VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 02.03.2009 - A 11 K 4113/08 - asyl.net: M15298
https://www.asyl.net/rsdb/M15298
Leitsatz:

1. Ein Widerruf der Anerkennung als Asylberechtigter und der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft kommt nur in Betracht, wenn überwiegend wahrscheinlich ist, dass der Ausländer im Heimatstaat vor Verfolgungsmaßnahmen sicher ist. Lassen sich ernsthafte Bedenken nicht ausräumen, so wirken sie sich zugunsten des Ausländers aus und stehen dem Widerruf der Asylanerkennung bzw. der Flüchtlingszuerkennung entgegen.

2. Viele Entscheidungsträger in der türkischen Verwaltung und Justiz nehmen die Reformschritte in der Türkei als von außen oktroyiert und potentiell schädlich wahr, weshalb nach wie vor erhebliche Defizite in der tatsächlichen Umsetzung der Reformen zu verzeichnen sind.

3. Die Sicherheitslage in der Türkei hat sich seit dem Jahr 2008 wesentlich verschlechtert.

4. War ein türkischer Flüchtling vor seiner Ausreise aus der Türkei wegen Unterstützung kurdischer Separatisten festgenommen worden, kann nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass er weiterhin im Blickfeld der türkischen Sicherheitsorgane steht.

 

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Änderung der Sachlage, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Kurden, Separatisten, Verdacht der Unterstützung, PKK, Reformen, politische Entwicklung, Folter, Misshandlungen, Antiterrorismusgesetz, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen, Fisleme, Referenzfälle
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

1. Ein Widerruf der Anerkennung als Asylberechtigter und der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft kommt nur in Betracht, wenn überwiegend wahrscheinlich ist, dass der Ausländer im Heimatstaat vor Verfolgungsmaßnahmen sicher ist. Lassen sich ernsthafte Bedenken nicht ausräumen, so wirken sie sich zugunsten des Ausländers aus und stehen dem Widerruf der Asylanerkennung bzw. der Flüchtlingszuerkennung entgegen.

2. Viele Entscheidungsträger in der türkischen Verwaltung und Justiz nehmen die Reformschritte in der Türkei als von außen oktroyiert und potentiell schädlich wahr, weshalb nach wie vor erhebliche Defizite in der tatsächlichen Umsetzung der Reformen zu verzeichnen sind.

3. Die Sicherheitslage in der Türkei hat sich seit dem Jahr 2008 wesentlich verschlechtert.

4. War ein türkischer Flüchtling vor seiner Ausreise aus der Türkei wegen Unterstützung kurdischer Separatisten festgenommen worden, kann nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass er weiterhin im Blickfeld der türkischen Sicherheitsorgane steht.

(Amtliche Leitsätze)

 

[...]

Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Die Voraussetzungen für einen Widerruf der dem Kläger zuerkannten Flüchtlingseigenschaft liegen nicht vor. [...]

Ein Widerruf der Anerkennung als Asylberechtigter und der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft kommt somit nur in Betracht, wenn sich die zum Zeitpunkt der Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend so verändert haben, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in seinen Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist und nicht aus anderen Gründen erneut Verfolgung droht (vgl. BVerwG, Urt. v. 01.11.2005 a.a.O.; Urt. v. 18.07.2006 - 1 C 15/05 - BVerwGE 126, 243 = NVwZ 2006, 1420 und Urt. v. 20.03.2007 a.a.O). An die Wahrscheinlichkeit des Ausschlusses erneuter Verfolgung sind hohe Anforderungen zu stellen; es muss mehr als nur überwiegend wahrscheinlich sein, dass der Ausländer im Heimatstaat vor Verfolgungsmaßnahmen sicher ist (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 11.12.2008 - A 5 S 1251/06 - juris - und Urt. v. 20.05.2008 - A 10 S 3032/07 - juris -). Lassen sich ernsthafte Bedenken nicht ausräumen, so wirken sie sich zugunsten des Ausländers aus und stehen dem Widerruf der Asylanerkennung bzw. der Flüchtlingszuerkennung entgegen (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.02.1997 - 9 C 9.96 - BVerwGE 104, 97; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 11.12.2008 a.a.O.). Deshalb ist hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung - entgegen der offenbar vom Bundesamt vertretenen Auffassung - nicht gleichbedeutend mit dem hinreichend sicheren Ausschluss der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, dass wegen des Vorfluchtgeschehens noch Verfolgungsmaßnahmen drohen (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 11.12.2008 a.a.O.). [...]

Dem Kläger wurde die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, da er von den türkischen Sicherheitskräften als Unterstützer kurdischer Separatisten angesehen wurde und er deshalb politische Verfolgung erlitten hat. [...]

