VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 20.01.2009 - AN 1 K 08.30311 - asyl.net: M15252
https://www.asyl.net/rsdb/M15252
Leitsatz:

Eine posttraumatische Belastungsstörung ist grundsätzlich in der Türkei behandelbar.

 

Schlagwörter: Türkei, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, Depression, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, Grüne Karte, yesil kart, inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, Prüfungskompetenz
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Eine posttraumatische Belastungsstörung ist grundsätzlich in der Türkei behandelbar.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die Klägerin begehrt mit ihrer Klage, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 14. Juni 2008 zu verpflichten festzustellen, dass in ihrer Person die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG gegeben seien. Diese Klage ist zulässig, sachlich aber nicht begründet. [...]

In der Rechtsprechung der Asylgerichte wird überwiegend davon ausgegangen, dass auch für spezielle Erkrankungen aus dem Formenkreis der posttraumatischen Belastungsstörungen eine dem landesüblichen Standard entsprechende Behandlung in der Türkei grundsätzlich gewährleistet ist (vgl. BayVGH, Urteil vom 7.6.2005, 11 B 02.31096; OVG Münster, Urteil vom 18.1.2005, 8 A 1242/03.A, InfAuslR 2005, 281 ff.; VGH Kassel, Urteil vom 4.2.2004, 6 UE 3933/00.A; VGH Mannheim, Urteil vom 7.11.2002, A 12 S 907/00; VG Ansbach, Beschluss vom 11.4.2006, AN 1 E 06.30299; Urteil vom 26.6.2008, AN 1 K 07.30056).

Die in der Türkei mögliche Behandlung posttraumatischer Belastungsstörungen umfasst sowohl medikamentöse als auch psychotherapeutische Therapien und wird sowohl durch staatliche Einrichtungen, insbesondere Krankenhäuser mit einer Abteilung für Psychiatrie, und niedergelassene Psychiater und Psychotherapeuten als auch durch verschiedene Selbsthilfeeinrichtungen und Stiftungen, u.a. auch über die Menschenrechtsstiftung der Türkei (TIHV), sichergestellt. Namentlich alle großen Krankenhäuser in der Türkei mit einer psychiatrischen Abteilung können grundsätzlich auch die Behandlung einer posttraumatischen Belastungsstörung durchführen. Für die posttraumatische Belastungsstörung werden auch in der Türkei die international anerkannten Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV angewandt. Auch wenn es bei der therapeutischen Weiterbehandlung von aus Westeuropa zurückkehrenden Patienten auf Grund unterschiedlicher Behandlungskonzepte – mitunter gravierende – Probleme geben kann, zählen doch zu den Behandlungskonzepten, wie in Westeuropa üblich, u.a. die Psychotherapie mit Relaxationstraining, Atemtraining, Förderung des positiven Denkens und Selbstgespräche, kognitive Therapie sowie daneben Medikationen wie Antidepressiva und Benzodiazepine (vgl. Auswärtiges Amt, Lageberichte Türkei vom 11.9.2008 und vom 25.10.2007, jeweils Anlage "Medizinische Versorgung psychisch kranker Menschen in der Türkei").

Folteropfer und traumatisierte Personen können sich darüber hinaus einer medizinischen und psychologischen Behandlung durch Ärzte, Psychiater, Psychotherapeuten und Sozialarbeiter in den fünf Rehabilitationszentren der durch Mitglieder des Menschenrechtsvereins "Insan Haklari Dernegi" (IHD) und der Ärztekammer im Jahr 1990 gegründeten "Türkischen Menschenrechtsstiftung (Türkiye Insan Haklari Vakfi – TIHV)" in Ankara, Istanbul, Izmir, Adana und Diyarbakir unterziehen. Die Behandlung ist kostenlos, weil die Zentren sich aus Spenden finanzieren. Trotz der Probleme, die den Behandlungszentren anfänglich von staatlicher Seite bereitet wurden, haben sie eine beachtliche Zahl von Patienten behandelt. Die Stiftung arbeitet mit niedergelassenen Ärzten zusammen und betreibt eine rege Informationspolitik, die durch die Einbindung der Organisation in ein weit reichendes Netzwerk nationaler und internationaler Organisationen begünstigt wird, ihm weit reichendes Gehör verschafft und einen wirksamen Schutz gegen staatliche Übergriffe bietet (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 7.11.2002, A 12 S 907/00). Darüber hinaus gibt es auch außerhalb der Stiftung ein Netz von Psychiatern, die sich mit Symptomen und Behandlung des posttraumatischen Belastungssyndroms auskennen. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang etwa die sich aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden finanzierende "Forschungsstiftung für Recht und Gesellschaft/Stiftung für die Erforschung sozialen Rechts (TOHA/TOHAV)", die in Istanbul ein Rehabilitationszentrum für Folteropfer betreibt.

