VG Dresden

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Zitieren als:
VG Dresden, Urteil vom 19.12.2008 - A 6 K 30072/03 - asyl.net: M15220
https://www.asyl.net/rsdb/M15220
Leitsatz:

Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 AufenthG nach Iran wegen Erkrankung an Multipler Sklerose.

 

Schlagwörter: Iran, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, Multiple Sklerose, Depression, psychische Erkrankung, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 AufenthG nach Iran wegen Erkrankung an Multipler Sklerose.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die zulässige Klage ist auch begründet. Die Klägerin hat, unter Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 14.01.2003, einen Anspruch auf die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich ihrer Person (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). [...]

Unter Beachtung dieser Grundsätze ist der Einzelrichter in dem hier vorliegenden Einzelfall zu der Überzeugung gelangt, dass die Klägerin im Falle ihrer Rückkehr in den Iran aufgrund ihrer, durch die schriftliche Stellungnahme des sie behandelnden Arztes Dr.med. ... vom 22.02.2007 belegten Erkrankung an fortgeschrittener Multipler Sklerose mit primär-chronischem und progredienten Verlauf sowie den damit einhergehenden psychischen Beeinträchtigungen wie Depression und psychische Erregungszustände, die neben der Grunderkrankung ebenfalls einer ständigen medizinischen Behandlung bedürfen und das Grundleiden verstärken, einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib und Leben im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausgesetzt wäre. Die erforderlichen Medikamente und die notwendige medizinische Behandlung kann die Klägerin zwar grundsätzlich im Iran, zumindest in der Hauptstadt Teheran, erhalten. Sie sind ihr individuell aus finanziellen Gründen jedoch nicht zugänglich. [...]

Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes zur Islamischen Republik Iran vom 18.03.2008 (Stand: Februar 2008, S. 34, Ziff. 1.2) entspricht die medizinische Versorgung in Iran nicht internationalen Anforderungen, ist aber ausreichend bis - vor allem in Teheran - befriedigend. In allen größeren Städten existieren Krankenhäuser. Die Versorgung mit Medikamenten ist weitestgehend gewährleistet; in speziellen Apotheken können Medikamente auch aus dem Ausland bestellt werden. Behandlungsmöglichkeiten auch für schwerste Krankheiten sind zumindest in Teheran grundsätzlich gegeben. Iran verfügt über ein ausgebautes Versicherungswesen, welches prinzipiell auch die Deckung von Krankheitskosten umfasst. Allerdings sind Patienten weiterhin auf hohe Eigenaufwendungen angewiesen, da die Behandlungskosten deutlich die Versicherungsleistungen übersteigen. Ohne dass der Patient massive Vorauszahlungen leistet, findet - zumindest bei größeren Eingriffen - eine Behandlung nicht statt. Alle angestellten Arbeitnehmer unterliegen einer Sozialversicherungspflicht, die Rente, Unfall und Krankheit absichert; freiberuflich tätige Personen müssen sich freiwillig versichern.

Nach der im Urteil des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 04.05.2006 (aaO; an diesem Verfahren waren sowohl die in diesem Verfahren Beklagte wie auch der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten beteiligt) zitierten Erkenntnisquellen, gibt es im Iran auch nicht die Möglichkeit eines kostenfreien Erhalts von Medikamenten. Das iranische Krankenversicherungssystem ist vielfältig und kompliziert. Es gibt zwar eine kostenlose Grundversorgung für Staatsangestellte, eine Art Zwangsversicherungssystem für Angestellte staatlicher Unternehmen und die Möglichkeit privater Krankenversicherungen, die nur einen eingeschränkten Kreis von Leistungserbringern haben. Medikamente müssen aber auch bei krankenversicherten Personen im Allgemeinen selbst bezahlt werden, da nach der Auskunftslage im Iran keine Versicherungen existieren, die eine vollständige Kostenfreiheit bei Arzneimitteln sicherstellen (unter Bezug auf die Auskunft des Deutschen Orient-Instituts an das Verwaltungsgericht Mainz vom 21.06.2005).

Andere Erkenntnisquellen und Auskünfte zu den Möglichkeiten bzw. Bedingungen des Abschlusses einer Krankenversicherung für iranische Staatsangehörige, insbesondere bei längerem Auslandsaufenthalt, wie im vorliegenden Fall der Klägerin gegeben, und zur Behandlungssituation für an Multipler Sklerose erkrankten Personen in Iran, als denen vom Gericht im Rahmen seiner Amtsermittlungspflicht (vgl. § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO) in diesem Verfahren durch Beweiserhebung ermittelten sowie ansonsten beigezogenen und vorstehend aufgeführten sind dem Gericht nicht bekannt. Auf entsprechende Anfrage des Gerichts teilten sowohl der beteiligte Bundesbeauftragte mit Schreiben vom 25.11.2008 wie auch der Vertreter der Beklagten mit Schreiben vom 05.12.2008 dem Gericht mit, dass auch ihnen keine anderen oder aktuelleren Erkenntnisse zu der vorstehend genannten Problematik vorliegen bzw. bekannt sind. Soweit der beteiligte Bundesbeauftragte in diesem Zusammenhang in seinem Schriftsatz vom 25.11.2008 darauf hingewiesen hat, dass die bisherige gerichtliche Sachaufklärung nicht konkret auf die finanzielle Erreichbarkeit der für die Klägerin erforderlichen medizinischen Behandlung in Iran, insbesondere durch den Abschluss einer Krankenversicherung, gerichtet gewesen ist und diese Aufklärung nur durch eine spezifisch hierauf gerichtete Anfrage an eine entsprechend sachinformierte Stelle erfolgen kann, weist der Einzelrichter darauf hin, dass der zweite Beweisbeschluss vom 20.03.2008 speziell auf die Aufklärung dieser Problematik gerichtet ist. Der Einzelrichter hält auch das in diesem Beweisbeschluss gewählte Beweismittel, die Einholung einer amtlichen Auskunft der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Teheran, für geeignet zur Beantwortung des in dem genannten Beschluss formulierten Beweisthemas bzw. der Beweisfragen. Bei der Auswahl des Beweismittels hat sich der Einzelrichter von der bei den Mitarbeitern der Deutschen Botschaft in Teheran und dem von diesen in die Sachaufklärung einbezogenen iranischen Vertrauensarzt - auf Grund deren unmittelbar vor Ort erworbenen und vorhandenen speziellen Kenntnisse - als vorausgesetzt unterstellten Sachkunde leiten lassen. Da die vom Bundesbeauftragten in dessen Schriftsatz vom 25.11.2008 erwähnte "entsprechend sachinformierte Stelle" von diesem nicht näher bezeichnet oder konkretisiert wurde, sieht der Einzelrichterin auch keine Veranlassung einer weiteren Sachaufklärung, über die insoweit bereits erfolgte hinaus, näher zu treten.

