VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 10.12.2008 - M 8 K 07.51028 - asyl.net: M15273
https://www.asyl.net/rsdb/M15273
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Gruppenverfolgung, Sunniten, politische Entwicklung, Sicherheitslage, westliche Lebensweise, Frauen, alleinstehende Frauen, Verfolgungsgrund, geschlechtsspezifische Verfolgung, Soziale Gruppe, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, Erlasslage, Abschiebungsstopp, Anerkennungsrichtlinie, bewaffneter Konflikt, willkürliche Gewalt
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7; RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage ist nicht begründet. [...]

Nach Überzeugung des Gerichts besteht weder zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch in absehbarer Zukunft ein Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG. [...]

Die Klägerin kann sich nicht darauf berufen, sie sei als Angehörige der Glaubensgemeinschaft der Sunniten gruppenverfolgt. Entgegen der Auffassung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (Urteil vom 14.11.2007 - 23 B 07.30496 - juris, nicht rechtskräftig), der eine Gruppenverfolgung von Sunniten durch Schiiten angenommen hat, geht das erkennende Gericht davon aus, dass die Klägerin als Sunnitin nicht aus religiösen Gründen der Gruppenverfolgung ausgesetzt sein wird.

In Abgrenzung des Anwendungsbereichs des § 60 Abs. 1 AufenthG vom Anwendungsbereich des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist davon auszugehen, dass die Konflikte zwischen den Mehrheits-Glaubensgemeinschaften im Irak, die durch oben zitierte Erkenntnisquellen ausreichend belegt sind, nicht im Bereich des § 60 Abs. 1 AufenthG erörtert werden können. Die unbestritten lebensgefährliche Lage der Bevölkerung in bestimmten Gebieten des Zentralirak ist bestimmt durch die Zufälligkeiten des machtbedingt herrschenden Chaos mit bürgerkriegsähnlichem Charakter, nicht jedoch durch die zielgerichtete Ausgrenzung "aller Sunniten" durch "die Schiiten". Daran fehlt es nach Überzeugung des Gerichts in der Konstellation der aktuellen Auseinandersetzungen zwischen Schiiten und Sunniten, mithin den beiden größten Glaubensgruppen im Irak, jedenfalls in dieser Pauschalität. Das Gericht teilt ausdrücklich die Auffassung des Verwaltungsgerichts Regensburg (Urteil vom 30.11.2007 - RN 3 K 07. 30194 - juris), wonach der Machtkampf innerhalb der muslimischen Mehrheitsgesellschaft nicht gleichgesetzt werden kann mit der ausgrenzenden Verfolgung religiöser Minderheiten. Selbst wenn einzelne Verwaltungsgerichte (BayVGH, a.a.O.; VG Ansbach vom 19.04.2007 - AN 3 K 06.30312 - juris; VG München vom 25.01.2008 - M 11 K 07.50435; vom 11.01.2008 - M 1 K 07.50961) dies annehmen, so fehlt es jedenfalls angesichts der Größe der beiden Religionsgemeinschaften ohne Hinzukommen individueller gruppenbestimmender Momente an der für die Annahme für die Gruppenverfolgung erforderlichen Verfolgungsdichte. Zutreffend verweist das Verwaltungsgericht Regensburg (a.a.O.) darauf, dass diese nur dann gegeben wäre, wenn für jeden Angehörigen der jeweiligen Gruppe landesweit nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit bestünde. Auch insofern unterscheide sich die Situation der Muslime im Irak, die regelmäßig auf den Rückhalt ihres Stammes zählen können und jeweils über Stammesgebiete verfügen, in denen dieser Rückhalt gegeben ist, in qualitativ erheblicher Weise von der Lage der religiösen Minderheiten.

Da das Gericht somit weder von einer individuellen politischen Verfolgung der Klägerin noch von einer regionalen oder landesweiten Gruppenverfolgung im Hinblick auf seine Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Schiiten ausgeht, kommt es auf ihre geografische Herkunft nicht an. Die Klägerin hat weder im Verwaltungsverfahren noch im vorliegenden Gerichtsverfahren Anhaltspunkte für individuelle Gefährdungsmomente innerhalb oder auch außerhalb der Zugehörigkeit zu ihrer Glaubensgemeinschaft vorgebracht.

