin ist danach nicht berechtigt, den Aufenthaltstitel zum Familiennachzug nach der Einreise einzuholen. Die Voraussetzungen des hier allein in Betracht zu ziehenden § 39 Nr. 5, 2. Alt. AufenthV sind nicht erfüllt. Danach kann ein Ausländer über die im Aufenthaltsgesetz geregelten Fälle hinaus einen Aufenthaltstitel ohne vorheriges Visumsverfahren im Bundesgebiet einholen, wenn seine Abschiebung nach § 60 a AufenthG ausgesetzt ist und er aufgrund der Geburt eines Kindes während des Aufenthalts im Bundesgebiet einen Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis erworben hat.

Dabei ist es erforderlich, dass die Duldung im Zeitpunkt des Eintretens der für den Anspruchserwerb (hier nach § 28 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG) maßgeblichen Tatbestandsvoraussetzungen, hier der Geburt, vorliegen muss. Dies folgt aus dem Sinn und Zweck des § 39 AufenthV (vgl. hierzu BR-Drucksache 731/04, S. 181 ff.).

Ziel der Regelung ist es, einen angemessenen Kompromiss zwischen Verfahrenserleichterungen für den Ausländer einerseits und dem legitimen Interesse des Staates an der Ausübung der Zuwanderungskontrolle durch das Visumsverfahren zu verwirklichen. Dass in dieser Weise vorgesehene Zurücktretenlassen des grundsätzlichen Visumserfordernisses für bestimmte Fälle ist nur veranlasst, wenn die betreffenden Ausländer eine gewisse - rechtliche oder tatsächliche - Position innehaben. Nur der in dieser Weise - jeweils durch die Einzelregelungen des § 39 AufenthV - umschriebene Personenkreis soll - bei § 39 Nr. 5 AufenthV - im Falle eines hinzutretenden Anspruchserwerbs ausnahmsweise den Aufenthaltstitel im Bundesgebiet einholen dürfen. Für den hier maßgeblichen § 39 Nr. 5, 2. Alt. AufenthV kommen (nur) Ausländer, deren Abschiebung nach § 60 a AufenthG ausgesetzt ist und die im Besitz dieser Position einen Rechtsanspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis erwerben, in den Genuss dieser Vergünstigung.

Im Zeitpunkt der Geburt ihres Kindes, also im Zeitpunkt des Eintretens der für den Anspruchserwerb (hier nach § 28 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG) maßgeblichen Tatbestandsvoraussetzung, war die Antragstellerin noch nicht im Besitz einer Duldung. Ob auch ein Anspruch auf Duldung jedenfalls in Verbindung mit einem deutlich verzögerten, etwa willkürlichen Verhalten der Behörde ausreichen würde, kann hier offen bleiben. Denn es ist dem Beklagten nicht anzulasten, dass er die Duldung erst am 25. Oktober 2007, am Tag der erstmaligen Vorsprache der Klägerin, erteilt hat. Nach § 15 a Abs. 1 AufenthG befinden sich unerlaubt eingereiste Ausländer, die weder um Asyl nachsuchen noch unmittelbar nach der Feststellung der unerlaubten Einreise in Abschiebehaft genommen werden und aus der Haft abgeschoben oder zurückgeschoben werden können, vor der Entscheidung über die Aussetzung der Abschiebung im Verteilungsverfahren. Der Beklagte hat die Klägerin in mehreren Schreiben hierüber aufgeklärt und dabei ausgeführt, dass auch ihre Identität noch zu klären sei. Auch wenn es nahe lag, dass die Klägerin letztlich wegen des für das Kind gemeinsam mit dem in B. wohnenden Kindesvater auszuübenden Sorgerechts nach § 15 a AufenthG nach B. zu verteilen war, bestand jedenfalls keine Verpflichtung des Beklagten, schon zuvor die Abschiebung auszusetzen, zumal die Identität der Klägerin nicht nachgewiesen war. [...]

Kann die Klägerin sich damit nicht auf § 39 Nr. 5, 2. Alt AufenthV berufen, ist ihr zunächst die Nichterfüllung der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG entgegenzuhalten. Es kommt somit auf die Absehensvorschrift des § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG an. [...]

Jedenfalls liegen Unzumutbarkeitsgründe im Sinne der 2. Alternative vor.