Bedürftige, die die ärztliche Behandlung nicht selbst finanzieren können, haben das Recht, sich von der Gesundheitsverwaltung eine "Grüne Karte" ("yesil kart") ausstellen zu lassen, die zu kostenloser medizinischer Versorgung im staatlichen Gesundheitssystem berechtigt. Die Voraussetzungen, unter denen mittellose Personen in der Türkei die "Grüne Karte" erhalten, ergeben sich aus dem Gesetz Nr. 3816 vom 18. Juni 1992. Zum Erwerb der „Grünen Karte“ muss der Antragsteller gegenüber dem Landratsamt an seinem Wohnsitz seine Mittellosigkeit (z.B. durch Bescheinigungen des Finanzamtes oder der Sozialversicherung, Grundbuchauszüge) nachweisen. Sein laufendes Monatseinkommen muss unter 130 YTL liegen. Weiteres Vermögen wird angerechnet. Rückkehrer aus dem Ausland unterliegen dem gleichen Prüfungsverfahren. Die zuständige Kommission des Landratsamtes tritt einmal wöchentlich zusammen und entscheidet über die Anträge. Die Bearbeitungszeiten haben sich erheblich verkürzt. Die medizinischen Leistungen, die über die "Grüne Karte" erhältlich sind, wurden durch Gesetz Nr. 5222 vom 14. Juli 2004 wesentlich erweitert. Auch wenn nach Beantragung noch keine Grüne Karte ausgestellt ist, werden bei einer Notfallerkrankung sämtliche stationären Behandlungskosten und alle weiteren damit zusammenhängenden Ausgaben übernommen. Stationäre Behandlung von Inhabern der "Grünen Karte" umfasst sowohl Behandlungskosten als auch sämtliche Medikamentenkosten. Als wesentliche Besserstellung bei ambulanter Behandlung wurden seit 1. Januar 2005 auch die Kosten für die Medikamente voll übernommen (seit 1.5.2005 nur noch 80 %). Nach Angaben der zuständigen Stellen gibt es in der Türkei ca. zwölf Millionen Inhaber einer "Grünen Karte". In Diyarbakir besitzen offiziellen Angaben zufolge ca. 40 % der Bevölkerung eine Grüne Karte. Für Leistungen, die nicht über die "Grüne Karte" abgedeckt sind, stehen ergänzend Mittel aus dem jeweils örtlichen Solidaritätsfonds zur Verfügung (Sosyal Yardim ve Dayanisma Fonu; vgl. BayVGH, Urteil vom 7.6.2005, 11 B 02.31096).

Unter Zugrundelegung dieser dem Gericht die notwendige Sachkunde vermittelnden Erkenntnisse ist es ausgeschlossen, dass sich die bei der Klägerin eventuell bestehende psychische Erkrankung (posttraumatische Belastungsstörung) in Folge fehlender medizinische Behandlungsmöglichkeiten in der Türkei wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern wird. Einer Beweiserhebung – wie bereits mit Klageschriftsatz vom 31. Juli 2008 beantragt – bedarf es somit nicht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 31.8.2006, 1 B 24/06).

Dass der Standard der gesundheitlichen Versorgung in der Türkei nach dem oben Dargelegten unter Umständen nicht an den bundesdeutschen Standard heranreicht, ist rechtlich ohne Bedeutung (BayVGH, Beschluss vom 4.10.2004, 21 B 03.31150).

Die in den in den bisherigen Verfahren vorgelegten ärztlichen und psychologischen Stellungnahmen übereinstimmend beschriebene Zukunftsangst der Klägerin, ihre daraus resultierenden Depressionen stellen kein (zielstaatsbezogenes) Abschiebungshindernis im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG dar, sind vielmehr als Vollstreckungshindernis anzusehen (so BVerwG, Urteil vom 21.9.1999, 9 C 8/99, BayVBl 2000, 250 f. = NVwZ 2000, 206 f.), das von der Ausländerbehörde zu prüfen ist. Es handelt sich insoweit um eine krankheitsbedingte Gefahr, die sich allein als Folge der Abschiebung und nicht wegen der spezifischen Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung ergeben kann. [...]