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OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 11.02.2009 - 1 S 498/08 - asyl.net: M15285
https://www.asyl.net/rsdb/M15285
Leitsatz:

Es ist offen, ob der Ausschluss von Familienangehörigen eines straffälligen Ausländers von der Anwendung der Altfallregelung gem. § 104a Abs. 3 AufenthG verfassungsgemäß ist, so dass Prozesskostenhilfe zu gewähren ist.

Schlagwörter: D (A), Prozesskostenhilfe, Erfolgsaussichten, Altfallregelung, Aufenthaltserlaubnis, Straftat, Familienangehörige, Ehegatten, Kinder, traditionelle Eheschließung, atypischer Ausnahmefall, Verfassungsmäßigkeit, Schutz von Ehe und Familie
Normen: VwGO § 166; ZPO § 114; AufenthG § 104a Abs. 1 S. 1; AufenthG § 104a Abs. 3; GG Art. 6 Abs. 1
Auszüge:

Es ist offen, ob der Ausschluss von Familienangehörigen eines straffälligen Ausländers von der Anwendung der Altfallregelung gem. § 104a Abs. 3 AufenthG verfassungsgemäß ist, so dass Prozesskostenhilfe zu gewähren ist.

(Leitsatz der Redaktion)

[...]

Die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung und die Beiordnung eines Rechtsanwalts (§§ 166 VwGO, 114 ff. ZPO) sind gegeben. Die Kläger erfüllen nach den von ihnen vorgelegten Unterlagen die persönlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe. Ihre Rechtsverfolgung bietet überdies hinreichende Erfolgsaussichten. [...]

Nach Ansicht des Verwaltungsgericht scheidet die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an die Kläger nach § 104a AufenthG aus, weil sie sich die Regelung des §§ 104a Abs. 3 S. 1 AufenthG entgegenhalten lassen müssen. Der in häuslicher Gemeinschaft mit den Klägern lebende ..., der mit der Klägerin zu 4. nach Roma-Recht verheiratet und Vater der Kläger zu 1. und 3. ist, habe Straftaten i.S. des § 104a Abs. 1 S. 1 Nr. 6 AufenthG begangen, die sich die übrigen Familienmitglieder aufgrund der genannten Regelung zurechnen lassen müssten. Sollte § 104a Abs. 3 S. 1 AufenthG keine unmittelbare Anwendung auf die Klägerin zu 4. finden, weil die Eheschließung lediglich nach Roma-Recht erfolgt sei, sei die Zurechnung der Straftaten in jedem Fall im Rahmen der Soll-Regelung des § 104 Abs. 1 S. 1 AufenthG vorzunehmen. Das Verwaltungsgericht hat in diesem Zusammenhang auf die Gesetzesbegründung (BT-Drs. 16/5065, S. 202) Bezug genommen.

Es erscheint angezeigt, diese Ansicht des Verwaltungsgerichts in einem Hauptsacheverfahren zu überprüfen. Die Regelung des § 104a Abs. 3 S. 1 AufenthG begegnet nach ernstzunehmenden Stimmen in der Literatur verfassungsrechtlichen Bedenken. Die Vorschrift rechnet die aufenthaltsrechtlichen Folgen eines strafrechtlichen Fehlverhaltens nicht nur dem Ausländer zu, der selbst die Straftaten begangen hat, sondern allen mit ihm in häuslicher Gemeinschaft lebenden Familienmitgliedern, hier konkret der Ehefrau mit den minderjährigen Kindern. Es erscheint überprüfungsbedürftig, ob diese Zurechnung mit Art. 6 Abs. 1 GG vereinbar ist. Art. 6 Abs. 1 GG beinhaltet auch die Entscheidungsfreiheit der Eheleute, sich jedenfalls einstweilen für einen getrennten Aufenthaltsort zu entscheiden, wenn die äußeren Umstände dies unumgänglich machen. Für diese Entscheidungsfreiheit lässt die Vorschrift von vornherein keinen Raum. Aufenthaltsrechtlich wird der Ehegatte vielmehr so behandelt, als hätte er die Straftaten selbst begangen (vgl. Funke-Kaiser in GK-AufenthG, § 104a Rdnr. 57; Huber/Göbel-Zimmermann, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2008, Rdnr. 615; HK-AuslR/Fränkel, § 104a AufenthG Rdnr. 22). Zwar wird die Regelung in der Rechtsprechung teilweise auch als verfassungsgemäß qualifiziert (vgl. etwa OVG Berlin-Brandenburg, B. v. 18.01.2008 - 12 S 6.08 - juris). Die verfassungsrechtlichen Zweifel sind durch diese Rechtsprechung aber bislang nicht ausgeräumt worden.

Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass § 104a Abs. 3 S. 1 AufenthG möglicherweise nicht unmittelbar anwendbar ist, weil die Klägerin zu 4. aufgrund der nach Roma-Recht geschlossenen Ehe keine Ehegattin i.S. dieser Vorschrift ist, sodass die dort getroffene Wertung allenfalls im Rahmen der Soll-Regelung des § 104a Abs. 1 S. 1 AufenthG Bedeutung erlangen könnte (zur Anerkennung von nach traditionellem Ritus geschlossenen Ehen vgl. BVerwG, U. v. 22.02.2005 - 1 C 17.03 - NVwZ 2005, 1191). Eine entsprechende Berücksichtigung hat das Verwaltungsgericht, wie dargelegt, unter Bezugnahme auf die Gesetzesbegründung ausdrücklich in Erwägung gezogen. Ob diese Argumentation tragfähig ist, erscheint ebenfalls indes fraglich. § 104a Abs. 1 S. 1 AufenthG stellt nach seinem Wortlaut auf die Person des betreffenden Ausländers ab. Ob die Vorschrift es nach ihrem Wortlaut und ihrem objektiven Zweck zulässt, dass bei eheähnlichen Lebensgemeinschaften das strafrechtliche Fehlverhalten des einen Partners dem anderen Partner - anspruchsvernichtend - zugerechnet wird, erscheint offen, bedarf gleichfalls der Klärung in einem Hauptsacheverfahren. [...]