Das Bundesamt hat in dem angefochtenen Widerrufsbescheid lediglich ausgeführt, die Rechtslage und die Menschenrechtssituation hätten sich deutlich zum Positiven verändert. Konkrete Bezüge auf den Fall des Klägers in seiner speziellen Situation enthält die Begründung des angefochtenen Widerrufsbescheids nicht. Damit hat es das Bundesamt versäumt, die Anerkennungsgründe konkret und nachvollziehbar mit den aktuellen Verhältnissen in der Türkei zu vergleichen. Es fehlt deshalb schon der für den Widerruf nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG erforderliche Nachweis, dass die Voraussetzungen für die Flüchtlingszuerkennung nicht mehr vorliegen.

Unabhängig davon hat sich die maßgeblich in den Blick zu nehmende Situation von individuell vorverfolgten bzw. vorbelasteten türkischen Flüchtlingen kurdischer Volkszugehörigkeit bei einer Rückkehr in die Türkei nicht erheblich bzw. nachhaltig geändert. Entscheidend sind nicht die vom Bundesamt im angefochtenen Bescheid angeführten Veränderungen der allgemeinen politischen Verhältnisse in der Türkei. Maßgebend ist vielmehr, dass das Gericht nicht feststellen kann, dass aufgrund der vom Bundesamt geltend gemachten Umstände die Gefahr einer erneuten individuellen Verfolgung des Klägers entfallen ist.

Eine durch Umsturz hervorgerufene Verbesserung der politischen Verhältnisse im Sinne eines Systemwechsels - eine solche Veränderung hatte dem Gesetzgeber in erster Linie vor Augen gestanden (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.07.2006 a.a.O.) - ist in der Türkei unzweifelhaft nicht eingetreten.

Allerdings haben sich die Verhältnisse in der Türkei seit der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durchaus verändert. Im Zuge der Bemühungen, der Europäischen Union beizutreten, hat das türkische Parlament bislang acht Gesetzespakete verabschiedet (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 25.10.2007 S. 8). Die Kernpunkte sind: Abschaffung der Todesstrafe, Auflösung der Staatssicherheitsgerichte, Reform des nationalen Sicherheitsrates, Zulassung von Unterricht in anderen in der Türkei gesprochenen Sprachen als türkisch, die Benutzung dieser Sprache in Rundfunk und Fernsehen, erleichterte Bestimmungen über die rechtliche Stellung von Vereinen und religiösen Stiftungen, Neuregelung zur Erschwerung von Parteiverboten, Maßnahmen zur Verhütung sowie zur erleichterten Strafverfolgung und Bestrafung von Folter. Im Hinblick auf diese Rechtsänderungen nimmt das Bundesamt an, türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit, die wegen tatsächlicher, unterstellter oder vermeintlicher Unterstützung der kurdischen Guerilla aus der Türkei geflüchtet seien, seien heute bei einer Rückkehr in die Türkei keinen Repressalien mehr ausgesetzt. Diese Annahme trifft jedoch nicht zu. Denn trotz des eingeleiteten Reformprozesses kann für den Kläger die Gefahr von Folter oder unmenschlicher Behandlung im Falle einer Rückkehr in die Türkei nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden.

Mit Inkrafttreten des achten Gesetzespakets am 01.06.2005 hat die Türkei die politischen Kopenhagener Kriterien für die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen hinreichend erfüllt. Gleichwohl hat der Mentalitätswandel in Verwaltung und Justiz mit dem gesetzgeberischen Tempo nicht Schritt halten können (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.01.2007 S. 9 und vom 25.10.2007 S. 28). In einer Rede am 30.10.2008 hat der stellvertretenden Ministerpräsident Cicek eingeräumt, es gebe Mentalitätsprobleme bei der Implementierung der Reformgesetze (vgl. BAMF, Erkenntnisse November 2008 S. 4). Dies ist darauf zurückzuführen, dass viele Entscheidungsträger in Verwaltung und Justiz aufgrund ihrer Sozialisation im kemalistisch-laizistisch-nationalen Staatsverständnis Skepsis und Misstrauen gegenüber der islamisch-konservativen AKP-Regierung hegen und Reformschritte als von außen oktroyiert und potentiell schädlich wahrnehmen (vgl. BAMF, Information Oktober 2008 S.3). So sind im Hinblick auf rechtsstaatliche Strukturen und die Einhaltung von Menschenrechten nach wie vor erhebliche Defizite in der tatsächlichen Umsetzung der Reformen zu verzeichnen, zumal die Reformgesetze häufig durch später erlassene Ausführungsbestimmungen konterkariert wurden (vgl. Oehring, Gutachten vom 06.04.2008 an VG Stuttgart S. 3). In Bezug auf die Meinungsfreiheit haben die acht Gesetzespakete keine Änderungen bewirkt (vgl. Oberdiek, Gutachten vom 28.05.2007 an VG Magdeburg; StZ vom 13.02.2009). Zwar hat das türkische Parlament am 30.04.2008 den Strafrechtsparagraphen 301, der die Beleidigung des "Türkentums" unter Strafe stellte, geändert. Das türkische Strafgesetzbuch enthält jedoch mindestens weitere 40 Vorschriften, die die Meinungsfreiheit einschränken (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008 S. 12). Ein allgemeiner gesellschaftlicher Bewusstseinswandel und eine praktische Umsetzung der Reformen in der Türkei ist noch nicht in einer Weise erfolgt, die es rechtfertigen könnte, von einer nachhaltigen Verbesserung der Menschenrechtslage - auch im Hinblick auf das Verhalten der Sicherheitsorgane - auszugehen. Dies führt dazu, dass die Menschenrechtspraxis nach wie vor hinter den rechtlichen Rahmenbedingungen zurückbleibt.