Die Klägerin ist Mutter eines ein Jahr und drei Monate alten Kindes, das auf ihre Betreuung angewiesen ist. Es spricht vor dem Hintergrund des Schutzes der Familie durch Art. 6 Grundgesetz (GG) Vieles dafür, dass Mutter und Kind eine Trennung auf nicht zuverlässig absehbare Zeit nicht zugemutet werden könnte. Von daher scheint hier eine Sachlage gegeben zu sein, in der die mit einer Visumseinholung verbundenen Belastungen schon aufgrund des Alters des Kindes über die Unannehmlichkeiten hinausgehen, die der Gesetzgeber für den Normalfall im Auge hatte. Zu klären wäre im Übrigen die seitens der Klägerin aufgeworfene Frage, ob sie im Fall einer Rückkehr nach Vietnam zur Visumseinholung nach vietnamesischen Vorschriften einem Ausreiseverbot unterläge.

Der Beklagte hat bei seiner deshalb eröffneten Ermessensentscheidung, die er bislang nicht getroffen hat, die vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen (OVG NRW) entwickelten Grundsätze (vgl. die Beschlüsse vom 10. April 2007 - 18 B 303/07 -, DVBl. 2007, 852 (Ls) = AuAS 2007, 195, vom 5. Oktober 2006 - 18 B 1767/06 -, InfAuslR 2007, 56 = EZAR NF 22 Nr. 3, und vom 26. Oktober 2006 - 18 B 783/06 -) zu beachten. Danach hat die Ausländerbehörde zu beurteilen, ob eine Ausnahme von der Einhaltung der Visumsregeln vertretbar und angemessen ist. Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass die Regelung als Ausnahmebestimmung prinzipiell eng auszulegen ist. Die Durchführung des Visumverfahrens soll nach der amtlichen Begründung des § 5 Abs. 2 AufenthG sowohl bei Vorliegen eines Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels als auch in allen anderen Fällen die Regel bleiben (vgl. BT-Drs. 15/420, S. 70).

Auf diese Weise wird einerseits sichergestellt, dass die Steuerungsmechanismen des Aufenthaltsgesetzes nicht konterkariert und die dort vorgesehenen Zugangskontrollen hinsichtlich eines Aufenthalts in der Bundesrepublik nicht unterlaufen werden. Andererseits soll die Einhaltung der Visumsregeln kein reiner Selbstzweck sein (vgl. Renner, Ausländerrecht, 8. Auflage, § 5 AufenthG, Rdnr. 59, vgl. auch Bäuerle in GK, § 5 AufenthG, Rdnr. 167 ff.).

Bei der demnach erforderlichen, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung tragenden Güterabwägung ist daher zu berücksichtigen, dass die Einhaltung des Visumsverfahrens der Regelfall bleiben soll und dass allein die Verpflichtung, vor der Einreise zur Herstellung einer familiären Lebensgemeinschaft ein Visum einzuholen, nicht Art. 6 Abs. 1 GG verletzt. Demzufolge sind die legitimen Interessen des Ausländers (z.B. wirtschaftliche Interessen, Familieneinheit) gegen das öffentliche Interesse an der Einhaltung des Visumsverfahrens abzuwägen. Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass die Nachholung des Visumsverfahrens stets mit den allgemein anzutreffenden und deshalb auch vom Gesetzgeber in den Regelungen des AufenthG berücksichtigten Unannehmlichkeiten verbunden ist. Die Grenze liegt dort, wo das Beharren auf die Einhaltung des Visumsverfahrens objektiv als unangemessen empfunden werden müsste.

Die Kammer weist darauf hin, dass der Beklagte durch seine Ordnungsverfügung vom 27. Februar 2008 bereits kenntlich gemacht hat, wie hier seiner Auffassung nach im Hinblick auf Art. 6 GG das im Rahmen des § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG eröffnete Ermessen auszuüben ist bzw. wie er es auszuüben gedenkt, nämlich zu Gunsten der Klägerin. Denn er hat der Klägerin in Aussicht gestellt, ihr eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG zu erteilen. Auch hierzu bedarf es der Erfüllung der Visumspflicht bzw. des Absehens hiervon, und zwar auf der Grundlage der selben Rechtsnorm wie im Rahmen eines Anspruchs nach § 28 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG. Diese Ermessensentscheidung nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG kann nur "einheitlich", d.h. im Rahmen des § 25 Abs. 5 AufenthG mit keinem anderen Ergebnis als im Rahmen des § 28 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG getroffen werden. [...]