VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Urteil vom 03.12.2008 - 7a K 1513/06.A - asyl.net: M15197
https://www.asyl.net/rsdb/M15197
Leitsatz:
Schlagwörter: Kosovo, Roma, Gruppenverfolgung, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, UNMIK, KFOR, Unabhängigkeitserklärung, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, psychischer Erkrankung, multiple Erkrankungen, posttraumatische Belastungsstörung, Herzkreislauferkrankung, Atemwegserkrankung, medizinische Versorgung, Pflege, Finanzierbarkeit
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

[...]

Die Klage ist unbegründet, soweit sie auf die Anerkennung als Asylberechtigte und auf die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG gerichtet ist. [...]

Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichts und des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen besteht eine unmittelbare oder mittelbare individuelle oder gruppengerichtete politische Verfolgung für Angehörige der Volksgruppe der Roma unter keinem insoweit in Betracht zu ziehenden Gesichtspunkt (vgl. OVG NRW, Urteil vom 5. Mai 2000 - 14 A 3334/94.A -; Beschlüsse vom 28. Juli 2004 - 13 A 2870/04.A vom 23. Juni 2004 - 13 A 2037/04.A - und vom 4. Juli 2002 - 14 A 891/02.A -; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 29. Mai 2005 - 7 K 2991/02.A -).

Insbesondere kann auch von einer generellen mangelnden Schutzfähigkeit und -bereitschaft von UNMIK, KFOR und den örtlichen Sicherheitskräften keine Rede sein (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 5. Dezember 2005 - 14 A 4317/03.A).

Hieran ist in Auswertung der aktuellen Erkenntnislage festzuhalten (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Serbien (Kosovo) vom 29. November 2007).

Daran hat sich seit der Unabhängigkeitserklärung vom 17. Februar 2008 nichts geändert. Die Sicherheitslage ist weiterhin stabil. Gewaltakte gegen ethnische Minderheiten sind nicht bekannt geworden.

Die Klage ist jedoch begründet und der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 12. Mai 2006 insoweit rechtswidrig, als er die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) ablehnt. [...]

Soweit es die Klägerin zu 2. betrifft, legt die Kammer in tatsächlicher Hinsicht zu Grunde, dass die Behandlung psychischer Krankheiten, auch einer posttraumatischen Belastungsstörung, im Kosovo grundsätzlich möglich ist. Dies belegen die ins Verfahren eingeführten Lageberichte des Auswärtigen Amtes (zuletzt vom 29. November 2007). Zweifelhaft ist aber schon, ob die von ihr benötigten zahlreichen Medikamente im Kosovo erhältlich und in ihrer Gesamtheit erschwinglich sind. Darauf kommt es jedoch nicht entscheidend an. Die Kammer geht nämlich im vorliegenden Einzelfall davon aus, dass die Klägerin zu 2. völlig hilflos ist und im Kosovo nicht die für sie erforderliche umfassende Versorgung, Betreuung und Pflege erhalten kann und dass sie infolgedessen in absehbarer Zeit nach ihrer Rückkehr in den Kosovo sozial verwahrlosen und sich ihr Gesundheitszustand dadurch und durch die absehbare Unterbrechung der antidepressiven und neuroleptischen Medikation lebensbedrohlich verschlechtern würde. Die Kammer stützt diese Überzeugung im Wesentlichen auf das Sachverständigengutachten der Ärztin für Allgemeinmedizin - Psychotherapie - ... aus ... vom 28. Mai 2008.

Darin legt die Gutachterin eindrucksvoll und nachvollziehbar dar, dass die Klägerin zu 2. an einer posttraumatischen Belastungsstörung in Verbindung mit einer traumaassoziierten dissoziativen Störung/Amnesie leidet, die an sich psychotherapeutisch behandlungsbedürftig ist, aber so nicht behandelt werden kann, weil der Klägerin zu 2. krankheitsbedingt das hierfür notwendige Maß an Introspektionsfähigkeit, Reflexionsfähigkeit und Kooperationsvermögen fehlt. Zwingend erforderlich sind daher neben der Sicherstellung einer regelmäßigen ordnungsgemäßen Medikamenteneinnahme umfassende Betreuungs- und Pflegemaßnahmen. Basisvoraussetzung dafür ist die Herstellung einer sicheren Umgebung und der Schutz vor weiterer Traumatisierung.

