VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 08.01.2009 - 1 K 4267/05.A - asyl.net: M15209
https://www.asyl.net/rsdb/M15209
Leitsatz:
Schlagwörter: Russland, Tschetschenien, Tschetschenen, Folgeantrag, neue Beweismittel, Deutsch-Kaukasische Gesellschaft, Änderung der Sachlage, exilpolitische Betätigung, Überwachung im Aufnahmeland, Demonstration, bewaffneter Konflikt, ernsthafter Schaden, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, psychische Erkrankung, Panikstörung, Anpassungsstörung, Depression, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, Suizidgefahr, Gefahrenbegriff, beachtliche Wahrscheinlichkeit, fachärztliche Stellungnahmen
Normen: AsylVfG § 71 Abs.1; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7; RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c; VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1; VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 2
Auszüge:

[...]

Die Klage ist unbegründet. [...]

1) Die Kläger haben nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung, § 77 Abs. 1 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG), keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach §§ 3 Abs. 1, 31 Abs. 2 AsylVfG, da bei ihnen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen. [...]

Zunächst liegen keine neuen Beweismittel im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG vor. Bei der insoweit von den Klägern ins Feld geführten - sogenannten - Auskunft der Deutsch-Kaukasischen Gesellschaft vom 20. Januar 2005 handelt es sich nicht um ein Beweismittel, da sie nicht geeignet ist, das Vorliegen oder Nichtvorliegen einer Tatsache zu beweisen (vgl.: Kopp/Ramsauer, Verwaltungsverfahrensgesetz, Kommentar, 10. Aufl., Rn. 32a zu § 51).

Sie stellt lediglich die schriftliche Meinungsäußerung einer dem Kläger zu 1) politisch nahe stehenden Organisation dar. Für die Frage der inhaltlichen Richtigkeit gibt sie nichts her. Deshalb lässt sich auch auf die von dieser "Auskunft" abgeleiteten Verfolgungserwägungen des Klägers zu 1) kein Wiederaufnahmebegehren stützen.

Ebenso wenig kann von einer nachträglichen Änderung der Sachlage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG die Rede sein. Die insoweit vorgetragene Teilnahme des Klägers zu 1) an der Kundgebung vom ... 2004 in ... begründet nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eine politische Verfolgungsgefahr bei Rückkehr in die Russische Föderation. Es ist nicht überwiegend wahrscheinlich, sondern lediglich nicht auszuschließen, dass sich russische Stellen über Aktivitäten tschetschenischer Volkszugehöriger im Ausland kundig machen (so: amnesty international vom 28. Februar 2008 gegenüber VG Köln).

Selbst wenn man jedoch davon ausginge, dass die Kundgebungsteilnahme sowie der Umstand, dass der Kläger zu 1) Gründungsmitglied von ... war, den russischen Behörden bekannt geworden ist und er sich somit in deren Augen in der Tschetschenienfrage engagiert hat, löste dies im Rückkehrfalle bei diesen Behörden allenfalls "besondere Aufmerksamkeit" aus (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (Stand: Oktober 2008), S. 26). Das bedeutet nach der vom Gericht eingeholten Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 26. Februar 2008 (508-516.80/45630), dass kurzfristige Festnahmen und längere Befragungen (sog. "vorbeugende Befragungen") durch die Polizei möglich bzw. nicht auszuschließen sind, um eventuelle Kontakte zu gewalttätigen Kämpfern aufzudecken. Abgesehen davon, dass solche Maßnahmen jedenfalls nicht überwiegend wahrscheinlich, sondern nur möglich bzw. nicht auszuschließen sind, fehlt ihnen außerdem die nötige Intensität im Sinne von Art. 9 Qualifikationsrichtlinie.

2. Auch der Hilfsantrag ist unbegründet. [...]

a) Das bei sachdienlicher Auslegung des Verpflichtungsantrags in erster Linie zu prüfende Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG (so: BVerwG, Urteil vom 24. Juni 2008 - 10 C 43.07 - juris) greift nicht ein, da die Kläger in der Russischen Föderation nicht als Angehörige der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt sind. Zwar ist eine dauerhafte Befriedung der Lage in Tschetschenien noch nicht eingetreten. Doch haben in den vergangenen zwei Jahren Razzien, "Säuberungsaktionen", Plünderungen und Übergriffe durch pro-russische Sicherheitskräfte, aber auch Guerilla-Aktivitäten und Geiselnahmen der Rebellen deutlich abgenommen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (Stand: Oktober 2008), S. 16).

Unter diesen Umständen ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass gerade die Kläger bei einer Rückkehr nach Tschetschenien innerstaatlichen bewaffneten Konflikten ausgesetzt wären.

b) Nach der hilfsweise (so: BVerwG, Urteil vom 24. Juni 2008 - 10 C 43.07 -, a.a.O.) zu prüfenden Vorschrift des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. [...]

Diese Voraussetzungen sind bei der insoweit allein in den Blick zu nehmenden Klägerin zu 2) nicht erfüllt.