Trotz der von der türkischen Regierung proklamierten "Null-Toleranz-Politik" kommt es nach wie vor zu Folter und Misshandlungen durch staatliche Kräfte, ohne dass es dem türkischen Staat bislang gelungen ist, dies wirksam zu unterbinden (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008 S. 25; Kaya, Gutachten vom 25.10.2004 an OVG Münster, Gutachten vom 10.09.2005 an VG Magdeburg und vom 08.08.2005 an VG Sigmaringen; Oberdiek, Gutachten vom 02.08.2005 an VG Sigmaringen; Aydin, Gutachten vom 25.06.2005 an VG Sigmaringen; ai, Stellungnahme vom 20.09.2005 an VG Sigmaringen; SFH-Oberdiek, Zur aktuellen Situation - Oktober 2007 S. 8). Eine der Hauptursachen für die immer noch vorkommende Folter ist die nicht effiziente Strafverfolgung von folternden staatlichen Kräften (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008 S. 27). Nach wie vor verurteilen türkische Gerichte in politischen Strafverfahren auf der Grundlage von erfolterten Geständnissen (vgl. Oberdiek, Neue Erkenntnisse zu unfairen Gerichtsverfahren in der Türkei, März 2008; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008 S. 27). Zwar ist die Zahl der Fälle schwerer Folter (z.B. mit sichtbaren körperlichen Verletzungen) deutlich zurückgegangen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008 S. 26). Im Jahr 2007 wurde jedoch im Vergleich zum Vorjahr erneut ein deutlicher Anstieg der gemeldeten Fälle von Folter und Misshandlung festgestellt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008 S. 25; SFH-Oberdiek, Zur aktuellen Situation - Oktober 2007 S. 8; Oberdiek, Gutachten vom 19.03.2008 an VG Karlsruhe und vom 15.08.2007 an VG Sigmaringen). Misshandlungen finden oft nicht mehr in Polizeistationen, sondern an anderen Orten statt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008 S. 26). Berichtet wird weiter über viele unregistrierte Festnahmen und Entführungen, die mit brutalen Formen von Folter einhergehen (vgl. SFH-Oberdiek, Update: Aktuelle Entwicklungen 09.10.2008 S. 10). Die wieder zunehmenden Fälle von Folter, mit der Festgenommene vor allem außerhalb der Haftanstalten und Polizeistationen rechnen müssen, werden auch im Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 05.11.2008 angeprangert (vgl. ec.europa.eu; StZ vom 09.12.2008).

In der Rechtsprechung wird weiter nahezu einhellig die Einschätzung vertreten, dass Folter in der Türkei noch so weit verbreitet ist, dass von einer systematischen, dem türkischen Staat zurechenbaren Praxis, nicht lediglich von Exzesstaten einzelner Angehöriger der Sicherheitskräfte auszugehen ist (vgl. VGH Kassel, Urt. v. 18.04.2008 - 4 UE 168/06.A und Urt. v. 28.08.2008 - 4 UE 386/06.A; OVG Münster, Urt. v. 26.05.2004 - 8 A 3852/03.A - juris = Asylmagazin 10/2004, 30; Urt. v. 19.04.2005 - 8 A 273/04.A - juris -; Urt. v. 27.03.2007 - 8 A 4728/05.A - juris -; Urt. v. 17.04.2007 - 8 A 2771/06.A und Beschl. v. 10.11.2008 - 8 A 2738/08.A - InfAuslR 2009, 85; OVG Koblenz, Urt. v. 12.03.2004 - 10 A 11952/03 - juris - = Asylmagazin 7-8/2004, 27; OVG Weimar, Urt. v. 18.03.2005 - 3 KO 611/99 - Asylmagazin 7-8/2005, 34; OVG Greifswald, Urt. v. 29.11.2004 - 3 L 66/00 - Asylmagazin 1-2/2005, 32; OVG Saarland, Urt. v. 01.12.2004 - 2 R 23/03 - Asylmagazin 4/2005, 30; OVG Bautzen, Urt. v. 19.01.2006 - A 3 B 304/03 - und Urt. v. 25.10.2007 - A 3 B 238/05; VG Berlin, Urt. v. 01.03.2006, Asylmagazin 7-8/2006, 37; Urt. v. 13.10.2006, Asylmagazin 1-2/2007, 32 und Urt. v. 14.1.2008 - VG 36 X 45.08; VG Frankfurt, Urt. v. 02.03.2006, Asylmagazin 6/2006, 20; VG Weimar, Urt. v. 30.06.2005 - 2 K 20643/04 -; VG Göttingen, Urt. v. 12.11.2008 - 1 A 392/06 - juris -; VG Gelsenkirchen, Urt. v. 28.08.2008 - 14a K 2997/08.A - juris -; VG Düsseldorf, Urt. v. 16.06.2006 - 26 K 1747/06 -; Urteil vom 24.08.2006 - 4 K 1784/06.A - juris - und Urteil vom 24.01.2007 - 20 K 4697/05.A - juris -; VG Ansbach, Urteil vom 06.03.2007, AuAS 2007, 141; VG Münster, Urteil vom 08.03.2007 - 3 K 2492/05.A - juris -; VG Bremen, Urt. v. 30.06.2005 - 2 K 1611/04 -).