Da die Klägerin zu 2. zu einer eigenständigen Lebens- und Haushaltsführung sowie der Selbstversorgung nicht in der Lage ist, wird sie von ihrem Ehemann, der dadurch allerdings wegen seiner eigenen gesundheitlichen Probleme überfordert ist, und ihren in Gelsenkirchen lebenden Kindern vollständig versorgt, gepflegt und versorgt. Tagsüber hält sich stets eines der vier Kinder bis 23:00 Uhr bei den Eltern auf. Auch die Körperpflege wird weitestgehend von den Angehörigen übernommen, da sich die Mutter nicht mehr um eine ausreichende Hygiene kümmert. Beim An- und Auskleiden benötigt sie Hilfe, weil sie sich die Kleidungsstücke verkehrt herum anzieht. Da sie dazu neigt, völlig wahllos Medikamente einzunehmen, muss man diese vor ihr verstecken und stets einteilen. Außerdem muss man darauf aufpassen, dass sie nicht wegläuft und sich verirrt. Bei alledem ist sie im Umgang äußerst schwierig, oft unberechenbar und aggressiv. Immer wieder kommt es vor, dass sie mit der Hand oder dem Stock nach den Angehörigen schlägt. Dies alles beruht nicht nur auf den Erzählungen der Tochter, die die Klägerin zu 2. zur Untersuchung begleitet hat sondern zumindest teilweise auch auf den Beobachtungen der Sachverständigen während der Untersuchung.

Die Kammer ist davon überzeugt, dass eine derart aufwändige fürsorgerische Begleitung und Betreuung unter den im Kosovo herrschenden Verhältnissen nicht möglich ist. Soziale Einrichtungen, die dies leisten könnten, gibt es nicht. Angesichts der schlechten wirtschaftlichen Lage reicht selbst die gewährte Sozialhilfe als alleinige Einkommensquelle kaum zum Leben aus. Auch die Wiederherstellung der medizinischen Grundversorgung schreitet aufgrund fehlender Ressourcen nur langsam voran. Im Kosovo gibt es gerade eine Betreuungseinrichtung für geistig Behinderte. Deren Aufnahmekapazität ist jedoch erschöpft (Lagebericht vom 29. November 2007). Weitere Fürsorgeeinrichtungen waren noch nicht in Betrieb genommen. Vor diesem Hintergrund kann ausgeschlossen werden, dass staatliche Stellen, internationale Einrichtungen oder im Kosovo tätige Hilfsorganisationen in der Lage wären, der Klägerin zu 2. dauerhaft einen Pflegedienst zur Verfügung zu stellen. Die Kammer ist daher davon überzeugt, dass in ihrem Fall eine Abschiebung aus gesundheitlichen Gründen nicht zu verantworten wäre. Dieses Abschiebungsverbot beruht auf den Verhältnissen im Kosovo, ist daher zielstaatsbezogen und gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen.

