VG Lüneburg

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Zitieren als:
VG Lüneburg, Urteil vom 11.12.2008 - 3 A 73/08 - asyl.net: M15206
https://www.asyl.net/rsdb/M15206
Leitsatz:

Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK für iranischen Staatsangehörigen wegen exilpolitischer Betätigung für die SPI.

 

Schlagwörter: Iran, Folgeantrag, Änderung der Sachlage, SPI, Sozialistische Partei Irans, Vorstandsmitglied, Regimegegner, exilpolitische Betätigung, Nachfluchtgründe, subjektive Nachfluchtgründe, Anerkennungsrichtlinie, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, menschenrechtswidrige Behandlung, Folter, EMRK
Normen: AsylVfG § 71 Abs. 1; VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 5; EMRK Art. 3; AsylVfG § 28 Abs. 2; AsylVfG § 28 Abs. 1a; RL 2004/83/EG Art. 5 Abs. 3
Auszüge:

Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK für iranischen Staatsangehörigen wegen exilpolitischer Betätigung für die SPI.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die im Übrigen aufrecht erhaltene Klage ist nur zum Teil begründet.

1. Der Kläger zu 1. hat keinen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG, es liegt bei ihm jedoch ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich des Iran vor.

a) Nach § 71 Abs. 1 AsylVfG ist bei Stellung eines erneuten Asylantrages nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrages ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen. [...]

Entgegen der Annahme in dem angefochtenen Bescheid hat der Kläger zu 1. jedoch innerhalb der Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG Umstände im oben genannten Sinne dargetan, denn er hat vorgetragen, seit ... Vorstandsmitglied der Sozialistischen Partei Irans - SPI - und deshalb den iranischen Stellen als ernsthafter Regimegegner bekannt geworden zu sein.

Sind die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nach Auffassung des im Asylfolgeverfahren angerufenen Verwaltungsgerichts erfüllt, so darf es die Sache nicht zur Entscheidung an das Bundesamt "zurückverwiesen", sondern muss über den geltend gemachten Anspruch selbst entscheiden (BVerwG, Urt. v. 10.02.1998 - 9 C 28.97 BVerwGE 106, 171 = NVwZ 1998, 861).

b) Der Kläger zu 1. hat keinen Anspruch auf die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG und Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG (in der Fassung des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der EU vom 19. August 2007, Bundesgesetzblatt I Seite 1970).

Das Begehren des Klägers ist im Wesentlichen auf Umstände gestützt, die er aus eigenem Willensentschluss nach unanfechtbarer Ablehnung des Asylerstantrages selbst geschaffen hat. Damit ist ein Fall des § 28 Abs. 2 AsylVfG gegeben, wonach in einem Folgeverfahren in der Regel die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt werden kann, wenn der Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung seines Asylantrages erneut einen Asylantrag stellt und diesen auf Umstände stützt, die er nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung seines früheren Antrags selbst geschaffen hat.

Diese Regelung ist in dem vorliegenden Folgeverfahren anwendbar, weil darin keine echte Rückwirkung sondern eine tatbestandliche Rückanknüpfung zu sehen ist (Bayer. VGH, Beschl. v. 05.09.2007 - 14 B 05.31561 -, juris, m.w.N, zur Vorgängerregelung).

§ 28 Abs. 1 a AsylVfG, der durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien vom 19.08.2007 eingefügt worden ist, steht der Regelung des § 28 Abs. 2 AsylVfG n.F. nicht entgegen. Diese Bestimmung trägt Art. 5 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2004/83/EG vom 29.04.2004 (so genannte Qualifikationsrichtlinie) Rechnung und stellt klar, dass die Verfolgungsgefahr auch auf Ereignissen und Aktivitäten des Ausländers beruhen kann, die nach der Ausreise aus dem Herkunftsland entstanden sind. Sie knüpft auch an die nach der Rechtsprechung zu § 28 Abs. 2 AsylVfG a.F. anerkannte Ausnahme für den Fall der "im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung" an.

§ 28 Abs. 2 AsylVfG verstößt ferner nicht gegen Art. 5 der Richtlinie 2004/83/EG vom 29.04.2004 in Verbindung mit den Regelungen der Genfer Flüchtlingskonvention. Denn nach Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie ist den Mitgliedsstaaten die Möglichkeit eingeräumt, festzulegen, dass ein Antragsteller, der einen Folgeantrag stellt, in der Regel nicht als Flüchtling anerkannt wird, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, welche er nach Verlassen des Herkunftslandes selbst geschaffen hat. Von dieser Öffnungsklausel hat der Gesetzgeber in § 28 Abs. 2 AsylVfG Gebrauch gemacht.

