VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Urteil vom 23.12.2008 - A 5 K 1756/08 - asyl.net: M15214
https://www.asyl.net/rsdb/M15214
Leitsatz:

Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung hinsichtlich der Demokratischen Republik Kongo für 12-jähriges Kind.

 

Schlagwörter: Demokratische Republik Kongo, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Versorgungslage, medizinische Versorgung, Malaria, Infektionsgefahr, Kinder, Magen-Darm-Erkrankung, Alter
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung hinsichtlich der Demokratischen Republik Kongo für 12-jähriges Kind.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die Klage auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung, dass bei der Klägerin Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich der Demokratischen Republik Kongo vorliegen, ist zulässig und begründet. [...]

Bei den typischen Folgen der schlechten wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen in der Demokratischen Republik Kongo (mangelhafte Versorgungslage, unzureichendes Gesundheitssystem, Arbeitslosigkeit) wie Unterernährung, Krankheit und Tod handelt es sich um eine allgemeine Gefahrenlage im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG, bei der nur ausnahmsweise im Falle einer für den einzelnen Ausländer extrem zugespitzten Gefahrenlage Abschiebungsschutz ohne politische Leitentscheidung nach § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt werden darf.

Zur Grundversorgung in der Demokratischen Republik Kongo äußert sich das Auswärtige Amt im Lagebericht vom 01.02.2008 wie folgt:

"Ohne familiäre Bindung oder sonstige Unterstützung kann die Sicherung einer Existenzgrundlage für Rückkehrer schwierig bis unmöglich sein. Der überwiegende Teil der kongolesischen Bevölkerung lebt am Rande des Existenzminimums. Auch innerhalb der Großfamilie gelingt es nicht immer, Härten durch wechselseitige Unterstützung aufzufangen. Die Stadtbevölkerung in Kinshasa ist in der Lage, mit städtischer Kleinstlandwirtschaft und Kleinviehhaltung die Grundversorgung mit Nahrungsmitteln zu sichern. Vor allem Frauen und Kinder tragen mit Kleinsthandel zum Familienunterhalt bei. Die Versorgung mit Lebensmitteln ist für die Bevölkerung in Kinshasa und in den übrigen Landesteilen zwar schwierig, dank verschiedener Überlebensstrategien herrscht jedoch keine akute Unterversorgung."

Zur medizinischen Versorgung der Bevölkerung in der Demokratischen Republik Kongo führt das Auswärtigen Amtes im Lagebericht vom 01.02.2008 aus:

"Das Gesundheitswesen ist nach wie vor in sehr schlechtem Zustand. Staatliche Krankenhäuser waren schon vorder Rebellion und den Plünderungen von 1998 heruntergewirtschaftet bzw. geplündert, und die Hygiene ist, vor allem bei komplizierten Eingriffen, unzureichend. Der Großteil der Bevölkerung kann nicht hinreichend medizinisch versorgt werden. [...] Ein funktionierendes Krankenversicherungssystem existiert nicht. In der Regel zahlen Arbeitgeber die Behandlungskosten ihrer Beschäftigten. Die Behandlungskosten Arbeitsloser werden unter erheblichen Anstrengungen von der Großfamilie aufgebracht. Nur wenn die notwendigen Geldmittel zur Verfügung stehen, können die meisten in der Demokratischen Republik Kongo vorkommenden Krankheiten diagnostiziert und mit Einschränkungen fachgerecht behandelt werden. Für zahlungskräftige Patienten stehen hinreichend ausgestattete private Krankenhäuser und fachkundige Ärzte zur Verfügung. Ebenso gibt es in Kinshasa einen Pharmagroßhandel, der gegen Bezahlung binnen weniger Tage so gut wie alle auf dem europäischen Markt zur Verfügung stehenden Medikamente auch nach Kinshasa liefern kann."

Die angespannte Versorgungslage und das unzureichende Gesundheitswesen begründen - ohne weitere Besonderheiten in der Person des Betroffenen - keine extreme Gefährdungslage für Leib, Leben oder Freiheit aller ausreisepflichtigen Kongolesen (vgl. dazu bereits VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 24.07.2003 - A 6 S 971/01 - und Urteil vom 13.11.2002 - A 6 S 967/01 -; VG Freiburg, Beschlüsse vom 15.07.2003 - A 1 K 10104/03 - und vom 15.08.2003 - A 1 K 11051/03 -; siehe auch OVG Bautzen, Urteil vom 26.11.2003 - 5 B 1022/02.A -; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 18.04.2002 - 4 A 3113/95.A -; OVG Niedersachsen, Beschluss vom 26.04.2002 - 1 L 4821/98 -; OVG Schleswig-Holstein, Beschlüsse vom 05.03.2003 - 4 LB 124/02 -, vom 10.02.2003 - 4 L 169/02 -, vom 20.12.2002 - 4 L 195/01 - und vom 16.04.2002 - 4 L 39/02 -; OVG Saarland, Beschluss vom 28.03.2003 - 3 Q 10/02 - sowie Urteil vom 14.01.2002 - 3 R 1/01 -; so auch Hessischer VGH, Urteil vom 09.11.2006 - 3 UE 3238/03.A -, juris, zur Lage nach den Wahlen im Herbst 2006).

Die Überlebenschancen der Betroffenen sind vielmehr abhängig von individuellen Faktoren, insbesondere Alter, Gesundheitszustand, Ausbildung, Improvisationstalent, Durchsetzungsvermögen und familiärem Umfeld (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 24.07.2003 - A 6 S 971/01 - und Urteil vom 13.11.2002 - A 6 S 967/01 -). Aufgrund dessen ist im Einzelfall zu prüfen, ob unter Berücksichtigung aller Umstände für den Rückkehrer eine zugespitzte Gefahrenlage aufgrund der Kumulation ungünstiger Rahmenbedingungen existiert.

