VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 12.01.2009 - 11 B 06.30900 - asyl.net: M15260
https://www.asyl.net/rsdb/M15260
Leitsatz:

Tschetschenische Volkszugehörige sind vor erneuter Verfolgung hinreichend sicher.

 

Schlagwörter: Russland, Tschetschenien, Tschetschenen, Vorverfolgung, Misshandlung, Verfolgungszusammenhang, Kausalzusammenhang, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Anerkennungsrichtlinie, Verfolgungssicherheit, interner Schutz, nichtstaatliche Verfolgung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4; RL 2004/83/EG Art. 8 Abs. 1
Auszüge:

Tschetschenische Volkszugehörige sind vor erneuter Verfolgung hinreichend sicher.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die zulässige Berufung ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat dem Beigeladenen zu Unrecht Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG zuerkannt. Das Urteil des Verwaltungsgerichts und die Nr. 2 des Bescheids des Bundesamts vom 10. April 2002 sind deshalb aufzuheben. [...]

Der Beigeladene hat seinen Heimatstaat nicht als Vorverfolgter verlassen. Zwar wurde er vor seiner Ausreise individuell verfolgt. Entsprechend seinem Vortrag bei der Anhörung vor dem Bundesamt geht der Senat davon aus, dass er von russischen Streitkräften in Grosny im September 2000 festgenommen, in die Kommandantur verbracht und dort im Keller zwei Tage lang misshandelt wurde. Diese Maßnahme stellte eine politische Verfolgung i.S. des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG dar, weil sie dem Beigeladenen in Anknüpfung an das asylerhebliche Merkmal seiner tschetschenischen Volkszugehörigkeit gezielt zugefügt wurde. [...]

Das Recht auf Abschiebungsschutz wegen politischer Verfolgung nach § 60 Abs. 1 AufenthG setzt aber grundsätzlich den Kausalzusammenhang Verfolgung – Flucht – Asyl voraus, der beim Beigeladenen fehlt. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (z.B. BVerwG vom 25.7.2000 a.a.O.) ist insoweit allein entscheidend, dass die Ausreise sich bei objektiver Betrachtung nach ihrem äußeren Erscheinungsbild als eine unter dem Druck erlittener Verfolgung stattfindende Flucht darstellt. In dieser Hinsicht kommt der zwischen Verfolgung und Ausreise verstrichenen Zeit maßgebliche Bedeutung zu. Je länger der Ausländer nach erlittener Verfolgung in seinem Heimatstaat verbleibt, umso mehr verbraucht sich der objektive äußere Zusammenhang zwischen Verfolgung und Ausreise. Daher kann schon bloßer Zeitablauf dazu führen, dass eine Ausreise den Charakter einer unter dem Druck erlittener Verfolgung stehenden Flucht verliert. Ein Ausländer ist demnach regelmäßig nur dann als verfolgt ausgereist anzusehen, wenn er seinen Heimatstaat in nahem zeitlichem Zusammenhang mit der erlittenen Verfolgung verlässt. Da der Beigeladene nach seiner Verfolgung im September 2000 erst im März 2002 ausgereist ist, kann ein solcher naher zeitlicher Zusammenhang bei ihm nicht mehr bejaht werden. Auch aus den Begleitumständen seiner Ausreise ergibt sich nicht, dass sich diese Ausreise bei objektiver Betrachtung aus anderen Gründen noch als Flucht vor der im Jahr 2000 erlittenen Verfolgung darstellt. Denn der Beigeladene hat selbst angegeben, dass seine Mutter erst seit Beginn der Kontrollen durch die Föderalen auch in Alchasurova "vor etwa sechs Monaten", d.h. im September 2001, versucht habe, ihn außer Landes zu bringen.

Es kann dahinstehen, ob der Beigeladene einer Gruppe angehört, die im Zeitpunkt seiner Ausreise in einem Teil der Russischen Föderation politisch verfolgt wurde. Selbst wenn man dies zu seinen Gunsten bejahen würde, wäre er heute jedenfalls in den meisten Teilen des russischen Staatsgebiets vor Maßnahmen "hinreichend sicher", denen nach § 60 Abs. 1 AufenthG, Art. 9 f QRL Rechtserheblichkeit zukommt.

Der Beigeladene gehört weiter keiner Gruppe an, deren Mitglieder in der Russischen Föderation heute allein wegen ihrer Zugehörigkeit zu diesem Kollektiv i.S. von § 60 Abs. 1 AufenthG, Art. 9 f. QRL verfolgt werden. Denn nach der Rechtsprechung des Senats drohen weder in Tschetschenien selbst noch in anderen Teilen Russlands den dort bereits auf Dauer ansässigen Angehörigen dieser Ethnie oder Tschetschenen, die aus dem westlichen Ausland zurückgekehrt sind, Maßnahmen, denen nach § 60 Abs. 1 AufenthG, Art. 9 f. QRL gegebenenfalls Rechtserheblichkeit zukommt, in derartiger Häufigkeit, dass die Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung als erfüllt angesehen werden können. Insoweit wird auf die entsprechenden Ausführungen in dem in das Verfahren einbezogenen rechtskräftigen Urteil des Senats vom 17. April 2008 (Az. 11 B 08.30038) und auf die darin zitierte Entscheidung des Senats vom 31. August 2007 (Az. 11 B 02.31724) Bezug genommen.

