Abschiebungsverbot nach Nigeria wegen extremer Gefahrenlage für alleinerziehende Frau mit HIV-Infektion im Stadium B 2; die Mitgabe von Medikamenten ist nicht geeignet, ein Abschiebungsverbot zu vermeiden, wenn dadurch der Eintritt der Gefahr nur verzögert wird.
Abschiebungsverbot nach Nigeria wegen extremer Gefahrenlage für alleinerziehende Frau mit HIV-Infektion im Stadium B 2; die Mitgabe von Medikamenten ist nicht geeignet, ein Abschiebungsverbot zu vermeiden, wenn dadurch der Eintritt der Gefahr nur verzögert wird.
(Leitsatz der Redaktion)
[...]
Die noch anhängige Klage der Klägerin zu 1. ist begründet. [...]
Die Klägerin zu 1. hat nach der im Zeitpunkt der Entscheidung maßgeblichen Sach- und Rechtslage (§ 77 Abs. 1 des Asylverfahrensgesetzes - AsylVfG -) einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Nigeria. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind für die Person der Klägerin zu 1. auf Grund ihrer HIV-Infektion und unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Verhältnisse sowie der im Zielstaat bestehenden Situation für alleinstehende Frauen mit kleinen Kindern gegeben. [...]
Die Annahme eines Abschiebeverbotes ist zudem nicht nach § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG gesperrt, wonach Gefahren, denen die Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anordnungen nach § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen sind (sog. allgemeine Gefahr bzw. Gruppengefahr). Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung kommt eine Qualifizierung einer Krankheit als allgemeine Gefahr nur in Betracht, wenn es - wie etwa bei AIDS - um eine große Anzahl Betroffener im Zielstaat geht und deshalb ein Bedürfnis für eine ausländerpolitische Leitentscheidung nach § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG besteht (vgl. zu AIDS als einer in Afrika weit verbreiteten Krankheit: BVerwG, Urteil vom 27. April 1998 - 9 C 13/97 -, a.a.O., sowie zu § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG: vom 18. Juli 2006 - 1 C 16/05 -, juris und vom 18. Oktober 2006 - 1 C 18/05 -, juris).
Zwar dürfte nach den vorliegenden Erkenntnissen mit Blick auf die hohe Rate von HIV-Infizierten in Nigeria von einer allgemeinen Gefahr auszugehen sein. Nach offiziellen Schätzungen sind ca. 5 % der Bevölkerung mit HIV infiziert bzw. an AIDS erkrankt, wobei die Gruppe der jungen Frauen stärker betroffen ist. Seit dem ersten diagnostizierten Fall von AIDS im Jahr 1986 hat sich die Krankheit in Nigeria erheblich - epidemieartig - ausgebreitet. Nach Angaben der World Health Organization (WHO) und UNAIDS leben über 3,5 Millionen Menschen in Nigeria mit HIV/AIDS. Nach Indien und Südafrika leben in Nigeria in absoluten Zahlen die meisten Menschen mit HIV/AIDS weltweit (vgl. Auswärtiges Amt (AA), Lagebericht Nigeria vom 6. November 2007, S. 23; WHO - Nigeria -, HIV/AIDS und SUMMARY COUNTRY PROFILS FOR HIV/AIDS TREATMENT SCALE-UP 2005, www.who.int/countries/nga/areas/hiv; Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Nigeria: Behandlungsmöglichkeiten für Personen mit HIV/AIDS, Gutachten vom 12.Juli 2006).
Allerdings darf jedoch nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Einzelfall Ausländern, die zwar einer allgemein gefährdeten Gruppe im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG angehören, ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Handhabung des § 60 Abs. 7 AufenthG zugesprochen werden, wenn die Abschiebung wegen einer extremen Gefahrenlage im Zielstaat Verfassungsrecht verletzen würde. Dies ist der Fall, wenn der Ausländer gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde (vgl. BVerwG zu der gleichlautenden Vorschrift des § 53 Abs. 6 AuslG: Urteile vom 16. Juni 2004 - 1 C 27/03 - juris web, vom 12. Juli 2001 - 1 C 5/01 -, NVwZ 2002 S. 101, vom 27. April 1998 - 9 C 13/97 -, NVwZ 1998 S. 973, vom 18. Juli 2006 - 1 C 16/05 -, juris und vom 18. Oktober 2006 - 1 C 18/05 -, juris).
