Keine hinreichende Sicherheit vor Verfolgung in Form von Sippenhaft im Iran.
Keine hinreichende Sicherheit vor Verfolgung in Form von Sippenhaft im Iran.
(Leitsatz der Redaktion)
[...]
Die Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet. [...]
In Anwendung dieser Maßstäbe liegen die Voraussetzungen für einen Widerruf der Anerkennung als Asylberechtigter nicht vor.
Zum Einen haben sich die maßgeblichen Verhältnisse nicht erheblich geändert. Eine grundlegende Änderung der politischen Verhältnisse im Iran hat seit der dortigen Revolution nicht stattgefunden. Die Menschenrechtssituation wird nach wie vor wesentlich von der klerikal beherrschten und reformfeindlichen Justiz und nachrichtendienstlichen Strukturen bestimmt. Auch in der heutigen Praxis bleibt sie unverändert unbefriedigend und verschlechtert sich tendenziell weiter. Beispielsweise können Verhörmethoden im Iran seelische und körperliche Folter sowie unmenschliche Behandlung umfassen. Auch kann die Todesstrafe für eine große Zahl von Delikten (u.a. bewaffneter Raub und Straßenraub) verhängt werden und wird in großer Zahl auch vollstreckt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran - 508-516.80/3 IRN - (nachfolgend: Lagebericht) vom 18. März 2008, S. 30/31).
Vor diesem allgemeinen Hintergrund hat sich im Hinblick auf die Sippenhaft, auf deren Wegfall das Bundesamt im vorliegenden Fall maßgeblich abstellt, nach Auffassung des Gerichts eine erhebliche Veränderung nicht eingestellt. Zwar dürfte die Sippenhaft heute im Gegensatz zu der Situation kurz nach der Machtergreifung Khomeinis (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 15. Juli 2002, S. 18) nicht mehr systematisch praktiziert werden. Allerdings ist nach wie vor davon auszugehen, dass Familienmitglieder von Asylbewerbern von Sicherheitskräften vorgeladen und befragt werden (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 18. März 2008, S. 23).
Hinzu kommt, dass auch nach jüngeren Auskünften Sippenhaft nach wie vor in Betracht kommt. So heißt es in einer Auskunft des Deutschen Orient-Institutes (vgl. Auskunft vom 8. Februar 2007 an das Verwaltungsgericht Köln - 707 i/br - (S. 17)), dass Sippenhaft im Iran (noch) immer ein Thema sei. Zwar gebe es hierfür im Moment keine zeitlich nahe liegenden Belege. Ausschließen könne man es aber nicht, auch wenn es - soweit ersichtlich - wohl nicht systematisch betrieben werde. In dieser Auskunft wird jedoch auf den neueren Fall einer Frau verwiesen, die eine Kaution für ihren Bruder bezahlt hat. Dieser habe einen Gefängnisaufenthalt zur Flucht genutzt, worauf die Schwester inhaftiert worden sei. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (vgl. Übersicht Reflexverfolgung und/oder Sippenhaft, SFH Länderanalyse, Stand: 13. September 2006, S. 3 und 4 (www.osar.ch/2006/09/13/0609 reflexverfolgung)) äußerte sich 2006 noch eindeutiger. Sie gibt an, die Verfolgung von Familienangehörigen politisch Verfolgter werde seit Jahren und bis in jüngste Zeit beobachtet. Familienangehörige von Personen würden zwecks Verhörs durch die Regierung gesucht und verdächtigt, selbst Mitglieder verbotener Oppositionsparteien zu sein. Auch 2005 seien MenschenrechtsaktivistInnen, JournalistInnen, Mitglieder der Studentenvereinen, die Aktivisten und Sympathisanten der demokratischen Partei Kurdistan Irans sowie Angehörige der religiösen Minderheiten staatlichen Unterdrückung und Verfolgung ausgesetzt. [...]