Die Klägerin kann sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, sie werde von den (vorwiegend männlichen) Angehörigen ihrer Großfamilie wegen ihrer westlichen Lebensführung und den damit verbundenen Kontakten zu Männern in Deutschland verfolgt, weil diese Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Freiheit jedenfalls nicht in Anknüpfung an ihre Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung erfolgt. Auch soweit die Klägerin insoweit eine Verfolgung aus ihrer Eigenschaft als (alleinstehende) Frau herzuleiten versucht, kann ihr nicht gefolgt werden. Nachstellungen ihres Clans erfolgen nach ihrer Darlegung der sozialen Verhältnisse innerhalb des Clans und der gesellschaftlichen Verhältnisse im Irak, wie sie auch dem Gericht bekannt sind, offensichtlich nicht in Anknüpfung an das unveräußerliche Merkmal der Klägerin als Frau, sondern in Anknüpfung an den Umstand, sich nicht entsprechend den sittlichen Konventionen ihres Clans verhalten zu wollen. Dies ist jedoch durch § 60 Abs. 1 AufenthG nicht geschützt. [...]

Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche, konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen.

Nach der geltenden Erlasslage ist die Abschiebung irakischer Staatsangehöriger derzeit ausgesetzt, wobei nicht ersichtlich ist, dass der zugrunde liegende Erlass alsbald aufgehoben würde. [...]

Eine darüber hinaus gehende – landesweite – konkrete individuelle Gefährdung für Leib und Leben vermag das Gericht auch wegen ihres Status als etwaige Rückkehrerin nicht zu erkennen.

Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht aus der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, wonach die in § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG getroffene Regelung, die Abschiebungsschutz suchende Ausländer im Falle allgemeiner Gefahren auf die Aussetzung von Abschiebungen durch ausländerbehördliche Erlasse verweist, richtlinienkonform dahin auszulegen sei, dass sie nicht die Fälle erfasse, in denen aufgrund einer individuellen Prüfung die Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes nach Art. 15 c) der Richtlinie 2004/83/EG erfüllt seien (BVerwG vom 24.06.2008 - 10 C 42.07, 43.07, 44.07 und 45.07 - NVwZ 2008, 1241 = AuAS 2008, 245). Das Bundesverwaltungsgericht hat in diesen Entscheidungen, um das Berufungsgericht hinsichtlich der von ihm zu erhebenden entscheidungserheblichen Tatfragen anzuleiten, ausführliche Richtlinien hinsichtlich der für die Gewährung subsidiären Schutzes maßgeblichen Voraussetzungen formuliert. Danach sind die Feststellung des Vorliegens eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts und der weiteren Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG einschließlich der Möglichkeit der Erlangung internen Schutzes nach § 60 Abs. 11 AufenthG in Verbindung mit Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG nur ein Teil der erforderlichen Merkmale. Hinzukommen muss dann noch die positive Beantwortung der Frage, ob dieser Konflikt eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib und Leben der Kläger als Angehörige der Zivilbevölkerung im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG begründet. Die Tatbestandsvoraussetzungen der "erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben" entsprechen dabei denen einer "ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit" im Sinne von Art. 15 c) der Richtlinie 2004/83/EG. Dazu wiederum muss sich die von einem bewaffneten Konflikt für eine Vielzahl von Zivilpersonen ausgehende – und damit allgemeine – Gefahr in der Person eines Klägers so verdichtet haben, dass sie eine erhebliche individuelle Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG darstellt. Insoweit hat das Bundesverwaltungsgericht zum einen eine gemeinschaftsrechtliche Zweifelsfrage angenommen, die abschließend nur von dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften geklärt werden könne, wobei ein geeignetes Verfahren bereits anhängig sei. Zum andern hat es allerdings die Auffassung vertreten, dass ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt normalerweise nicht eine solche Gefahrendichte habe, dass alle Bewohner des betroffenen Gebiets ernsthaft persönlich betroffen sein werden, wie sich wiederum u.a. aus dem 26. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/83/EG ergebe, nach dem Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe eines Landes allgemein ausgesetzt sind, für sich genommen normalerweise keine individuelle Bedrohung darstellen, die als ernsthafter Schaden zu beurteilen wäre. Solche individuellen gefahrerhöhenden Umstände könnten sich zum einen aus einer Gruppenzugehörigkeit ergeben. In der instanzgerichtlichen Rechtsprechung seien insoweit etwa die Zugehörigkeit zu einer der irakischen politischen Parteien sowie zur Berufsgruppe der Journalisten, Professoren, Ärzte und Künstler zu nennen. Insoweit wurde bereits oben festgestellt, dass die Klägerin keinen an ihre Gruppenzugehörigkeit anknüpfenden Gefahren unterliegt, was zugleich das Vorhandensein gefahrerhöhender Umstände aus demselben Grund ausschließt.

