VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 27.01.2009 - AN 14 K 08.30234 - asyl.net: M15245
https://www.asyl.net/rsdb/M15245
Leitsatz:

Kein Widerruf der Asylanerkennung von "Boatpeople" aus Vietnam, die im Jahr 1982 als Asylberechtigte anerkannt wurden.

 

Schlagwörter: Vietnam, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Boatpeople, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Menschenrechtslage, illegale Ausreise, Antragstellung als Asylgrund
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; GG Art. 16a Abs. 1
Auszüge:

Kein Widerruf der Asylanerkennung von "Boatpeople" aus Vietnam, die im Jahr 1982 als Asylberechtigte anerkannt wurden.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die zulässige Klage ist sachlich auch begründet. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 12. März 2008 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1, Abs. 5 VwGO). Die gesetzlichen Voraussetzungen für den verfügten Widerruf der Asylanerkennung vom 27. Juli 1982 und für die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht vorliegen, sind nicht gegeben. [...]

Aus einem Schriftsatz des Bundesamtes vom 12. November ... lässt sich entnehmen, dass die Klägerin mit ihren Eltern als Kind nach einer Rettungsaktion durch das Schiff ... nach Deutschland gekommen ist. Auch wenn, wie sich aus einem Schriftsatz vom 21. April 2008 entnehmen lässt, die Akten des Vorverfahrens bereits vernichtet wurden, so geht doch aus dem Vermerk vom 12. November 2007 hervor, dass die wesentliche Begründung für die Asylanerkennung im Jahr 1982 der Umstand gewesen ist, dass der Klägerin eine Rückkehr nach Vietnam unter den damals herrschenden politischen Verhältnissen nicht zuzumuten war. Auch aus anderen die sogenannten Boatpeople betreffenden Fällen ist dem Gericht bekannt (vgl. z.B. VG Ansbach, Urteil vom 16.7.2008, Az.: AN 14 K 07.30775), dass in den Anerkennungsbescheiden jeweils ausgeführt wurde, dass sich nach Sachlage die betreffenden Ausländer aus Überzeugungsgründen den Willkürmaßnahmen, mit denen die jetzigen kommunistischen Machthaber in Vietnam das neue Gesellschaftssystem zu sichern suchen, entzogen haben. Das hohe persönliche Risiko, das der betreffende Antragsteller jeweils auf sich genommen habe, sei für den damaligen Anerkennungsausschuss ein Indiz gewesen, dass er in seiner Situation keinen anderen Ausweg gesehen habe, als sein Heimatland zu verlassen. Auch objektiv sein ihnen ein weiteres Verbleiben in Vietnam nicht zuzumuten. An diesen Voraussetzungen hat sich jedoch seither nichts geändert. Wie das Gericht bereits in dem – rechtskräftigen – Urteil vom 16. Juli 2008 (a.a.O.) ausgeführt hat, ist nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 3. Mai 2007 Vietnam nach wie vor ein sozialistischer Staat, der auf wirtschaftlichem Gebiet einen Kurs marktwirtschaftlich orientierter Reformen eingeschlagen hat, politisch und gesellschaftlich jedoch dem unbedingten Führungsanspruch der kommunistischen Partei folgt. Öffentliche Kritik an Partei und Regierung wird nicht toleriert, regierungskritische Aktivitäten von Künstlern, Intellektuellen oder Angehörigen ethnischer Minderheiten oder nicht zugelassener religiöser Vereinigungen werden mit größter Aufmerksamkeit und gegebenenfalls polizeilich-justiziellen Maßnahmen verfolgt. Durchgreifende politische Reformen stehen nicht auf der Tagesordnung und der Rechtssektor ist unterentwickelt. Die Justiz ist faktisch Partei und Staat unterstellt, woran auch eine Strafprozessreform vom Juli 2004 nichts geändert hat. Die Gründung von Menschenrechtsorganisationen in Vietnam ist nicht erlaubt und oppositionelle Gruppierungen und Persönlichkeiten, die sich für westliche Demokratiemodelle oder umfassende Meinungsfreiheit einsetzen, werden weiterhin mit Zensur sowie polizeilichen und strafrechtlichen Sanktionen belegt. Erst im März 2007 verurteilte ein vietnamesisches Gericht fünf Regimekritiker zu unverhältnismäßig hohen Haftstrafen. Dabei war das Verfahren durch eine Missachtung grundlegender rechtsstaatlicher Standards gekennzeichnet. Staatlicherseits ergriffene Maßnahmen umfassen Verhaftungen, Verhängung von Hausarrest, willkürliche Hausdurchsuchungen, wiederholte, oft mehrere Tage dauernde Verhöre auf Polizeistationen, Telefon- und Mailüberwachung, Abschalten der Telefone, Mobiltelefon- und Internetverbindungen und Beschlagnahme von PCs. Auch über Einschüchterungsversuche durch körperliche Gewalt und inszenierte Unfälle wurde berichtet. Nach verschiedenen Verhaftungsaktionen gegen Mitglieder der Demokratiebewegung im Februar und März 2007 erhärtet sich die Vermutung, dass die Behörden nunmehr gezielt gegen die Dissidenten der Szene vorgehen. Eine Vorschrift über die administrative Bewährung unterminiert die verfassungsmäßig verbrieften Grundrechte. Die Vorsitzenden der Volkskomitees auf Provinzebene haben die Befugnis, Personen für bis zu zwei Jahre in Verwahrung zu nehmen, so dass die Verordnung eine Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren ermöglicht. Von dieser grundsätzlichen Einschätzung der Lage geht auch die Fortschreibung des Lageberichts mit Stand Juli 2008 vom 14. Juli 2008 aus.

