Beachtliche Verfolgungsgefahr für Tamilen aus Sri Lanka.
Beachtliche Verfolgungsgefahr für Tamilen aus Sri Lanka.
(Leitsatz der Redaktion)
[...]
1. Der Kläger hat zur Überzeugung des Gerichts zum gegenwärtigen Zeitpunkt und in absehbarer Zukunft bezogen auf Sri Lanka einen Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG. [...]
1.1 Danach ist auch die Verfolgung der Tamilen durch nichtstaatliche Akteure wie vorliegend die Mitglieder der LTTE in den Blick zu nehmen und im Rahmen der stets erforderlichen Gesamtschau aller asylrelevanten Bedrohungen zu würdigen (BVerwG vom 18.7.2006, NVwZ 2006, 1420; BayVGH vom 14.11.2007 - Az. 23 B 07.30496).
§ 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstabe c) AufenthG erfasst dabei schon seinem Wortlaut nach alle nichtstaatlichen Akteure ohne weitere Einschränkung, namentlich also auch Einzelpersonen, sofern von ihnen Verfolgungshandlungen im Sinne des Satzes 1 ausgehen. Weiter müssen die Nachstellungen nichtstaatlicher Akteure – je für sich, sowie sie auf unterschiedliche Gruppen gerichtet sind, oder zusammen, soweit sie sich gegen dieselbe Personengruppe richten – auch das Erfordernis der Verfolgungsdichte erfüllen, um eine private Gruppenverfolgung mit der Regelvermutung individueller Betroffenheit annehmen zu können. Ob diese Voraussetzungen vorliegen, ist von den Tatsachengerichten aufgrund wertender Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden (vgl. BVerwG vom 18.7.2006 a.a.O.; BayVGH vom 14.11.2007 - 23 B 07.30498). [...]
Gemessen an diesen Grundsätzen hat der Kläger durch nichtstaatliche Akteure mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit schwere asylrelevante Rechtsverletzungen im Heimatland zu befürchten.
Dies ergibt sich aus Folgendem: Mit dem im August 2005 wieder eingeführten und im Dezember 2006 verschärften Notstandsrecht haben sowohl die Vorwürfe über Folterungen bzw. Menschenrechtsverletzungen durch die staatlichen Sicherheitskräfte wieder erheblich zugenommen, als auch die Gefahr derartige Rechtsverletzungen durch militante tamilische Organisationen wie die LTTE zu erleiden. Auch Amnesty International (vgl. Auskunft an das VG Hannover vom 18.4.2007; AI-Jahresbericht 2007 Sri Lanka) dokumentiert eine massive Verschlechterung der Sicherheits- und Menschenrechtslage und beobachtet, dass es wieder zu ähnlichen Mustern von Menschenrechtsverletzungen komme wie vor dem Abschluss des Waffenstillstandsabkommens im Jahr 2002: Fälle von gewaltsamen Verschwindenlassen und Entführungen, willkürliche Festnahmen vor allem von tamilischen jungen Männern – eine Gruppe, der der Kläger angehört –, Folter und Misshandlung in Polizeigewahrsam, politische Morde durch die LTTE und die Karuna-Gruppe, Rekrutierung von Kindersoldaten. Diese Menschenrechtsverletzungen geschehen in einer Atmosphäre der Straflosigkeit.
Auch wenn dem Kläger die Geschichte seiner Vorverfolgung durch Sicherheitskräfte der Regierung nicht abgenommen werden kann, muss er zum jetzigen Zeitpunkt menschenrechtswidrige Behandlung bei einer Rückkehr in sein Heimatland sowohl durch LTTE-Mitglieder als auch von Sicherheitskräften befürchten.
Tamilische Volkszugehörige müssen – im Gegensatz zu der Zeit vor dem am 16. Januar 2008 aufgekündigten und bereits vorher mehrfach verletzten Waffenstillstandsabkommen von 2002 – auch in den nicht von der LTTE dominierten Landesteilen insbesondere auch der Hauptstadt Colombo mit menschenrechtswidriger Behandlung rechnen. Da mit dem "Terrorism Prevention Act" vom Dezember 2006 die Unterstützung der LTTE erneut strafbar wurde, muss jeder, der in den Augen der Sicherheitsorgane der Nähe zur LTTE verdächtig ist, damit rechnen, verhaftet zu werden (Lagebericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Sri Lanka vom 6.10.2008 – Stand August 2008). Abgesehen davon, dass die Tamilen – nach dem oben genannten Lagebericht – grundsätzlich in eine Art Generalverdacht der Sicherheitskräfte geraten sind, besteht eine besondere Gefährdung junger wehrfähiger (männlicher) Tamilen – wie dem Kläger –, die eben auch im Visier der LTTE stehen. Auch nach der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (vgl. Bericht "Sri Lanka unter Notstandsrecht" vom Dezember 2007) besteht für Tamilen aus den LTTE-dominierten Gebieten ein erhöhtes Risiko festgenommen, misshandelt und gefoltert zu werden, wenn sie sich erstmals in den von der Regierung kontrollierten Gebieten niederlassen. Gerade für diese Gruppe von tamilischen Volkszugehörigen muss aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse zwischenzeitlich auch die entsprechende Verfolgungsdichte angenommen werden.
Aufgrund dieser dargestellten Verhältnisse kann nicht davon ausgegangen werden, dass für den Kläger bei einer Rückkehr über den Flughafen Colombo, der nach dem genannten Lagebericht, den Feststellungen von Amnesty International und der Schweizerischen Flüchtlingshilfe ebenfalls Ausgangspunkt für menschenrechtswidrige Polizeiaktionen ist, eine inländische Fluchtalternative besteht.
Dies gilt umso mehr, als nach dem glaubhaften Vorbringen der Klagepartei die Polizei in Colombo zwischenzeitlich sog. "Verlassensverfügungen" ausspricht und tamilische Volksangehörige insoweit in die Illegalität treibt. Andererseits berichtet die Schweizerische Flüchtlingshilfe, dass die Bewohner von tamilisch besiedelten Gegenden aufgefordert seien, sich bei der Polizei zu registrieren. Bei den darauf folgenden Großrazzien würden anhand der so erstellten Listen nicht registrierte Bewohner sofort festgenommen, wobei das Risiko im Polizeigewahrsam Opfer von Folter und Misshandlung zu werden sehr hoch sei. [...]