Nach dem vom Gericht eingeholten psychiatrischen Gutachten des Facharztes für Neurologie, Psychiatrie und Forensische Psychiatrie Dr. ... vom 08. Oktober 2007 (Sachverständigengutachten) leidet die Klägerin zu 2) an einer psychiatrisch-psychotherapeutisch und medikamentös ambulant behandlungsbedürftigen Panikstörung (ohne Agoraphobie) und an einer Anpassungsstörung mit depressiver Reaktion. Der Gutachter hält in psychotherapeutischer Hinsicht eine intensive kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlung im Umfange von zunächst etwa 50 Therapiesitzungen zu je 50 Minuten für erforderlich. Danach müsse eine eventuell erforderliche Weiterbehandlung je nach Behandlungserfolg neu geprüft werden. Die medikamentöse Behandlung solle vorzugsweise mit einem Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer oder einem Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer in ausreichend hoher Dosierung über einen geeignet langen Zeitraum erfolgen. Auch hält der Gutachter dafür, dass es ohne die adäquate Behandlung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu einer weiteren Chronifizierung und Verschlechterung der psychischen Erkrankung komme.

Das Gericht hat keinen Anlass, an der Richtigkeit dieser Diagnose und des Therapievorschlags zu zweifeln. Doch selbst wenn die Folgen des Unterlassens der für notwendig gehaltenen Behandlung eine erhebliche Verschlimmerung im Sinne einer Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität (so: BVerwG, Beschluss vom 25. Mai 2006 - 1 B 118.05 -) bedeuteten, wäre nicht überwiegend wahrscheinlich, dass die Klägerin zu 2) die nötige Behandlung in der Russischen Föderation tatsächlich nicht erhielte. Nach der im vorliegenden Verfahren eingeholten Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 26. Februar 2008 (508-516.80/45630) hat die Klägerin zu 2) wie jeder russische Staatsangehörige an seinem registrierten Wohnort ein grundsätzliches Anrecht auf kostenlose medizinische Versorgung. Allerdings sei es im öffentlichen Gesundheitssystem üblich, an Ärzte und medizinisches Personal "freiwillige Zahlungen" zu leisten. Zudem seien Medikamente in den meisten Fällen von den Patienten zu bezahlen. Das Gericht hat keinen Anlass, an der Richtigkeit dieser Auskunft zu zweifeln. Da die Klägerin zu 2) mit ihrer Familie vor ihrer Ausreise etwa sechs Jahre in Moskau gelebt hat, ist davon auszugehen, dass sie dort "registriert" war. Dass ihr oder dem Kläger zu 1) die nötigen finanzielle Mittel für notwendige "freiwillige Zahlungen" und/oder für die o.g. Medikamente nach Rückkehr nicht zur Verfügung stünden, ist nicht vorgetragen, geschweige glaubhaft gemacht.

Abgesehen davon ist auch nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erkennbar, dass der Klägerin zu 2) die - hier unterstellte - erhebliche Verschlimmerung alsbald nach der Rückkehr im Sinne einer konkreten Gefahr drohte. Der Gutachter hat die darauf bezogenen Beweisfragen des Gerichts:

"Führte diese Verschlimmerung zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben? In welchem zeitlichen Abstand nach der Rückkehr drohte eine derartige Gefahr?"

wie folgt beantwortet (Sachverständigengutachten S. 48/49):

"Aufgrund der Komplexität des psychischen Erlebens und menschlicher Reaktionsweisen in einer subjektiv sehr belastenden Lebenssituation können genaue Wahrscheinlichkeiten für das mögliche Auftreten akuter Suizidalität aus fachärztlich-psychiatrischer Sicht nicht angegeben werden. Dies gilt aus unserer Sicht noch deutlicher für die Frage des zeitlichen Abstands des Auftretens von eventuell auftretender akuter Suizidalität nach einer eventuellen Rückkehr in die Russische Föderation für den Fall, dass eine Behandlung dort ganz oder teilweise unterbliebe. Dies kann aus unserer Sicht mit gleichen Wahrscheinlichkeiten nach Tagen, nach Wochen und auch nach vielen Monaten auftreten."

Unter dessen Umständen sowie im Hinblick darauf, dass der Gutachter im Weiteren (S. 49) die aus seiner fachärztlich-psychiatrischen Sicht für und gegen eine akute Suizidalität sprechenden Umstände ohne Gewichtung nur auflistet, fehlt es dem Gericht an objektiven Anhaltspunkten dafür, dass - im Sinne eines Überwiegens - mehr für als gegen eine alsbaldige erhebliche Leidensverschlimmerung nach Rückkehr in die Russische Föderation spricht. Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil die Klägerin zu 2), wie von ihr in der mündlichen Verhandlung eingeräumt wurde, auch in Deutschland die vom Gutachter für unbedingt erforderlich gehaltene Verhaltenstherapie nicht in Anspruch genommen hat, ohne dass sich daraus für sie eine erhebliche Leidensverschlimmerung ergeben hätte. [...]