Nach der vorstehend dargestellten Auskunftslage ist davon auszugehen, dass aufgrund der, von der Klägerin gegenüber dem Gericht glaubhaft gemachten und auch nachgewiesenen, schweren Erkrankung der Klägerin an Multipler Sklerose mit progredienten Verlauf und deren hierdurch bedingten ständig erforderlichen ärztlichen und medikamentösen Behandlung sowie familiären Betreuung (die Klägerin ist seit Jahren auf einen Rollstuhl angewiesen), mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im Falle ihrer Abschiebung in den Iran eine erhebliche konkrete Gefahr für ihren Leib und ihr Leben besteht. Auch wenn eventuell noch eine angemessene medizinische Behandlung ihrer Erkrankung, zumindest in Teheran, angesichts der dort vorhandenen Fachärzte und Krankenhäuser möglich wäre und auch die von ihr benötigten Medikamente beschaffbar wären, wäre die Klägerin jedoch nicht in der Lage, die Kosten für die erforderliche medizinische Behandlung und die notwendigen Medikamente aufzubringen. Nach ihren insoweit ebenfalls glaubhaften Angaben verfügt die Klägerin in Iran weder über eine Krankenversicherung noch über entsprechend hohe eigene finanzielle Mittel. Die Klägerin hält sich seit dem Jahr 1996 in Deutschland als Asylbewerberin auf und konnte deshalb sowie wegen ihrer Erkrankung in Deutschland keiner Erwerbstätigkeit nachgehen. Der vorstehend Auskunftslage kann entnommen werden, dass in Iran alle angestellten Arbeitnehmer einer Sozialversicherungspflicht unterliegen und damit auch krankenversichert sind (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 18.03.2008). Die Klägerin wird aber mit hoher Wahrscheinlichkeit im Falle ihrer Rückkehr in den Iran aufgrund ihrer schweren Erkrankung einer Erwerbstätigkeit nicht mehr nachgehen können. Damit entfällt für sie auch diese Möglichkeit des Abschlusses einer Krankenversicherung. Ungeachtet dessen wären nach dem genannten Lagebericht selbst bei der Möglichkeit des Abschlusses einer Krankenversicherung von der Klägerin noch hohe Eigenaufwendungen zu erbringen, da die Behandlungskosten deutlich die Versicherungsleistungen übersteigen. Ohne massive Vorauszahlungen findet demnach auch eine Behandlung nicht statt. Über finanzielle Mittel in derartiger Höhe, wie sie durch die Behandlung ihrer schweren Erkrankung in Iran anfallen würden und von ihr demnach als Eigenaufwendungen aufzubringen wären, verfügt die Klägerin nach ihren glaubhaften Angaben jedoch nicht und wird diese auch nicht durch die Annahme einer entsprechend hoch dotierten Arbeit perspektivisch erwirtschaften können. Auf Grund fehlender finanzieller Mittel wird die Klägerin auch nicht die Möglichkeit haben in Iran eine private Krankenversicherung abzuschließen oder die für sie erforderliche medizinische Behandlung ganz aus privaten Mitteln zu bezahlen. Gleiches gilt für den Erwerb der von ihr benötigten Medikamente. Diese sind zwar nach den Stellungnahmen des Vertrauensarztes der Deutschen Botschaft in Teheran vom 11.08.2007 und vom 29.07.2008 grundsätzlich vorhanden bzw. beschaffbar jedoch von der Klägerin dauerhaft kaum finanzierbar. Die von der Klägerin in ihrem Schreiben vom 11.03.2008 benannten Medikamente (vgl. Blatt 199 der Gerichtsakte) kosten nach Recherche im Internet www.medikamente-preiswert-bestellen.de) ca. 125 €. Die Klägerin hat zwar nicht angegeben, wie lange die jeweiligen Packungen reichen, jedoch ist entsprechend der Schwere ihrer Grunderkrankung, deren chronischem und progredienten Verlauf und der hieraus entstandenen Folgeerkrankungen davon auszugehen, dass die Klägerin auf eine regelmäßige und in Zukunft eher zunehmende Medikamentation angewiesen sein wird. Aufgrund ihrer persönlichen Situation, insbesondere ihrer finanziellen Situation, wird die Klägerin nicht in der Lage sein, diese Medikamente in Iran, vor allem dauerhaft, zu bezahlen.

Die Klägerin hat zur Überzeugung des Einzelrichters auch glaubhaft dargetan, insoweit auch keinerlei finanzielle Unterstützung durch Verwandte oder Bekannte In Iran erhalten zu können, um dauerhaft die für sie medizinisch notwendige Versorgung bezahlen und damit erhalten zu können. [...]