VG Weimar

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Zitieren als:
VG Weimar, Urteil vom 14.01.2009 - 7 K 20229/05 We - asyl.net: M15224
https://www.asyl.net/rsdb/M15224
Leitsatz:

Keine generelle Verfolgungsgefahr für tschetschenische Volkszugehörige aus Tschetschenien, sondern nur, wenn sie einer Risikogruppe angehören (hier: früheres Mitglied der Rebellen).

 

Schlagwörter: Russland, Tschetschenien, Tschetschenen, Anerkennungsrichtlinie, Verfolgungsbegriff, Vorverfolgung, Wahrscheinlichkeitsmaßstab, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Gruppenverfolgung, interne Fluchtalternative, interner Schutz, Beurteilungszeitpunkt, Existenzminimum, Terrorismusbekämpfung, Verfolgungsdichte, Sicherheitslage, Maschadow, Situation bei Rückkehr, Rückübernahmeabkommen, Wehrpflicht, Separatisten, Rebellen, Kämpfer (ehemalige), Verdacht der Unterstützung, Verdacht der Mitgliedschaft, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, Versorgungslage, Wohnraum, soziale Bindungen
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 3; RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4; RL 2004/83/EG Art. 8 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 8 Abs. 2; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Keine generelle Verfolgungsgefahr für tschetschenische Volkszugehörige aus Tschetschenien, sondern nur, wenn sie einer Risikogruppe angehören (hier: früheres Mitglied der Rebellen).

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die zulässige Klage der Kläger ist nur teilweise begründet. [...]

2. In der Person des Klägers zu 1. liegen die Voraussetzung des § 60 Abs. 1 AufenthG vor. In der Person der Klägerin zu 2. hat das Bundesamt jedoch zu Recht die Feststellung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthaltsG abgelehnt.

Die Kläger sind zur Überzeugung des Gerichts tschetschenische Volkszugehörige. [...]

Hinsichtlich tschetschenischer Volkszugehöriger aus Tschetschenien gilt:

Mögen die russischen Sicherheitskräften bei der Bekämpfung der tschetschenischen Rebellen/Separatisten vor einigen Jahren, insbesondere zum Zeitpunkt der Ausreise der Kläger aus Tschetschenien noch bei weitem über das hinausgegangen sein, was unter dem Gesichtspunkt einer zulässigen Terrorismus- bzw. Separatismusbekämpfung auch von unbeteiligten Dritten hinzunehmen ist bzw. war, stellen sich die auch heute noch in Tschetschenien festzustellenden Sicherheitsdefizite nicht mehr als zielgerichtete, generell gegen tschetschenische Volkszugehörige gerichtete, flüchtlingsrelevante Verfolgungsmaßnahmen im Sinne überschießender Terrorismus- bzw. Separatismusabwehrmaßnahmen dar, sondern als Sicherheitsrisiken, die ohne besonderen asylrelevanten Bezug Ausdruck des unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten als katastrophal einzuschätzenden Machtsystems in Tschetschenien sind, denen es nach der Auskunftslage heute jedoch auch an der für die Anerkennung eines Flüchtlingsstatuts erforderlichen Verfolgungsdichte fehlt (ebenso: Hess. VGH, a.a.O.).

Zur Zeit stellt sich die Sicherheitslage in Tschetschenien für das Gericht nach Auswertung der ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen wie folgt dar:

Hierzu hat der Hess. VGH in seinem Urteil vom 21.02.2008, Az: 3 UE 191/07 A zutreffend ausgeführt: [...]

Die Bewertung der oben zitierten Auskünfte zur Sicherheitslage in Tschetschenien führt für das Gericht zur Einschätzung, dass die Sicherheitslage in Tschetschenien zwar nach wie vor besorgniserregend und prekär ist, Rückkehrer ohne direkten Bezug zu den tschetschenischen Rebellen jedoch vor Verfolgungsmaßnahmen im Falle ihrer Rückkehr sicher sind (Art. 4 Abs. 4 QRL, § 60 Abs. 1 AufenthG). Wie auch der Hess. VGH, kommt das Gericht zur Auffassung, dass insbesondere die flächendeckende Bedrohung der tschetschenischen Zivilbevölkerung in Tschetschenien durch russische Sicherheitskräfte und Militärs und diesen zuzuordnenden Verbänden, heute so nicht mehr festgestellt werden kann. [...]

Mögen bei Personen, die von Seiten der tschetschenischen Sicherheitskräfte für ehemalige oder aktive Mitglieder von Rebellenorganisationen gehalten werden, Anhaltspunkte im Sinne der in Art. 4 Abs. 4 QRL enthaltenen Vermutungsregel dahingehend bestehen, dass dieser Personenkreis bei Rückkehr mit verfolgungsrelevanten Maßnahmen, die bis hin zu Folterungen oder Verschwindenlassen reichen können, zu rechnen hat, gilt dies für ethnische Tschetschenen, bei denen individuelle Umstände für eine Hervorhebung aus der Bevölkerung fehlen, nicht.

Der Kläger zu 1. gehört nach Überzeugung des Gerichts zu einer Risikogruppe, die im Fall ihrer Rückkehr nach Tschetschenien mit einer Bedrohung in asylerheblichem Ausmaß zu rechnen hat. Demgegenüber gehört die Klägerin zu 2. einer oben genannten Risikogruppe nicht an.

Der Kläger zu 1. hat sowohl bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt als auch in der mündlichen Verhandlung zur Überzeugung des Gerichts glaubhaft dargelegt, dass er als aktiver Unterstützer bzw. Mitglied der tschetschenischen Rebellen angesehen wird. [...]

3. In der Person der Klägerin zu 2. liegen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor. [...]

Der Klägerin zu 2. droht eine beachtliche Gefahr für ihre Gesundheit im Falle ihrer Rückkehr. Ihr Existenzminimum wäre im Falle ihrer Rückkehr nicht sichergestellt. Dem Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 13.01.2008 lässt sich entnehmen, dass die Grundversorgung der Bevölkerung in der Russischen Föderation mit Nahrungsmitteln zwar gewährleistet ist. Es gäbe auch staatliche Unterstützung (z.B. Sozialhilfe für bedürftige Personen auf sehr niedrigem Niveau), die jedoch faktisch nicht einmal den Grundbedarf deckt. Die Klägerin zu 2. wäre somit auf eine zumindest ergänzend notwendige Arbeitstätigkeit angewiesen, um ihr Existenzminimum sicherzustellen. Dies ist ihr jedoch nicht möglich, da ihr die Betreuung von drei Kleinkindern obliegt. Der älteste Sohn der Klägerin zu 2. ist 4 Jahre alt, die Tochter der Klägerin zu 2. ist 3 Jahre alt und das jüngste Kind ist 4 Monate alt. Zumindest die beiden älteren Kinder sind ebenfalls ausreisepflichtig. Der Vater der Kinder kann im Falle einer Rückkehr der Klägerin zu 2. in die Russische Föderation nicht zum Unterhalt beitragen, da er über ein Bleiberecht in der Bundesrepublik Deutschland verfügt. [...]