VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 19.12.2008 - M 8 K 07.50990 - asyl.net: M15265
https://www.asyl.net/rsdb/M15265
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Jesiden, Gruppenverfolgung, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, interne Fluchtalternative, Nordirak
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...] Im Übrigen ist die Klage zulässig und begründet. [...]

Der Kläger hat Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). [...]

Im vorliegenden Fall bedarf es keiner vertieften Auseinandersetzung mit der Frage, ob irakische Staatsangehörige, die der Glaubensgruppe der Jeziden angehören, einer Gruppenverfolgung unterliegen oder nicht, weil die Beklagte als für die Beurteilung dieser Frage allein kompetente Bundesbehörde selbst von dem Bestehen einer Gruppenverfolgung der Jeziden durch nichtstaatliche Akteure ausgeht (ebenso VG Köln vom 12.10.2007 - 18 K 1262/05.A - juris; a.A. die h. Rspr., z.B. VG des Saarlandes vom 12.08.2008 - 2 K 122/08 - juris), wie sie zum einen in der Begründung des angefochtenen Bescheids ausführt und sich zum andern auch aus der dem Gericht bekannten ständigen Entscheidungspraxis des Bundesamtes in neuerer Zeit ergibt.

Es bestehen auch keine Zweifel an der Glaubens- und damit Gruppenzugehörigkeit des Klägers. [...]

Entgegen der Auffassung des Bundesamtes kann der Kläger vorliegend nicht auf das Bestehen einer inländischen Fluchtalternative verwiesen werden. Das Bundesamt kann sich insoweit lediglich auf das eigene Vorbringen des Klägers im Erstverfahren stützen, wo er angab, er sei nach Erkennen der ihm drohenden Verfolgungsgefahr nach ... geflüchtet, wo er sich etwa anderthalb Monate aufgehalten und als Kellner gearbeitet habe, anschließend habe er sich noch für fünf Tage bis zu seiner Ausreise bei seiner Tante aufgehalten. Diese Angaben, welche der Kläger im nunmehrigen Klageverfahren präzisiert hat, ohne dass dem die Beklagte etwas entgegengesetzt hätte, reichen nicht aus, um dem Kläger die im Fall der irakischen Kurdengebiete gut erforschten, strengen Voraussetzungen für das aktuelle Bestehen einer inländischen Fluchtalternative nachzuweisen.

Nach der insoweit maßgeblichen Erkenntnislage müssen einzelne männliche Flüchtlinge, die wie der Kläger nicht aus dem von der kurdischen Regionalregierung verwalteten, sondern aus dem de facto unter kurdischem Einfluss stehenden Gebiet stammen, für die Einreise und die Niederlassung unabhängig von ihrer Ethnizität einen Bürgen benennen. Der Sponsor kann sowohl eine Einzelperson sein als auch eine Firma. Er muss versichern, den Antragsteller zu kennen und ist Ansprechpartner für Sicherheitsfragen. Der Bürge muss in ... für den Erhalt von Lebensmittelkarten registriert sein und über einen "guten Ruf" verfügen. In ... soll es vereinzelt Ausnahmen von der Sponsoren/Bürgenregelung geben, sofern die KDP in der Lage ist, über ihren Sicherheitsapparat (Büros in Ninive oder Kirkuk) den Hintergrund der Antragsteller zu überprüfen, diese nicht als Gefahr für die allgemeine Sicherheit eingeschätzt werden und zudem glaubhaft machen können, dass sie ihre Herkunftsgebiete verlassen haben, weil sie um ihr Leben fürchten (vgl. Auskunft des Europäischen Zentrums für kurdische Studien an das VG Köln vom 26.05.2008, Seite 39 f.). Die vorgenannten Voraussetzungen sind mit dem unstrittigen Umstand, dass der Kläger im Kurdengebiet anderthalb Monate als Kellner gearbeitet hat, bevor er nach kurzem Zwischenaufenthalt bei seiner Tante den Irak verließ, nicht ausreichend nachgewiesen. Für die daraus von dem Bundesamt gefolgerte Annahme, der Kläger verfüge wegen dieses Beschäftigungsverhältnisses über einen Sponsor bzw. Bürgen zu verfügen, fehlt es nach Auffassung des Gerichts an einem erforderlichen Anhaltspunkt für den Willen des Arbeitgebers, für den Aufenthalt des Klägers auch einstehen zu wollen. Der Kläger ist dem mit dem Vorbringen, dort nur einen vorübergehenden Unterschlupf gefunden zu haben, entgegengetreten und diese Einlassung wird durch den weiteren Geschehensablauf, nämlich seine alsbaldige Ausreise aus dem Irak, auch bestätigt.

Soweit das Bundesamt aus dem Vorbringen des Klägers, sich fünf Tage lang bei einer Tante im Kurdengebiet aufgehalten zu haben, auf das Bestehen jenes familiären Anknüpfungspunktes schließt, der für Jeziden, denen kein Sponsor oder Bürge zur Verfügung steht, zur Nutzung einer weiteren Ausweichmöglichkeit in die Provinz ... nach Auskunft des Instituts für Nahost-Studien, Uwe Brocks, an das VG Köln vom 7. September 2007 unbedingt vonnöten sein soll, hat der Kläger durch die vorgelegte Bescheinigung des Bruders besagter Tante vom 23. Februar 2008 das Gericht davon überzeugen können, dass dieser ehemals bestehende familiäre Anknüpfungspunkt durch die Ausreise der Tante nach Syrien seit 5. April 2007 weggefallen ist. Damit ist im Gesamtergebnis anzunehmen, dass der Kläger bei einer Rückkehr in den Irak ohne zumutbare inländische Fluchtalternative wäre, so dass seiner Verpflichtungsklage auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Hauptantrag stattzugeben war. Der Entscheidung über den Hilfsantrag bedarf es nicht mehr. [...]