OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 05.12.2008 - 5 Bf 45/07.AZ - asyl.net: M15276
https://www.asyl.net/rsdb/M15276
Leitsatz:

Die Frage, ob auf (Blut-)Rache zurückgehende Bedrohungen politische Verfolgung im Sinn von § 60 Abs. 1 AufenthG darstellen können, lässt sich nicht grundsätzlich klären. Für die Einordnung als politische Verfolgung ist nicht das Motiv (Rache) der Bedrohung maßgeblich; entscheidend ist, ob die Rachemaßnahmen an asylerhebliche Merkmale anknüpfen.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Afghanistan, Berufungszulassungsantrag, grundsätzliche Bedeutung, Darlegungserfordernis, Kommunisten, Militärangehörige, Blutrache, Verfolgungsgrund
Normen: AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Es ist nicht grundsätzlich zu klären, ob Blutrache an einen Verfolgungsgrund gem. § 60 Abs. 1 AufenthG anknüpft.

(Leitsatz der Redaktion)

[...]

Der zulässige Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Aus den Darlegungen des Bundesbeauftragten ergibt sich nicht, dass die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung im Sinn von § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG hat.

1. Der Bundesbeauftragte hält folgende Tatsachenfragen für grundsätzlich klärungsbedürftig:

"ob bzw. unter welchen Voraussetzungen und mit welchem Wahrscheinlichkeitsgrad derzeit noch eine Verfolgungsgefahr für – kurz gefasst – frühere kommunistische Funktionäre, namentlich für Militärangehörige, festzustellen ist;"

"ob eine solche Gefährdung maßgeblich davon abhängt, dass die frühere Tätigkeit des Rückkehrers mit begangenen Menschenrechtsverletzungen in Zusammenhang steht."

Die gestellten Fragen mögen zwar vom Ansatz her einer grundsätzlichen Klärung zugänglich und auch in geeigneter Weise bezeichnet sein. Der Bundesbeauftragte legt jedoch nicht hinreichend dar, weshalb diese Fragen weiterer Klärung bedürfen. Die vorhandene Auskunftslage stimmt im Kern überein und wird zudem im angefochtenen Urteil zugrunde gelegt.

Zur Darlegung der Klärungsbedürftigkeit gehört ein Hinweis darauf, dass und weshalb die bezeichnete Frage einer obergerichtlichen Klärung bedarf. Dies hat in Auseinandersetzung mit den vom Verwaltungsgericht herangezogenen und bewerteten Erkenntnismitteln zu geschehen, da eine Frage, die sich schon hinreichend klar aus den vorliegenden Erkenntnismitteln beantworten lässt, nicht mehr klärungsbedürftig ist (Berlit in GK-AsylVfG, Stand Juni 2008, § 78 Rn. 607, 609 m.w.N.; Marx, AsylVfG, 7. Aufl. 2009, § 78 Rn. 98). Es ist im einzelnen anzugeben, welche Anhaltspunkte für eine andere Tatsacheneinschätzung bestehen. Das kann durch eine eigenständige Bewertung der bereits vom Verwaltungsgericht bewerteten Erkenntnismittel geschehen, aber auch durch Berufung auf weitere, neue oder vom Verwaltungsgericht nicht berücksichtigte Erkenntnismittel (Berlit, a.a.O., Rn. 610; Marx, a.a.O., Rn. 99).

Das Verwaltungsgericht gibt in seinem Urteil unter dem Einleitungssatz "Das Gericht geht dabei von folgenden Erkenntnissen aus:" den Inhalt der von ihm zugrunde gelegten Erkenntnismittel des Auswärtigen Amtes (Afghanistan-Lagebericht vom 13.Juli 2006 [Stand Mai 2006], S. 9 und 17 sowie Auskunft vom 4. Mai 2004) wieder. Darin sind genau die Erkenntnisse enthalten, die der Bundesbeauftragte für zutreffend hält, nämlich:

– Es gebe keine Anhaltspunkte, dass eine (gezielte) Verfolgung ehemaliger Kommunisten durch die afghanische Übergangsregierung stattfindet.

– Lediglich bei ehemals hochrangigen kommunistischen Militärangehörigen könne eine Gefährdung als Reaktion auf frühere Aktivitäten (Menschenrechtsverletzungen) nicht ausgeschlossen werden.

Die im Rechtsmittelschriftsatz zusätzlich angeführten Erkenntnisquellen bestätigen dies und weichen hiervon nicht ab. Eine Klärungsbedürftigkeit der Tatsachenlage ist hieraus nicht herzuleiten. [...]

a) Der Bundesbeauftragte unterstellt dem Verwaltungsgericht zu Unrecht, dass es allein schon die Zugehörigkeit des Klägers zur "Gruppe ehemaliger kommunistischer Militärs" (Urteil Seite 7) für die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausreichen lässt und die Frage der "Menschenrechtsverletzungen" ausblendet. Das Verwaltungsgericht geht vielmehr davon aus, dass der Kläger "aufgrund seines intensiven Einsatzes gegen die Mudschaheddin" gefährdet sei (Urteil Seite 8 Mitte). [...]

b) Auch der Versuch des Bundesbeauftragten zu belegen, dass das Verwaltungsgericht den Auskünften einen anderen Wahrscheinlichkeitsgrad für eine Verfolgung entnimmt, als er ihn aus den Auskünften herausliest, ist nicht geeignet, die grundsätzliche Klärungsbedürftigkeit einer Tatsachen darzulegen. [...]