Die Klägerin zu 1. wäre im Falle ihrer Rückkehr mit hoher Wahrscheinlichkeit auch einer derartigen extremen Gefahrenlage ausgesetzt.
Ausgehend von der Unterteilung der HIV-Erkrankung nach der anerkannten internationalen CDC-Klassifikation in drei klinische Kategorien - A, B, C - und einer zusätzlichen Einteilung in drei Laborkategorien - 1, 2, 3 -, befand sich die HIV-Infektion der Klägerin zu 1. ausweislich der ausführlichen ärztlichen Bescheinigungen vom 6. November 2007 und 4. November 2008 bereits in der 2. Jahreshälfte 2007 im Stadium B 2. [...]
Es ist gerichtsbekannt, dass es sich bei einer HIV-Infektion um eine lebenslange persistierende Infektion handelt, die, wenn sie unbehandelt bleibt, zu einem kontinuierlichen Absinken der CD4-Helferzellen führt und im Durchschnitt nach 9 - 11 Jahren nach der Erstinfektion zwangsläufig zu einem schweren Immundefekt mit den i.d.R. AIDS-definierenden Erkrankungen führt (s.o. Klassifikation CDC 3). Vor diesem Hintergrund ist die Klägerin zu 1. dauerhaft auf eine antiretrovirale Therapie angewiesen, auch wenn sich ihr Immunsystem derzeit auf Grund der Kombinationstherapie stabilisiert hat. Ein Abbruch der begonnenen antiretroviralen Therapie würde ausweislich der ärztlichen Bescheinigungen vom 6. November 2007 und 4. November 2008 dazu führen, dass innerhalb weniger Wochen wieder der Ausgangsstatus vor Behandlungsbeginn erreicht würde, d.h. die Virusbelastung auf das Ausgangsniveau ansteigen und das Immunsystem sich wieder bedrohlich verschlechtern würde. Die Klägerin zu. 1. hätte in diesem Fall innerhalb weniger Wochen schwerste - lebensbedrohliche - Beeinträchtigungen zu erwarten. [...]
Zwar wurde in Nigeria im Jahr 2001 ein HIV-Behandlungsprogramm mit 25 Behandlungszentren eingeführt und gibt es heute in ganz Nigeria an 74 bzw. derzeit wohl 210 Orten, die Möglichkeit einer antiretroviralen Behandlung. Seit Anfang 2006 werden die Medikamente auch kostenlos zur Verfügung gestellt. Das bestehende Angebot reicht aber weiterhin nicht aus, um den tatsächlichen Bedarf zu decken. So erhielten nach Angaben von UNAIDS und der WHO Ende Dezember 2005 ca. 30.000 - 40.000 Personen eine antiretrovirale Therapie gegenüber einem Bedarf bei ca. 520.000 Personen (vgl. WHO - Nigeria -, HIV/AIDS und SUMMARY COUNTRY PROFILS FOR HIV/AIDS TREATMENT SCALE-UP 2005, www.who.int/countries/nga/areas/hiv; SFH, Nigeria: Behandlungsmöglichkeiten für Personen mit HIV/AIDS, Gutachten vom 12.Juli 2006).
Nach Auskunft von ACCORD (Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation) vom 12. Februar 2008, soll einer Studie zufolge lediglich eine von fünf Personen, die eine virushemmende Therapie benötigen, tatsächlich Zugang haben. Im März 2007 hätten von den geschätzten 555.000 Personen, die einer antiretroviralen Therapie bedurften, nur rund 124.572 Erwachsene und 5.279 Kinder diese erhalten.