Dies ist im Falle der Klägerin zu bejahen. Bei ihr liegen mehrere Risiko erhöhende Faktoren vor, die nach Überzeugung des Gerichts dazu führen, dass sie in der Demokratischen Republik Kongo keine Überlebenschance hätte, so dass eine extreme Gefahr für Leib und Leben im Falle einer Rückkehr bei ihr zu bejahen ist. Die Klägerin ist erst zwölf Jahre alt und damit als Kind besonders gefährdet. Sie kann für ihren Lebensunterhalt nicht selbst sorgen, sondern ist auf die Hilfe anderer angewiesen. Ersparnisse oder Vermögen haben die Klägerin und ihre Großmutter nicht. Wie beide in der mündlichen Verhandlung glaubhaft und detailliert berichtet haben, wissen sie seit Dezember 2006 nichts mehr über den Verbleib ihrer Verwandten, so dass weder Schutz noch Versorgung durch eine Großfamilie erfolgen können. Aufgrund dessen liegt gegenüber dem Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 15.03.2006 - A 7 K 12180/03 - eine grundlegende Änderung der Situation vor.

Die Klägerin ist als zwölfjähriges Kind auch stärker als Erwachsene gefährdet, an Malaria sowie an sonstigen Erkrankungen, insbesondere Infektions- und Magen-Darm-Erkrankungen aufgrund der ungewohnten Keimflora, zu erkranken bzw. daran zu sterben (vgl. dazu auch VG Sigmaringen, Urteil vom 23.05.2002 - A 6 K 12090/00 das ebenfalls in Bezug auf ein zwölfjähriges Mädchen ergangen ist). Ihre Semi-Immunität gegenüber dem Malaria-Erreger dürfte durch den Aufenthalt in Deutschland verloren gegangen sein (vgl. dazu ausführlich: VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 24.07.2003 - A 6 S 971/01 - und Urteil vom 13.11.2002 - A 6 S 967/01 -). Die Klägerin ist mit den Lebensverhältnissen in der Demokratischen Republik Kongo zudem überhaupt nicht vertraut. Als Mädchen ist sie auch in besonderer Weise gefährdet, Opfer sexueller Gewalt zu werden, die gegenüber Frauen und Kindern in der Demokratischen Republik Kongo weit verbreitet ist (vgl. amnesty international, Kongo [Demokratische Republik], Amnesty Report 2008, abrufbar im Internet unter www.amnesty.de). Hinzu kommt, dass sie psychische Probleme hat und ausweislich des Attests der Diplom-Psychologin Dr. ... vom 26.08.2008 an Enuresis Nocturna (nächtliches Bettnässen) leidet.

Von ihrer Großmutter könnte sie auch nicht den notwendigen Schutz und die notwendige Versorgung mit dem zum Überleben Erforderlichen erwarten. Die Großmutter ist selbst über 50 Jahre alt und gehört damit zur Risikogruppe der älteren Leute in der Demokratischen Republik Kongo, in der die durchschnittliche Lebenserwartung nur 45,8 Jahre beträgt (vgl. amnesty international, Kongo [Demokratische Republik], Amnesty Report 2008, abrufbar im Internet unter www.amnesty.de). Die Bevölkerung ab 50 Jahren ist insbesondere von Infektionskrankheiten stärker betroffen als die übrige Bevölkerung, weil die Leistungsfähigkeit des Abwehrsystems zunehmend nachlässt (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 24.07.2003 - A 6 S 971/01 - und Urteil vom 13.11.2002 - A 6 S 967/01 -). Die Großmutter der Klägerin ist zudem gesundheitlich stark beeinträchtigt. Neben einer psychischen Erkrankung (vgl. Attest der Diplom-Psychologin ... vom 13.10.2008) leidet sie an einer Nahrungsmittelunverträglichkeit, die sie durch ein ärztliches Attest der Frau Dr. ... vom 21.08.2008 nachgewiesen hat. Milch, Eier, Bohnen, Zwiebeln, viele Gemüsesorten und alle Sorten Öl außer Olivenöl muss sie meiden. In einer Versorgungssituation, in der es gilt, das tägliche Überleben zu sichern, wäre es ihr nach Überzeugung des Gerichts nicht möglich, ausreichend für sie verträgliche Lebensmittel zu bekommen. Angesichts der gesundheitlichen Beeinträchtigungen und vor dem Hintergrund der hohen Arbeitslosigkeit erscheint es ausgeschlossen, dass die Großmutter der Klägerin - zumal als frühere Bedienstete des Mobutu-Regimes - Arbeit finden kann, die ihr eine Versorgung ihrer Person sowie der Klägerin ermöglichen würde. Bezüglich der fehlenden Versorgung durch die Großfamilie und der Gefahr sexueller Übergriffe gilt das für die Klägerin Ausgeführte entsprechend.

Selbst wenn die oben dargelegten einzelnen Risikofaktoren für sich betrachtet noch nicht die Annahme einer extremen Gefahrenlage für die Klägerin rechtfertigen würden - was offen bleiben kann -, ergibt sich eine extreme Gefahr für die Klägerin aber jedenfalls aus der durch ihr Alter bedingten Erhöhung der Einzelrisiken einerseits und durch die Kumulation mehrerer Risikofaktoren andererseits (zur Kumulation mehrerer Risikofaktoren mit der Folge der Bejahung einer Extremgefahr vgl. auch VG Augsburg, Urteil vom 20.12.2004 - Au 1 K 06.30353 -, juris). [...]