2. Der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten hält des weiteren die Rechtsfrage für grundsätzlich klärungsbedürftig, "ob auf Rache und /oder Vergeltungsabsichten zurückgehende Bedrohungen nach dem Verständnis des § 60 Abs. 1 AufenthG als an asylerhebliche Merkmale bzw. an eine soziale Gruppe im Sinn der Vorschrift anknüpfende Gefährdungen gewertet werden können."

Diese Frage ist jedoch einer grundsätzlichen Klärung nicht zugänglich. Sie lässt sich weder in grundsätzlicher Form bejahen noch verneinen. In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist seit langem anerkannt, dass die subjektiven Gründe oder Motive, die den Verfolgenden bei seinen Maßnahmen gegen den Verfolgten leiten (hier also Rache bzw. Vergeltung), irrelevant sind für die Frage, ob die Verfolgung eine politische ist. In seinem Beschluss vom 10.7.1989 (BVerfGE 80, 315/334 f.) hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt:

"Nicht jede gezielte Verletzung von Rechten, die etwa nach der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland unzulässig ist, begründet schon eine asylerhebliche politische Verfolgung. Erforderlich ist, daß die Maßnahme den von ihr Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen soll. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin "wegen" eines Asylmerkmals erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. BVerfGE 76, 143 [157, 166 f.])."

Daraus ergibt sich, dass durch Rache motivierte Verfolgung "politisch" sein kann, aber nicht sein muss. Entscheidend ist, ob die Rachemaßnahmen an asylerhebliche Merkmale anknüpfen.

Dies kommt auch in der vom Bundesbeauftragten zitierten Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Schleswig (Urt. v. 27.1.2006, InfAuslR 2007, 256) zum Ausdruck. Das Gericht bringt darin nicht etwa zum Ausdruck, Blutrache – der dortige Kläger machte Angst vor Blutrache geltend, weil sein Vater (ein Bauer) im Streit um ein Stück Land zwei Bauern aus einem Nachbardorf getötet habe – sei per se keine politische Verfolgung. Vielmehr verneint das Oberverwaltungsgericht den politischen Charakter einer Verfolgung deshalb, weil eine Familie oder ein Clan grundsätzlich nicht als soziale Gruppe im Sinn des Flüchtlingsschutzes nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG angesehen werden könne (a.a.O., S. 258). Anders sei dies möglicherweise bei der Zugehörigkeit zu einem größeren Stamm, wenn etwa die Zugehörigkeit zu einem Stammesverband regional einen besonderen Stellenwert habe und auch identifikationsstiftend sei.

Die beiden in diesem Zusammenhang angeführten Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg (Beschl. v. 6.3.2000, NVwZ-Beilage I 2001, 19: Angst vor Blutrache wegen eines tödlich ausgegangenen Autounfalls; Urt. v. 12.9.2001, InfAuslR 2002, 154: Gefahr eines "Ehrenmordes" durch die eigene Familie wegen "unerlaubten" Verlassens der Familie, um sich der elterlichen Wahl eines Ehepartners zu entziehen) haben für die aufgeworfene Fragestellung keine Relevanz, da es bei beiden Entscheidungen in der Berufungsinstanz inhaltlich nur um § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG ging. Im Blutrachefall verneinte das Oberverwaltungsgericht politische Verfolgung bereits deshalb, weil der irakische Zentralstaat in dem Gebiet, aus dem der Kläger stammte, keine effektive Gebietsgewalt ausübe; im Ehrenmordfall war die Berufung nur wegen § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG zugelassen worden. Zur damaligen Zeit reichte die Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure von vornherein nicht zur Annahme "politischer" Verfolgung aus.

Im vorliegenden Fall geht es um die Gefahr von Racheakten für kriegsbedingte Tötungen, an denen der Kläger nach Auffassung des Verwaltungsgerichts als führender Vertreter des damaligen Kriegsgegners beteiligt war, ohne Rücksicht darauf, ob er persönlich Angehörige der heutigen potentiellen Verfolger getötet hat. Die Frage, ob in Afghanistan solche Vergeltungsmaßnahmen gegenüber ehemaligen höheren Militärangehörigen der kommunistischen Zeit an asylerhebliche Merkmale anknüpfen, wird vom Bundesbeauftragten nicht gestellt; es kann dahinstehen, ob sie einer grundsätzlichen Klärung zugänglich wäre. [...]