Ungeachtet der angesichts dieser Umstände bereits offenen Frage, ob es der Klägerin zu 1. überhaupt gelingen würde, eine kostenlose antiretrovirale Therapie zu erlangen und dabei auch die von ihr derzeit benötigten Präparate zu bekommen (nach dem bisherigen Kenntnisstand sind in Nigeria Lamivudine, Stavudine, Nevirapine und Zidovudine sowie Kaletra erhältlich; es herrscht aber ein Mangel an neuen lebensverlängernden antiretroviralen Medikamenten, vgl. SFH, Nigeria: Behandlungsmöglichkeiten für Personen mit HIV/AIDS, Gutachten vom 12. Juli 2006; WHO - Nigeria -, HIV/AIDS und SUMMARY COUNTRY PROFILS FOR HIV/AIDS TREATMENT SCALE-UP 2005, www.who.int/countries/nga/areas/hiv.) könnte sie die ebenfalls dauerhaft und regelmäßig erforderlichen Laburuntersuchungen nicht finanzieren. Die erforderlichen Laboruntersuchungen (wohl ca. 128.- EUR jährlich) und die Behandlung der Begleiterkrankungen sowie die dafür erforderlich Medikamente sind nicht kostenfrei. Zudem müssen die Patienten die Reisekosten zu den Behandlungszentren und evt. Aufenthaltskosten an dem Behandlungsort selbst finanzieren. Die Behandlung von HIV/AIDS ist weiterhin für viele Nigerianer angesichts
der geringen Einkommen unbezahlbar und führt dazu, dass Therapien unterbrochen bzw. abgebrochen werden. HIV-Infektionen bzw. AIDS führen zu einer teilweise ruinösen sozioökonomischen Belastung für die Familienhaushalte (vgl. ACCORD, Auskunft vom 12. Februar 2008 und SFH, Nigeria: Behandlungsmöglichkeiten für Personen mit HIV/AIDS, Gutachten vom 12. Juli 2006.)
Die Klägerin zu 1. wäre im Falle einer Rückkehr als alleinstehende Frau und eines kleinen Kindes, mit lediglich geringer Schulbildung und ohne familiäre Unterstützung gezwungen, für sich und ihren Sohn eigenständig eine wirtschaftliche Existenz in Nigeria aufbauen und daneben die Kosten für ihre Behandlung aufzubringen. Sie verfügt ihren insoweit glaubhaften Angaben zufolge lediglich über eine geringe Schulbildung und keine Berufsausbildung. Ihren Lebensunterhalt hat sie vor ihrer Ausreise als Gemüsehändlerin bestritten. Das Gericht geht ferner davon aus, dass die Klägerin zu 1. nicht auf eine vorhandene - sie unterstützende - Familienstruktur in ihrem Heimatland zurückgreifen kann. Zwar sind die Angaben der Klägerin zu ihren näheren Familienangehörigen nicht frei von Ungereimtheiten und ist davon auszugehen, dass noch ihre Eltern und zumindestens ein Teil der sechs Geschwister in Nigeria leben. Das Gericht geht jedoch davon aus, dass die Klägerin zu. 1., die ihren Angaben in der mündlichen Verhandlung zufolge schon im Teenageralter von zu Hause weggelaufen sein will, und die bereits vor etwa 10 Jahren ihr Heimatland verlassen hat, keinen Kontakt mehr zu ihren Familienangehörigen hat und diesen im Falle einer Rückkehr als HIV-infizierte Frau mit einem Kind auch nicht in einem ausreichenden Maß erneut aktivieren könnte. Die Klägerin zu 1. wäre im Falle einer Rückkehr auf sich selbst gestellt. Nach der derzeitigen Erkenntnislage ist jedoch die Situation für alleinstehende Frauen mit Kleinkindern in Nigeria besonders schwierig. Sie finden meist nur schwer eine Unterkunft und eine berufliche Tätigkeit in Nigeria; dies umso weniger, je