VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 16.01.2009 - 4 A 129/07 - asyl.net: M15207
https://www.asyl.net/rsdb/M15207
Leitsatz:
Schlagwörter: Syrien, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Jesiden, Gruppenverfolgung, Änderung der Sachlage, Änderung der Rechtsprechung, Umdeutung, Rücknahme, Ermessen
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; VwVfG § 48; VwVfG § 49
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage ist begründet. Der Widerruf von Abschiebungsverboten nach § 51 Abs. 1 AuslG und die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 AufenthG nicht vorliegen, sind rechtswidrig und verletzen die Kläger in ihren Rechten. [...]

1. Die Beklagte hat die Kläger auf der Grundlage des bei ihrer Anhörung geschilderten Sachverhalts als Flüchtling anerkannt und damit auch das individuelle Verfolgungsschicksal zur Entscheidungsgrundlage gemacht. Die Kläger haben im Rahmen ihrer Anhörung die Übergriffe der Araber geschildert. Eine nachträgliche Veränderung der Verhältnisse liegt nicht vor. Die Kläger haben ihren Vortrag im nachfolgenden Gerichtsverfahren lediglich vertieft und die dort behaupteten Übergriffe detailliert geschildert. Das Verwaltungsgericht hat in seinem Urteil vom 23. September 1999 (4 A 4041/98) das geschilderte Verfolgungsschicksal lediglich anders als die Beklagte als nicht asylrelevant bewertet. Mithin liegen keine neuen Erkenntnisse der Beklagten vor, die einen Widerruf rechtfertigen würden.

2. Die Kläger sind seinerzeit auch wegen ihrer jesidischen Glaubenszugehörigkeit als Gruppenverfolgte nach § 51 Abs. 1 AuslG anerkannt worden. Die Entscheidung der Beklagten folgte der Rechtsprechung des Nds. OVG, die erst im Jahre 1999 geändert wurde, und erkannte die Kläger als abschiebungsschutzberechtigt an. Die Beklagte hat ihre Widerrufsentscheidung mit der Darstellung der aktuellen Lage der in Syrien lebenden Jesiden begründet.

Eine grundlegende Veränderung der Verfolgungssituation für Jesiden in Syrien, die eine Widerrufsentscheidung nach § 73 Abs. 1 AsylVfG voraussetzt, ist seit der Anerkennung der Kläger 1998 nicht eingetreten. Vielmehr hat sich lediglich die Beurteilung der Verfolgungssituation der Jesiden durch die Rechtsprechung - ohne Veränderung der Verhältnisse - geändert. Das Nds. OVG hat in den seine vorherige Rechtsprechung ändernden Urteilen vom 22. Juni 1999 (- 2 L 666/98 - für Jesiden aus dem Nordwesten) und vom 14. Juli 1999 (- 2 L 4943/97 - für Jesiden aus dem Nordosten Syriens) feststellt, dass Jesiden zwischen 1990 bis 1999 (Nordwesten) bzw. zwischen 1989 und 1999 (Nordosten) keiner unmittelbaren oder mittelbaren Gruppenverfolgung unterlagen. Seither geht das Nds. OVG in seiner Rechtsprechung (vgl. etwa Urt. v. 27. März 2000 - 2 L 5117/97), der die Kammer folgt, bis heute davon aus, dass Angehörige der jesidischen Glaubensgemeinschaft in Syrien weder einer unmittelbaren noch einer mittelbaren Gruppenverfolgung unterliegen. Auch das VG Hannover hat in einem mit dem vorliegenden Verfahren vergleichbaren Fall mit Urteil vom 11. März 2008 (2 A 5757/06) festgestellt, dass in dem Zeitraum 1996 bis 1998 die Verfolgungssituation der Jesiden in Syrien nicht die Intensität erreicht hatte, die für die Bejahung einer Gruppenverfolgung erforderlich ist.

Der angefochtene Widerrufsbescheid kann nicht auf §§ 48,49 VwVfG gestützt und entsprechend nach § 47 Abs. 1 VwVfG umgedeutet werden, weil die Rücknahme bzw. der Widerruf und die Umdeutung eine behördliche Ermessensausübung voraussetzen, die vom Bundesamt in dem als gebundene Entscheidung ergangenen Widerrufsbescheid nicht vorgenommen wurde. Anhaltspunkte für eine Ermessensreduzierung auf Null, so dass die fehlende Ermessensentscheidung unschädlich wäre, bestehen jedenfalls nicht. Vielmehr dürfte die nachträgliche Korrektur der Flüchtlingsanerkennung schon wegen des Vertrauensschutzes kaum in Betracht kommen. [...]