Anhaltspunkte, die ein Abweichen von den in § 28 Abs. 2 AsylVfG vorgeschriebenen Regelausschluss hier rechtfertigen könnten, sind nicht ersichtlich. Hinweise darauf, dass die exilpolitische Betätigung des Klägers Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung und Ausrichtung sind, fehlen. Nach den bestandskräftigen Feststellungen in dem Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 6. März 2003 und den Ausführungen in dem Urteil des Einzelrichters der 6. Kammer des erkennenden Gerichts vom 24. Mai 2004 (Az: 6 A 95/03) sind die Darlegungen des Klägers zu 1. zur Vorverfolgung im Heimatland nicht glaubhaft gewesen. Er ist danach nicht vorverfolgt ausgereist. Bei der Anhörung im Asylerstverfahren vom 9. Januar 2003 in Oldenburg hat er sogar ausdrücklich darauf hingewiesen, er sei im Iran weder politisch aktiv noch Mitglied irgendeiner Partei gewesen. Zudem hat er nicht vorgetragen, dass seine exilpolitischen Aktivitäten sich als Ausdruck und Fortführung einer schon während des Aufenthaltes im Heimatland vorhandenen und erkennbar betätigten Überzeugung darstellen.

c) Der Kläger zu 1. hat Anspruch auf Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 5 AufenthG.

Ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 28 Abs. 2 AsylVfG ausgeschlossen, so ist der Betroffene nicht schutzlos, sondern ihm ist weiterhin die Berufung auf den Schutz nach § 60 Abs. 2 bis 5 und 7 AufenthG möglich, soweit - wie hier - die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens im Hinblick hierauf nach § 51 Abs. 1 - 3 VwVfG vorliegen. [...]

Die Voraussetzungen für die Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 5 AufenthG sind hier gegeben.

Danach darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl 1952 II Seite 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Art. 3 EMRK verbietet die Abschiebung in diejenigen Staaten, in denen dem Ausländer eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, insbesondere Folter, droht. [...]

Die Gefahr erheblicher Sanktionen exilpolitisch aktiver Immigranten besteht nach der Rechtsprechung (vgl. Nds. OVG, Besch), v. 02.05.2008 - 4 LA 183/08; Urt. v. 22.06.2005 - 5 LB 51/02 -; Bayer. VGH, Urt. v. 13.06.2007 - 14 B 05.30354 -, juris, jew. m.w.N.) nur für solche Personen aus dem Iran, die bei ihren Aktivitäten besonders hervortreten und deren Gesamtverhalten sie den iranischen Stellen als ernsthafte, auf die Verhältnisse im Iran einwirkende Regimegegner erscheinen lassen. Danach reicht nicht bereits die exilpolitische Betätigung als solche aus, sondern die exilpolitische Tätigkeit muss den Sicherheitsbehörden des iranischen Staates bekannt geworden und außerdem anzunehmen sein, dass die Sicherheitsbehörden diese Tätigkeit als erhebliche, den Bestand des Staates gefährdende oppositionelle Aktivitäten bewerten. Das ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles zu prüfen und nur dann zu bejahen, wenn der Ausländer sich bei seinen Aktivitäten persönlich exponiert hat; eine einfache Mitgliedschaft in oder die Teilnahme an Veranstaltungen der von den Staatssicherheitsbehörden im Iran für oppositionell und regimefeindlich gehalten Organisationen führt noch nicht zu einer Einstufung als Gegner des iranischen Staates (Nds. OVG, Urt. v. 22.06.2005 - 5 LB 51/02 - und bestätigend: Beschl. v. 02.05.2008 - 4 LA 183/08 -). Die Rechtsprechung geht dabei davon aus, dass der iranische Geheimdienst exilpolitische Aktivitäten von iranischen Asylbewerbern in Deutschland beobachtet und auch grundsätzlich in der Lage ist, sie aufgrund von Namensnennungen und der Veröffentlichung von Lichtbildern zu identifizieren (Bayer. VGH, a.a.O.).

Diese Einschätzung deckt sich mit der des Auswärtigen Amtes, welches in seinem Lagebericht vom 18. März 2008 davon ausgeht, dass zwar allein das Stellen eines Asylantrages nicht zu staatlichen Repressionen führt, iranische Stellen die im Ausland tätigen Oppositionsgruppen aber genau beobachten, allerdings auch davon ausgehen, dass viele iranische Asylbewerber in Deutschland Oppositionsaktivitäten entwickeln, um einen Nachfluchtgrund geltend machen zu können.

Unter Würdigung aller vom Kläger zu 1. vorgetragenen Aktivitäten hebt seine exilpolitische Betätigung ihn aus dem Kreis anderer Asylbewerber aus dem Iran heraus und lässt ihn als ernsthaften Regimegegner im oben genannten Sinn erscheinen.

