VG Neustadt a.d.W.

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Zitieren als:
VG Neustadt a.d.W., Urteil vom 11.12.2008 - unbekannt - asyl.net: M15191
https://www.asyl.net/rsdb/M15191
Leitsatz:

Yeziden aus dem Tur Abdin sind dort vor erneuter Verfolgung nicht hinreichend sicher (im Anschluss an OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 21.2.2008 - 10 A 11003/07.OVG); keine inländische Fluchtalternative im Westen der Türkei.

 

Schlagwörter: Türkei, Jesiden, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Gruppenverfolgung, Verfolgung durch Dritte, mittelbare Verfolgung, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Großgrundbesitzer, Midyat, Tur Abdin, interne Fluchtalternative, Westtürkei, Existenzminimum, religiös motiverte Verfolgung, Zumutbarkeit
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Yeziden aus dem Tur Abdin sind dort vor erneuter Verfolgung nicht hinreichend sicher (im Anschluss an OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 21.2.2008 - 10 A 11003/07.OVG); keine inländische Fluchtalternative im Westen der Türkei.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die zulässige Klage ist begründet. [...]

Hiervon ausgehend sind die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (die frühere Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen) am 21 . September 1998 im ausschlaggebenden Zeitpunkt der Beratung am 11. Dezember 2008 nicht entfallen. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge hatte dem Kläger seinerzeit Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG zuerkannt, weil es davon ausgegangen war, dem Kläger drohe im Falle einer Rückkehr wegen seiner yezidischen Religionszugehörigkeit eine asylrelevante Verfolgung.

Aufgrund dieses Sachverhalts kann zum Zeitpunkt der Beratung am 11. Dezember 2008 eine Verfolgungsgefahr für den Kläger im Falle einer Rückkehr in die Türkei im Hinblick auf seine persönlichen Lebensverhältnisse nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden. Die Beklagte hat sich in ihrem Widerrufsbescheid vom 9. Juni 2008 darauf berufen, die Situation der Yeziden in der Türkei habe sich grundlegend geändert. Im Falle einer Rückkehr könne eine drohende politische Verfolgung von Yeziden daher nicht mehr prognostiziert werden.

Die Kammer teilt diese Auffassung nicht. Maßgeblich für die nachträgliche erhebliche Änderung der Verhältnisse ist nicht das Bestehen bzw. Nichtbestehen einer Gruppenverfolgung der Yeziden in der Südosttürkei, sondern die Frage, ob es gerade dem Kläger wegen der nachträglichen Änderung der Verhältnisse zumutbar ist, in die Türkei zurückzukehren. Zu fragen ist daher, ob der als Flüchtling anerkannte Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei einer politischen Verfolgung ausgesetzt ist. Diese Frage ist konkret für die Person des Klägers und für seine Lebensverhältnisse zu beantworten (s. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 05. Juni 2007 - 10 A 11576/06.OVG - und Beschluss vom 21. Februar 2008 - 10 A 11003/07.OVG -; vgl. auch VG Koblenz, Urteil vom 13. Oktober 2008 - 2 K 288/08.KO -). Der Kläger hatte zusammen mit seiner Mutter und seinen Geschwistern 1990 zunächst das Heimatdorf ..., in dem ausschließlich Yeziden lebten, und 1998 die Kreisstadt Midyat verlassen. In den Dörfern der Region Midyat war es seinerzeit zu vielfältigen Räubereien durch die moslemischen Nachbarn gekommen, was zu einer starken Abwanderung der Yeziden aus den Dörfern geführt hatte. Alle Übergriffe auf die Yeziden geschahen mit Billigung der örtlichen Polizei und der Gendarma sowie auch der Großgrundbesitzer der umliegenden Dörfer, denn sonst wären solche Repressalien in dieser Häufigkeit, Dichte und Asylrelevanz über einen so langen Zeitraum undenkbar (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 21 . Februar 2008 - 10 A 11003/07.OVG -).

Diese Verhältnisse in den Dörfern im Kreis Midyat haben sich nachträglich nicht so erheblich und nicht nur vorübergehend so geändert, dass dem Kläger eine Umsiedlung dorthin zumutbar ist. Eine wirkliche Befriedung des kurdischen Südostens durch die Anerkennung der kulturellen und politischen Rechte der kurdischen Bevölkerung hat nicht stattgefunden. Nach einer kurzen Phase der Ruhe und Erschöpfung ist in den letzten Jahren der bewaffnete Kampf der PKK gegen die türkischen Sicherheitskräfte in der Südosttürkei sogar wieder aufgeflammt (vgl. die Lageberichte des Auswärtigen Amtes vom 11. Januar 2007, S. 20 f. und vom 11. September 2008, S. 16). Damit blieben und bleiben die traditionellen Machtzentren vor Ort, die Großgrundbesitzer, für den türkischen Staat weiterhin wichtig und sie erfahren grundsätzlich eine Anerkennung und Unterstützung wie bisher. Die Richtigkeit dieser aus allgemeinen aktuellen Nachrichten abgeleiteten Einschätzung der aktuellen Lage im Südosten und gerade im Tur Abdin und einer möglichen Rückkehr von Yeziden in den Tur Abdin ergibt sich zudem aus den Einzelfällen, die in Auskünften, Gutachten und Stellungnahmen zur allgemeinen Frage einer Gruppenverfolgung der Yeziden in der Südosttürkei vorliegen (ausführlich dazu OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 21. Februar 2008 - 10 A 11003/07.OVG -). Danach gibt es keinen einzigen Fall eines Yeziden, dem eine Reintegration in ein Dorf im Tur Abdin gelungen wäre - geschweige denn auf eine längere Sicht. Vielmehr sind alle Versuche von Yeziden - ohne den Gründen nachgehen zu wollen - voll und ganz gescheitert.

Unter diesen Umständen kann dem Kläger nicht zugemutet werden, allein und ohne Rückhalt durch seine Familie, von Freunden und früheren Nachbarn in das vor ca. 18 Jahren wegen politischer Verfolgung verlassene Dorf ... umzusiedeln. Der Kläger ist nicht nur nicht vor erneuter politischer, religiöser Verfolgung hinreichend sicher, sondern im Gegenteil droht ihm ein völliges auch aus religiösen Gründen bedingtes Scheitern.

Dem Kläger ist auch eine Umsiedlung in die Kreisstadt Midyat nicht zumutbar. Diese scheitert daran, dass die Großgrundbesitzerfamilie ... auch dort entscheidenden Einfluss hat (s. OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 21. Februar 2008 - 10 A 11003/07.OVG -). Schließlich kommt auch keine Wohnsitznahme im Westen in Betracht. Diese Möglichkeit verbietet sich wohl deshalb, weil selbst das Auswärtige Amt eine solche Alternative in seinen Auskünften nicht in Betracht gezogen und der Sachverständige Baris in seinem Gutachten vom 17. April 2006 (S. 2) überzeugend ausgeführt hat, dass Yeziden dort wegen ihrer Religion, Herkunft und Kultur nicht überleben können und sich dort weniger als ein Dutzend Yeziden aufhalten. Dass dem Kläger eine Umsiedlung mit anschließender Verleugnung seiner Religion, Herkunft und Kultur, letztlich also mit einer Selbstaufgabe, nicht zumutbar ist, liegt auf der Hand (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 21. Februar 2008 - 10 A 11003/07.OVG -). [...]