VG Hannover

Merkliste
Zitieren als:
VG Hannover, Gerichtsbescheid vom 19.12.2008 - 5 A 2179/08 - asyl.net: M15201
https://www.asyl.net/rsdb/M15201
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung einer tamilischen Volkszugehörigen aus Sri Lanka wegen der Gefahr der Verhaftung aufgrund des Generalverdachts der Unterstützung der LTTE.

 

Schlagwörter: Sri Lanka, Rechtsschutzbedürfnis, Flüchtlingsanerkennung, Abschiebungshindernis, Sicherheitslage, Verdacht der Unterstützung, LTTE, Tamilen, Anti-Terrorismus-Gesetz, Colombo, Verhaftung, Inhaftierung, interne Fluchtalternative
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung einer tamilischen Volkszugehörigen aus Sri Lanka wegen der Gefahr der Verhaftung aufgrund des Generalverdachts der Unterstützung der LTTE.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Im Übrigen ist die Klage zulässig; insbesondere liegt das Rechtsschutzbedürfnis vor. Zwar hat das Bundesamt mit Bescheid vom 04.04.2008 festgestellt, dass bei der Klägerin ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Sri Lanka vorliegt. Nach der seit Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes zum 01.01.2005 bestehenden Gleichbehandlung der Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG in § 25 Abs. 3 und § 59 Abs. 3 AufenthG besteht kein Rangverhältnis mehr zwischen den Abschiebungsverboten, so dass bei Vorliegen eines Abschiebungsverbots (hier nach § 60 Abs. 7 AufenthG) die Prüfung eines weiteren Abschiebungsverbots nicht mehr erforderlich ist (vgl. VGH Kassel, Beschl. vom 26.06.2007 - 8 ZU 1463/06.A - <juris>). Vorliegend begehrt die Klägerin jedoch nicht die Feststellung eines weiteren Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2, 3 oder 5 AufenthG, sondern die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG, die zu einem Aufenthaltsrecht nach § 25 Abs. 2 AufenthG führt. Der hierauf gerichteten Klage fehlt somit nicht das Rechtsschutzbedürfnis.

Die Klage ist auch begründet. Die Klägerin hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 1 AufenthG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). [...]

Wie sich aus den Stellungnahmen des Auswärtigen Amtes (Berichte über die asyl- und abschieberechtlichte Lage in Sri Lanka vom 06.10.2008; aber auch vom 05.02.2008 sowie vom 26.06.2007 und 13.03.2007) ergibt, hat sich die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Sri Lanka jedenfalls seit Ende 2006 fortlaufend verschärft. Auch ist damit zu rechnen, dass es zu einer weiteren Zuspitzung der Sicherheitslage kommt. Sie wird nunmehr fast ausschließlich von dem wieder entbrannten ethnischen Konflikt bestimmt. Damit verbunden ist ein erheblicher Anstieg der Anzahl von Menschenrechtsverletzungen. Aus dem Norden und Osten des Landes stammende Tamilen stehen zunehmend im Generalverdacht der Sicherheitskräfte in Sri Lanka. Die staatlichen Verfolgungsmaßnahmen betreffen jeden, der in den Augen der Sicherheitsorgane der Nähe zur LTTE verdächtig ist. Es gibt willkürliche Verhaftungen. Durch die Wiedereinführung der Anti-Terror-Gesetze Ende 2006 ist eine richterliche Überprüfung solcher Festnahmen nicht mehr gewährleistet. Wer verhaftet wird, muss mit vielen Monaten Untersuchungshaft rechnen, bevor überhaupt entschieden ist, ob es zu einer Anklageerhebung kommt. Dabei hat die Verfolgung echter und vermeintlicher LTTE-Anhänger durch die Sicherheitsbehörden zu einer großen Anzahl gravierender Menschenrechtsverletzungen bis hin zur extralegalen Tötung geführt. Dies gilt auch in den bisher ruhigeren Landesteilen wie dem Großraum Colombo. Es kommt wöchentlich zu Razzien mit teilweise Hunderten von Festnahmen, vor allem bei

Tamilen, so dass es - entgegen der Einschätzung des Bundesamtes - nicht an der erforderlichen Verfolgungsdichte fehlt.

Auch gibt es derzeit innerhalb Sri Lankas keine sicheren Ausweichgebiete mehr (siehe auch VG Koblenz, Urt. vom 04.04.2008 -1 K 83/08.KO - <juris>). Die Gefahr, von einer willkürlichen Verhaftung betroffen zu werden, trifft insbesondere auf rückgeführte, abgelehnte Asylbewerber zu. Diese sind daher derzeit vor einer Verfolgung nach ihrer Rückkehr nicht sicher (so auch VG Düsseldorf, Urt. vom 24.09.2008 -18 K 5212/08.A - <juris>; vgl. auch VG Stuttgart, Urt. vom 30.10.2008 - A 4 K 618/08 -).

Aufgrund der vom Auswärtigen Amt geschilderten Gesamtsituation ist auch bei der Klägerin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, aufgrund ihrer Herkunft aus den nördlichen Landesteilen und ihrer tamilischen Volkszugehörigkeit bei Rückkehr in ihr Heimatland mit einer Verhaftung und den vom Auswärtigen Amt beschriebenen menschenrechtswidrigen Behandlungen rechnen zu müssen, weil sie nicht aus individuellen Gründen, sondern generell als Tamilin der Nähe zur LTTE verdächtigt werden wird. Aus der vom Bundesamt in Bezug genommenen Entscheidung des EGMR (Urt. vom 17.07.2008 - 25904/07 - <juris>) ergibt sich nichts anderes. Dieses Urteil betrifft die Vorschrift des Art. 3 EMRK und daher der Sache nach ein Abschiebungsverbot im Sinne von § 60 Abs. 2 AufenthG (Verbot der Folter oder anderer menschenrechtswidriger Behandlung). Hier aber ist Anknüpfungspunkt für die Annahme einer Verfolgungswahrscheinlichkeit das Merkmal der Herkunft und Volkszugehörigkeit. Daher ist das etwaige Fehlen weiterer individueller Anknüpfungspunkte, die die Klägerin zusätzlich in die Nähe der LTTE bringen könnten, unschädlich. Auch kann die Klägerin obigen Ausführungen zufolge derzeit nicht in anderen Teilen des Landes hinreichend sicher sein, so dass die auf Flüchtlingsanerkennung gerichtete Klage Erfolg hat. [...]