Hiernach kann die Anwendung von Sippenhaft auch im vorliegenden Einzelfall nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden. So wird der Kläger mit hoher Wahrscheinlichkeit nach seiner Rückkehr in den Iran zunächst von den Sicherheitskräften vorgeladen und befragt. Dabei wird auch das Schicksal seines Vaters und seines Bruders N. zur Sprache kommen, auch wenn deren Ausreise mittlerweile 20 Jahre zurück liegt. Immerhin war der Vater seinerzeit wegen des Herunterreißens eines Bildes und des Herumtrampelns darauf inhaftiert und schwer misshandelt worden. Das Bild zeigte den im Iran nach wie vor verehrten Khomeini und den dort nach wie vor im politischen Leben eine erhebliche Rolle spielenden Rafsandjani. Auch wenn der Vater lange vor seiner Ausreise wieder freikam, ist zu berücksichtigen, dass er mit seinem ältesten Sohn N. das Land illegal als Militärangehöriger verlassen hat und danach beide - auch unter Einsatz von Gewalt gegen nahe stehende Familienangehörige - von den Sicherheitskräften gesucht worden sind, auch weil N. sich durch die Flucht dem Militärdienst entzogen hat. Davon ging bei seiner anerkennenden Entscheidung auch das Bundesamt aus. Dass die Sicherheitskräfte Informationen über frühere "Verfehlungen" lange aufbewahren und bei passender Gelegenheit nutzen, zeigt im Übrigen der Umstand, dass dem Vater des Klägers sein gerade beschriebenes Verhalten und auch sein erfolgloser erster Ausreiseversuch später vorgehalten wurde, als es darum ging, sein Einverständnis zum Kriegseinsatz seiner Söhne zu erpressen.
Ist mithin davon auszugehen, dass man den Kläger bei einer Einreise wegen seines Vaters verhören wird, kann nach den zitierten Auskünften nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass man ihn nicht nur längere Zeit festhält, um ihn zu befragen, sondern auch, um seinen Vater zur Rückkehr in den Iran zu veranlassen. Von einer erheblichen Änderung der Verhältnisse im Hinblick auf die Sippenhaft kann im Iran nach Allem daher nicht ausgegangen werden.
Selbst wenn man den Kläger nicht schon bei seiner Einreise festnehmen würde, kann jedenfalls nicht mit hinreichender Sicherheit angenommen werden, dass er auch auf absehbare Zeit unbehelligt bleiben wird. Ginge man - hypothetisch - von einer erheblichen Änderung der Verhältnisse im Hinblick auf die Sippenhaft aus, könnte man dieser Änderung jedenfalls nicht attestieren, auf absehbare Zeit Bestand zu haben.
Das Auswärtige Amt geht in dem zitierten Lagebericht vom 18. März 2008 davon aus, dass sich die Menschenrechtslage im Iran tendenziell verschlechtert. Das entspricht den Erkenntnissen des Gerichts, nach denen unter Präsident Achmadinedschad beispielsweise eine Verschärfung des iranischen Strafgesetzes angestrebt wird. So hat nach einer Auskunft vom 19. September 2008 die iranische Nachrichtenagentur IRNA mitgeteilt, das iranische Parlament habe in der ersten Runde einer Neufassung des Strafgesetzes zugestimmt, wonach Amputationen, Peitschenhiebe, Folter und Hinrichtung als vermeintlich göttlicher Wille durchgesetzt würden. U.a. seien danach Apostasie und Homosexualität offiziell mit der Todesstrafe bedroht. Atheisten und Frauen, die die islamische Kleiderordnung nicht beachteten, könnten als Apostaten verurteilt werden. Auch zum Thema nationale Sicherheit gebe es nun harte Strafen. Handele ein Iraner oder ein Ausländer gegen die "nationale Sicherheit", mache er sich strafbar. Eine Protestaktion gegen Menschenrechtsverletzungen reiche insoweit aus. Zur staatlichen Willkür der Strafverkündung komme die Möglichkeit der systematischen Verhaftung bis zur Hinrichtung im Inland hinzu, da die Gesetze so ausgelegt werden könnten, dass jeder Kritiker als Feind gegen den Islam, gegen Gott oder gegen den Staat bestraft werden könne (vgl. Wahied Wahdat-Hagh (Kolumnist für WELT DEBATTE), Besorgniserregendes Strafgesetz im Iran, 19. September 2008 (www.debatte.welt.de)).
Damit wird deutlich, dass sich das politische Klima im nach wie vor klerikal beherrschten und reformfeindlichen Iran zusehends verschärft. Es steht also nicht mit der erforderlichen Sicherheit fest, dass positive Änderungen in den politischen und asylrelevanten Verhältnissen, sofern diese überhaupt zu verzeichnen sind, auf absehbare Zeit Bestand haben werden.
In einer Gesamtbetrachtung geht das Gericht deshalb davon aus, dass objektiv Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden können. Der Widerruf der Asylanerkennung ist daher rechtswidrig. [...]