Die Sozialistische Partei Iran - Socialist Party of Iran - (SPI) ist eine Nachfolgeorganisation der Organisation "Committee in Defence of Struggle". ... leitet seit vielen Jahren von ... aus die Partei als Generalssekretär und hat selbst einen linksextremistischen Hintergrund, er war früher Volksmudjahedin und ist eine in der exilpolitischen iranischen Szene sehr bekannte Persönlichkeit (DOl, Auskunft an VG Schleswig-Holstein vom 17.5.2006, Kompetenzzentrum Orient Okzident Mainz, Auskunft vom 3.11.2006 an VG Schleswig-Holstein). Die Partei ist vor allem in Deutscnland und der Schweiz, aber auch in Großbritannien, Finnland, Schweden und der Türkei aktiv. Sie hat hier etwa 2000 bis 2300 Mitglieder (Kompetenzzentrum Orient Okzident Mainz, a.a.O).

Die Bedeutung der Partei Im Iran und die Frage, ob bestimmte exilpolitische Aktivitäten für diese Partei geeignet sind, Verfolgungsmaßnahmen bei der Einreise in den Iran auszulösen, werden allerdings vom Deutschen Orientinstitut und vom Kompetenzzentrum Orient Okzident Mainz unterschiedlich bewertet.

Während letzteres Einzelaktivitäten für die SPI für verfolgungsrelevant hält, weil die SPI eine ausdrücklich marxistische Gruppe sei, die für einen versöhnungslosen bewaffneten Kampf gegen die Islamische Republik Iran eintrete (Kompetenzzentrum Orient Okzident Mainz, Auskunft vom 3.11.2006 an VG Schleswig-Holstein), hält das Deutsche Orientinstitut die Teilnahme an Einzelaktivitäten der SPI nicht für verfolgungsrelevant, weil die SPI eine rein exiloppositionelle Angelegenheit sei, die in den Iran hinein keine Beziehungen aufweise und deren Bedeutung sich ausschließlich in exilpolitischen Aktivitäten und der Beförderung europäischer Zwecke ihrer Mitglieder erschöpfe (DOI, Auskunft an VG Schleswig-Holstein vom 17.5.2006). Allerdings räumt das Deutsche Orientinstitut in seiner Auskunft ein, "dass es - ausnahmsweise - auch einmal anders laufen kann, wenn irgendein unerwünschter und auch im Moment des Zustandekommens unerkannter Kontakt Informationen nach Iran hineinbringen würde".

Unter Berücksichtigung dieser Auskunftslage ist der Kläger unter Gesamtwürdigung aller Umstände mit hinreichender Wahrscheinlichkeit bei der Rückkehr in den Iran einer Verfolgungsgefahr ausgesetzt.

Er hat nicht nur an Einzelaktivitäten der SPI teilgenommen, sondern ist seit ... Mitglied des Vorstandes einer der vier in Deutschland bestehenden Sektionen der SPI. Der Vorstand der ... Sektion umfasst nach Angaben des in der mündlichen Verhandlung anwesenden und hierzu befragten Herrn Personen, zu denen der Kläger zu 1. gehört. Er ist damit auch automatisch Mitglied des Koordinationsrates und Hauptverantwortlicher für .... Er hat ferner bei Demonstrationen und Veranstaltungen Reden gehalten und engagiert sich zudem in der SPI, indem er Plakate und Transparente anfertigt, wobei ihm seine besondere künstlerische Begabung zugute kommt. Von ihm gezeichnete Karikaturen sind in exilpolitischen Schriften und im Internet veröffentlicht worden. Eine der vorgelegten Karikaturen, die der Kläger gefertigt und mit seinem Namen versehen hat, wird nach seinen Angaben als Vorbild bei vielen Internetauftritten und Veröffentlichungen mit regimekritischem Inhalt verwendet. Die Karikatur zeigt ....

Unter Berücksichtigung aller vom Kläger geschilderten Aktivitäten und der besonderen Position, die er innerhalb der SPI inne hat, sowie der Verbreitung der von ihm gefertigten Karikatur ist davon auszugehen, dass er den iranischen Sicherheitsbehörden bekannt geworden ist und von diesen als ernsthafter Regimegegner angesehen wird. Das gilt unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalles, obwohl die Ausführungen des Kläger zu 1. zu den Zielen der Partei in der mündlichen Verhandlung wenig detailliert gewesen sind und die SPI in ... und im ... Raum offenbar über eine erhebliche Anzahl von Funktionsträgern verfügt (vgl. dazu: VG Hamburg, Urteil vom 18.03.2008 - 10 A 152/07 -, Urteile der 6. Kammer des VG Lüneburg vom 09.02.2004 - 6 A 71/03 und 6 A 162/03 Urteil vom 28.11.2002 - 6 A 358/01 -). [...]