Die vom Beigeladenen zur Begründung seiner gegenteiligen Auffassung angeführten Urteile des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 2. Februar 2006 (Az. 3 UE 3021/03.A) und des Oberverwaltungsgerichts Sachsen-Anhalt vom 31. März 2006 (Az. 2 L 40/06) sind vom Bundesverwaltungsgericht mit Beschlüssen vom 4. Januar 2007 (NVwZ 2007, 591) und 1. Februar 2007 (Az. 1 C 24/06) jeweils aufgehoben worden. Der Hessische Verwaltungsgerichtshof vertritt in seinem Urteil vom 21. Februar 2008 (Az. 3 UE 191/07.A) nunmehr die Auffassung, dass tschetschenische Volkszugehörige aus Tschetschenien, denen keine tatsächliche oder unterstellte frühere Mitwirkung bzw. Einbindung bei den Rebellentruppen oder im Regime Maschadow entgegengehalten werden kann, heute nach Tschetschenien zurückkehren können. Insoweit habe sich die Sicherheitslage in Tschetschenien sowohl im Vergleich zum Ausreisezeitpunkt der dortigen Kläger im Herbst 2000 als auch im vormaligen Entscheidungszeitpunkt des Verwaltungsgerichtshofs am 2. Februar 2006 maßgeblich verändert. Auch das Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt vertritt in seinem Urteil vom 31. Juli 2008 (Az. 2 L 23/06) mittlerweile die Auffassung, dass stichhaltige Gründe i.S. von Art. 4 Abs. 4 QRL dagegen sprechen, dass Personen, die keinen Bezug zu dem Maschadow-Regime bzw. den tschetschenischen Rebellen haben, heute bei Rückkehr nach Tschetschenien (erneut) von einer Gruppenverfolgung bedroht sein werden.

Davon unberührt bleibt die Anwendbarkeit der Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 QRL, die nicht von Prognosemaßstäben des nationalen Rechts abhängig ist. Nach dieser Vorschrift ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet ist, bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Betroffene erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Der Beigeladene ist in Tschetschenien bereits politisch verfolgt worden, als er zwei Tage festgehalten und misshandelt wurde. Das wurde bereits oben dargelegt. Die Beweiserleichterung gilt aber nicht in allen Fällen einer erlittenen oder unmittelbar drohenden Verfolgung, sondern setzt einen inneren Zusammenhang zwischen einer erlittenen oder unmittelbar drohenden Verfolgung und dem Sachverhalt, der bei einer Rückkehr erneut zu einer Verfolgung führen könnte, voraus (BVerwG vom 7.2.2008 a.a.O.). Dem Beigeladenen könnten bei einer Rückkehr nach Tschetschenien unter Umständen Repressionen durch die Anhänger des Präsidenten Kadyrow drohen, die mit seiner früher erlittenen Verfolgung vergleichbar sind. Solange der Tschetschenienkonflikt nicht endgültig gelöst ist, ist davon auszugehen, dass abgeschobene Tschetschenen besondere Aufmerksamkeit durch die russischen bzw. die tschetschenischen Sicherheitskräfte und Behörden erfahren. Dies gilt insbesondere für junge Männer wie den Beigeladenen, dem eine Zusammenarbeit mit den Rebellen unterstellt werden könnte, wegen der man ihn möglicherweise mit allen Mitteln zur Preisgabe von entsprechenden Kenntnissen bewegen will. Letztlich kann dies jedoch offen bleiben, weil auch bei Annahme einer dem Beigeladenen in Tschetschenien drohenden vergleichbaren Verfolgung stichhaltige Gründe dafür sprechen, dass er in anderen Teilen der Russischen Föderation eine inländische Fluchtalternative finden würde.

Der Beigeladene könnte sich nach seiner Einreise in anderen Teilen der Russischen Föderation als Tschetschenien niederlassen, weil er dort vor asylrelevanten Übergriffen i.S. von § 60 Abs. 1 AufenthG, Art. 9 f. QRL hinreichend sicher ist. Zur Legalisierung des Aufenthalts an einem grundsätzlich frei zu wählenden Aufenthaltsort bedarf es einer Registrierung. Die Registrierung ist Voraussetzung für den Zugang zur Sozialhilfe, staatlich geförderten Wohnungen, zum (prinzipiell) kostenlosen Gesundheitssystem, zum legalen Arbeitsmarkt sowie für den Bezug von Kindergeld und Rente (vgl. Lagebericht d. Auswärtigen Amtes vom 22.11.2008, S. 27; Memorial "Zur Lage der Bewohner Tschetscheniens in der Russischen Föderation" August 2006 bis Oktober 2007, S. 8/9). Zwar bedarf es oftmals größerer Anstrengungen tschetschenischer Volkszugehöriger, diese Registrierung außerhalb Tschetscheniens zu erreichen. Dies ist aber bei gehörigen Bemühungen möglich (vgl. im Einzelnen BayVGH vom 17.4.2008 a.a.O.). Soweit es einige Monate dauern sollte, bis der Beigeladene eine Registrierung erhält, kann dieser Zeitraum durch Rückkehrhilfen nach dem REAG/GARP-Programm und durch Aushilfstätigkeiten überbrückt werden (vgl. BayVGH vom 31.1.2005, a.a.O.; vom 17.4.2008 a.a.O.; vom 16.6.2008 a.a.O.).

Aus den gleichen Gründen braucht er in diesen Gebieten keine begründete Furcht vor Verfolgung zu haben und es kann von ihm vernünftigerweise erwartet werden, dass er sich in diesen Landesteilen aufhält (Art. 8 Abs. 1 QRL). [...]