VG Stuttgart

Merkliste
Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 26.01.2009 - A 11 K 426/08 - asyl.net: M15222
https://www.asyl.net/rsdb/M15222
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Christen (syrisch-orthodoxe), Aramäer, Tur Abdin, Jesiden, Verfolgung durch Dritte, mittelbare Verfolgung, Gruppenverfolgung, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Änderung der Sachlage, Reformen, politische Entwicklung, Menschenrechtslage, Lagebericht, Auswärtiges Amt, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, Sicherheitslage, Dorfschützer, interne Schutzalternative, interner Schutz, Existenzminimum
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 8
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage ist begründet. [...]

Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG sind - vorbehaltlich des Satzes 3 - die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. [...]

Vorliegend leidet der angefochtene Widerrufsbescheid allerdings schon daran, dass der angefochtene Bescheid keine konkreten Bezüge auf den Fall des Klägers in seiner speziellen Situation enthält. Damit hat es das Bundesamt, was nach den o.a. Grundsätzen geboten wäre, versäumt, die Anerkennungsgründe konkret und nachvollziehbar mit den aktuellen Verhältnissen in der Türkei zu vergleichen. Es fehlt aus diesem Grund bereits der für den Widerruf nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG erforderliche Nachweis, dass die Voraussetzungen für die Anerkennung als Asylberechtigter nicht mehr vorliegen. Damit ist auch unklar, ob nicht in Wirklichkeit eine unzulässige Neubewertung der Asylrelevanz der geltend gemachten Vorfluchtgründe erfolgt ist.

Das Bundesamt hat in dem angefochtenen Widerrufsbescheid lediglich ausgeführt und anhand von mehreren Einzelereignissen zu belegen versucht, dass die Prognose einer "dem Ausländer" drohenden Verfolgung durch Übergriffe muslimischer Dritter in Anknüpfung an seine Religion mangels entsprechender Referenzfälle nicht mehr getroffen werden könne, weshalb von einer örtlich begrenzten mittelbaren Gruppenverfolgung der syrisch-orthodoxen Christen im ländlichen Südosten der Türkei auch nicht mehr auszugehen sei. Dies reicht für die Annahme, die Voraussetzungen für den Widerruf der Asylberechtigung lägen vor, jedoch nicht aus.

Zwar wird in der obergerichtlichen Rechtsprechung mittlerweile eine mittelbare Gruppenverfolgung von syrisch-orthodoxen Christen aus dem Tur Abdin verneint (vgl. VGH Kassel, Urt. v. 22.02.2006 - 6 UE 2268/04.A - <Juris>; OVG Bremen, Urt. v. 21.02.2001 - 2 A 291/99.A - <Juris>; OVG Lüneburg, Urt. v. 21.06.2005 - 11 LB 256/02 - <Juris>; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 27.10.2005 - A 12 S 603/05 - <Juris>). Hieraus kann jedoch nicht auf eine Verfolgungssicherheit geschlossen werden, zumal in diesen Entscheidungen um die Anerkennung als politischer Flüchtling gestritten wurde und nicht um den Widerruf einer seinerzeit ausgesprochenen Asylanerkennung oder Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Im Widerrufsverfahren ist keine generalisierende Betrachtungsweise und auch keine Erörterung einer Gruppenverfolgung geboten, maßgebend ist vielmehr die Frage, ob konkret der als politisch Verfolgter anerkannte Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei vor Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit hinreichend sicher ist (vgl. OVG Koblenz, Urt. v. 05.06.2007 - 10 A 11576/06 - <Juris>).

Unabhängig davon sind entgegen der Behauptung des Bundesamts seit dem gerichtlichen Verpflichtungsurteil vom 06.12.1991 keine Änderungen der maßgeblichen Verhältnisse in der Weise eingetreten, dass Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden können. Die Kammer hält insoweit an ihrer Rechtsprechung fest (vgl. dazu zuletzt Urteil vom 23.06.2008, - 11 K 807/08 <Juris>) [...]