Demnach steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass sich seit Erlass des Anerkennungsbescheides im Jahr 1982 keine gravierende Änderung der politischen Verhältnisse in Vietnam ergeben hat. Wenn die Beklagte bei ihrer Entscheidung, die Klägerin, zusammen mit ihren Eltern, als Asylberechtigte anzuerkennen, davon ausgegangen ist, dass sich die Klägerin mit ihren Eltern aus Überzeugungsgründen den Willkürmaßnahmen entzogen hat, mit denen die jetzigen kommunistischen Machthaber in Vietnam das neue Gesellschaftssystem zu sichern suchen und die Familie ein hohes persönliches Risiko auf sich genommen hat, muss bei dieser Sachlage davon ausgegangen werden, dass sich die Verfolgungsgefahr auch bei einer Rückkehr heute verwirklichen würde. Die im Bescheid vom 27. Juli 1982 dargelegten Voraussetzungen für die Anerkennung als Asylberechtigte liegen daher nach wie vor vor, so dass ein Widerruf rechtswidrig ist. Wenn die Beklagte in ihrem Widerrufsbescheid ausführt, dass der Klägerin wegen der illegalen Ausreise aus Vietnam und der Asylantragstellung in Deutschland heute bei einer Rückkehr nach Vietnam nicht mehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgungsmaßnahmen drohten, dann verkennt sie, dass diese Verfolgungsgefahren nicht Grundlage der Asylanerkennung im Bescheid vom 27. Juli 1982 gewesen sind. Wer, wie die Klägerin, schon einmal politische Verfolgung erlitten hat, dem kann asylrechtlicher Schutz selbst bei zwischenzeitlicher Änderungen der politischen Lage im Verfolgerstaat nur versagt werden, wenn eine Wiederholung der Verfolgungsmaßnahmen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist, weil es dem humanitären Charakter des Asyls widerspräche, einem Asylsuchenden, der das Schicksal der Verfolgung bereits einmal erlitten hat, das Risiko einer Wiederholung aufzubürden. Deshalb sind die Anforderungen für Anerkennungen in solchen Fällen herabzustufen. Vorliegend hat die Klägerin nicht nur bereits Verfolgungsmaßnahmen erlitten, sondern sind auch zwischenzeitlich keine maßgeblichen Änderungen der politischen Situation eingetreten. [...]