Der Kläger zu 2. leidet ausweislich des von dem Facharzt für Allgemeinmedizin und Arbeitsmedizin des Gesundheitsamts der Stadt ..., Dr. med. ..., am 27. April 2008 erstatteten Gutachtens an einer Vielzahl von Erkrankungen, die allesamt medikamentös behandelt werden müssen. Im Vordergrund stehen dabei Herzkreislauferkrankungen und Atemwegserkrankungen. Beide sind lebenslimitierend und können auch nicht aufgehalten werden. Alierdings ist durch die medikamentöse Therapie eine Verbesserung der Lebenserwartung und der Lebensqualität möglich. Seitens der Herzkreislauferkrankung ist der Kläger zu 1. auf folgende Medikamente angewiesen: Selektiver Beta-1-Rezeptorenblocker, Diuretikum, ACE-Hemmer, Nitrat, Stickstoffmonoxiddonator, Thrombozytenaggregationshemmer. Seitens der Atemwegserkrankung ist der Kläger zu 1. auf folgende Medikamente angewiesen: Inhalatives kurzwirksames Beta-2-Sympathomimetikum, Inhalatives langwirksames Beta-2-Sympathomimetikum, Inhalatives Anticholinergikum. Fallen einer oder mehrere dieser Wirkstoffe weg, ist mit lebensbedrohlichen Komplikationen wie Blutdruckkrise, Herzinfarkt oder Schlaganfall bzw. Atemnot und Sauerstoffmangelversorgung zu rechnen. Zur Zeit ist der Kläger zu 2. insoweit medikamentös gut eingestellt, so dass bei der Untersuchung keine schwerwiegenden Beeinträchtigungen festgestellt worden sind. Jedoch treten die genannten Zustände mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ein, wenn die medikamentöse Versorgung eingeschränkt wird. Im Verhältnis dazu wiegen die übrigen Erkrankungen (axiale Hiatushernie, lokales Lendenwirbelsäulensyndrom, postthrombotisches Syndrom und Knotenstruma) nicht so schwer, weil sie nicht lebensbedrohlich sind. Allerdings ist der Kläger zu 2. auch wegen dieser Erkrankungen zur Verbesserung der Lebensqualität und zur Vermeidung von Komplikationen auf zahlreiche Medikamente angewiesen, bei deren Wegfall überwiegend wahrscheinlich mit einer wesentlichen Gesundheitsverschlechterung zu rechnen ist.

Aus alledem folgt, dass es dem Kläger zu 2. nicht zugemutet werden kann, in den Kosovo zurückzukehren. Dort wäre nämlich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die medikamentöse Versorgung seiner Erkrankungen nicht gewährleistet. Dabei kann dahinstehen, ob einzelne der erforderlichen Medikamente auf der "essential drug list" des kosovarischen Gesundheitsministenums stehen und gegen eine geringe Eigenbeteiligung erworben werden können. Ausgeschlossen erscheint, dass alle (überlebensnotwendigen) Medikamente zuverlässig kostengünstig verfügbar sind. Dabei ist zu berücksichtigen, dass bisweilen selbst stationäre Patienten im Universitätsklinikum Pristina die benötigten Medikamente, Infusionen etc. infolge finanzieller Engpässe zum vollen Preis privat in Apotheken erwerben mussten, obwohl sie auf der "essential drug list" aufgeführt waren (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 29. November 2007). Im Kosovo können hinsichtlich einzelner Medikamente jederzeit Versorgungslücken auftreten; inwieweit Medikamente tatsächlich immer verfügbar sind, lässt sich daher nicht genau bestimmen und kann variieren. Vor diesem Hintergrund macht es keinen Sinn, die augenblickliche Verfügbarkeit der vom Kläger zu 1. benötigten Medikamente abzufragen. Es reicht auch nicht, ihm bei einer etwaigen Ausreise einen Übergangsvorrat mitzugeben.

Darüber hinaus wäre der Kläger zu 1. auch finanziell nicht in der Lage, sich im Kosovo alle Medikamente, ihre jederzeitige Verfügbarkeit unterstellt, zu beschaffen. Aufgrund seiner Erkrankung und seines Alters von 66 Jahren kann nicht angenommen werden, dass er bei einer Rückkehr in den Kosovo in der Lage sein wird, seinen Lebensunterhalt aus eigener Erwerbstätigkeit zu bestreiten. Die Arbeitslosenquote wird auf 45 % geschätzt (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 29. November 2007). Hinzu kommt, dass er, wenn seine hilflose Ehefrau, die Klägerin zu 2., mit ausreisen würde, auch für diese sorgen müsste. Hierzu ist er schon in Deutschland nicht alleine in der Lage, wie oben ausgeführt worden ist. Auch die Ehefrau braucht eine Vielzahl von Medikamenten, deren Beschaffung alleine dem Kläger zu 1. in tatsächlicher und finanzieller Hinsicht obläge. Mit alledem wäre er angesichts der schwierigen Verhältnisse im Kosovo überfordert. Daher ist zu befürchten, dass er und seine Ehefrau schon bald nach ihrer Rückkehr in den Kosovo gesundheitlich schweren Schaden nehmen würden und ihr Leben bedroht wäre. Dies rechtfertigt auch im Falle, des Klägers zu 1. ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG für den Kosovo. [...]