Weitere, den Gesetzesmaterialien zu entnehmende Voraussetzung für die Annahme einer individuell zugespitzten Bedrohung sei, dass die zugrunde liegende Gefahr infolge von "willkürlicher Gewalt" drohen müsse. Auch insoweit müsse der genaue Inhalt dieses Merkmals letztlich vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften geklärt werden. Ein Hinweis auf die mögliche Auslegung ergebe sich dahin, dass nur solche Gewaltakte erfasst seien, die unter Verletzung der Regeln des humanitären Völkerrechts begangen werden, also insbesondere Gewalt, die nicht zwischen zivilen und militärischen Objekten unterscheide, sowie Anschläge, die nicht auf die bekämpfte Konfliktpartei gerichtet sind, sondern die Zivilbevölkerung treffen sollen, schließlich Gewaltakte, bei denen die Mittel und Methoden in unverhältnismäßiger Weise die Zivilbevölkerung treffen (z.B. chemische Waffen). Nach anderer Ansicht könne mit der fehlenden Zielgerichtetheit willkürlicher Gewaltakte ein die Anforderungen an die Gewährung subsidiären Schutzes begrenzendes Merkmal gemeint sein.

Allgemeine Lebensgefahren, die lediglich Folge des bewaffneten Konflikts seien, etwa eine dadurch bedingte Verschlechterung der Versorgungslage, könnten nicht in die Bemessung der Gefahrendichte einbezogen werden.

Im vorliegenden Fall lassen sich dem Vorbringen der Klägerin zwei individuelle gefahrerhöhende Umstände entnehmen, die – jeder für sich – aus dem obigen Voraussetzungsraster für die Gewährung subsidiären Schutzes herausfallen. Soweit sich die Klägerin darauf beruft, Opfer eines Ehrenmordes (bzw. einer schwächeren, nicht das Leben kostenden Form der Disziplinierung durch ihren Clan) aus Gründen ihres missbilligenswerten Lebenswandels zu werden, unterliegt sie zwar einer erhöhten individuellen Gefahr, die aber ihre Ursache entgegen den o.g. Erfordernissen nicht in einer willkürlichen Bedrohungslage hat. Es handelt sich vielmehr um eine zielgerichtete, vorhersehbare, unmittelbar gegen die Klägerin gerichtete Gefahr, die Ausdruck einer sich auch in Deutschland immer wieder bemerkbar machenden kriminellen Haltung einiger Angehöriger ihrer Herkunftskultur ist. Wie in jeder von anarchischen Zuständen geprägten Gesellschaft trifft die Gefahr – zielgerichtet – potentiell jeden, der sich dem Faustrecht des Stärkeren nicht unterwirft, sie entsteht und gedeiht durch die Abwesenheit einer funktionierenden rechtsstaatlichen Friedensordnung mit entsprechenden Strafandrohungen und ist daher eine typische Allgemeingefahr. [...]