geringer die Schul- bzw. Berufsausbildung ist. Zwar ist es auch für den Personenkreis der alleinstehende Frauen mit Kleinkindern nicht unmöglich bzw. ausgeschlossen, sich eine wirtschaftliche Grundexistenz zu schaffen, so etwa im Südwesten des Landes und in den Städten, in denen alleinstehende Frauen eher akzeptiert werden. So existieren dort z.B. auch Hilfseinrichtungen bei verschiedenen Kirchengemeinden oder Nicht Regierungs-Organisationen, die verschiedene Hilfestellungen anbieten. Deren Inanspruchnahme ist jedoch abhängig von dem persönlichen Engagement der betroffenen Frau. Auch in Lagos hängt die Situation alleinstehender Frauen mit oder ohne Kleinkind ganz erheblich von deren persönlichen Voraussetzungen und existierenden Beziehungen zu Verwandten, Freunden, Kirche, etc. ab (vgl. dazu auch Urteil VG Aachen vom 11. Juni 2007 - 2 K 1093/06.A und VG E. vom 17. Januar 2008 - 1 K 1584/07.A sowie AA, Lagebericht Nigeria vom 6. Mai 2006, Ziff. I 5., S. 11 und Ziffer II 1.6, S. 27 und vom 6. November 2007 S. 15, 16; Auskünfte des Auswärtigen Amtes vom 14. Februar 2005 an das VG Berlin und vom 28. März 2003 an das VG E. sowie Auskunft an das VG Aachen vom 24. November 2006 die auf die Auskunft vom 14. Februar 2005 verweist; Auskunft des Institutes für Afrika-Kunde vom 28. März 2003 an das VG E. ; Kurzinformation des Bundesamtes vom April 2002 zur Lage der Frauen in Nigeria).
Schließlich steht der Annahme einer extremen Gefahr für die Klägerin zu 1. nicht die von der Beklagten vorgelegten Erklärungen des Sozialamtes der Stadt X2. vom 20. Dezember 2007 bzw. vom 18. Januar 2008 entgegen, wonach im Falle einer Rückkehr der Klägerin zu. 1. die erforderlichen Medikamente für einen Zeitraum von maximal 12 Monaten verordnet werden können. Ungeachtet der Frage der Verbindlichkeit dieser Erklärung ist auch nach Ablauf von 12 Monaten nach den obigen Ausführungen nicht zu erwarten, dass die Klägerin zu 1. dauerhaft eine antiretrovirale Behandlung erlangen kann. Der Eintritt schwerster - lebensbedrohender - Erkrankungen würde lediglich verschoben. Darüber hinaus stellt sich vorliegend nicht nur die Frage nach der notwendigen Medikation, sondern auch nach der Erforderlichkeit der regelmäßigen Kontrolluntersuchungen. Wie bereits oben ausgeführt muss die virushemmende Therapie durch begleitende Blutuntersuchungen mindestens alle drei Monate überprüft werden und ggfs. die antiretrovirale Therapie den Untersuchungsergebnissen angepasst werden. Bereits die Finanzierung dieser regelmäßigen Laboruntersuchungen wird der Klägerin zu 1. jedoch in Nigeria nach den obigen Ausführungen nicht möglich sein. Nach den genannten ärztlichen Bescheinigungen kann die bisherige Medikation nicht über einen längeren Zeitraum ohne Kontrolluntersuchungen eingenommen werden, ohne die Wirksamkeit der gesamten antiretroviralen Therapie zu gefährden (vgl. zur Zusicherung einer Medikamentenmitgabe ins Heimatland auch: Bayerischer VGH, Urteil vom 6. März 2007 - 9 B 06.30682 -, AuAS 2007, 118 und Beschluss vom 24. November 2006 - 25 ZB 06.30892 -, juris; VG Ansbach Urteil vom 25. April 2007 - AN 15 K 06.30367 -, juris und VG Stuttgart, Urteil vom 15. November 2006 - 7 K 295/06, juris). [...]