Die Lage in der Türkei für Sympathisanten/Unterstützer der PKK hat sich entgegen der Ansicht des Bundesamtes in den letzten Jahren auch nicht entspannt, sondern vielmehr verschärft: Seit der Aufkündigung der durch die PKK ausgerufenen Waffenruhe im Juni 2004 kam es vermehrt zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen türkischen Sicherheitskräften und der PKK-Guerilla. Im Jahr 2008 haben diese Auseinandersetzungen deutlich an Härte zugenommen mit der Folge, dass sich die Sicherheitslage wesentlich verschlechtert hat (vgl. Oberdiek, Gutachten vom 07.01.2009 an VG Oldenburg S. 23 f). Außerdem verübte die PKK regelmäßig Bombenanschläge, die zu einer großen Anzahl von Opfern insbesondere unter der Zivilbevölkerung führten (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008 S. 16; SFH-Oberdiek, Update: Aktuelle Entwicklungen 09.10.2008 S. 5 f). Nach den friedlich verlaufenen Newroz-Feierlichkeiten kam es zwischen dem 28. und 31.03.2006 in Diyarbakir und anderen Orten im Südosten der Türkei zu gewalttätigen Ausschreitungen zwischen oft mehreren Tausend meist jugendlichen Demonstranten sowie türkischen Sicherheitskräften (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25.10.2007 S. 16). Seit dem Überfall der PKK am 21.10.2007 auf einen Außenposten der türkischen Armee, bei dem 12 Soldaten getötet und 8 Soldaten verschleppt wurden, ist in der Türkei eine besonders starke nationalistische Stimmung zu spüren, die von den Medien gezielt angeheizt wird; diese Entwicklung wird gefördert durch den Umstand, dass der Einfluss der Ultranationalisten, die meinungsbildend wirken, seit 2005 zugenommen hat (vgl. NZZ vom 24.10.2007 und vom 30.10.2007; StZ vom 11.06.2008 und vom 06.10.2008; Oehring, Gutachten vom 06.04.2008 an VG Stuttgart S. 22). Es kam zu zahlreichen Übergriffen gegen Kurden und mehrere Büros der pro-kurdischen Partei DTP wurden angezündet (vgl. NZZ vom 30.10.2007). Seit Dezember 2007 unternimmt das Militär grenzüberschreitende Militäroperationen gegen PKK-Stellungen im Nordirak (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008 S. 16). Der türkische Generalstab hat zudem mehrere Gebiete im Südosten der Türkei zu zeitweiligen Sicherheitszonen und militärischen Sperrgebieten erklärt, deren Betreten für Ortsfremde verboten ist und einer strengen Kontrolle unterliegt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008 S. 16). Im September 2008 wurde die Zahl dieser Sperrgebiete weiter erhöht (vgl. SFH-Oberdiek, Update: Aktuelle Entwicklungen 09.10.2008 S. 4).

In Reaktion auf die Zunahme der Spannungen im Südosten der Türkei hat das türkische Parlament am 29.06.2006 das Anti-Terror-Gesetz verschärft. Die Verschärfungen sehen eine Wiedereinführung des abgeschafften Art. 8 ATG und eine weite Terrordefinition vor (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008 S. 12). Außerdem wurde die Verschärfung der Strafbarkeit bei Folter und Misshandlung faktisch revidiert (vgl. ai, Stellungnahme vom 29.10.2006 an VG Ansbach). Damit werden Bürgerrechte, die im Hinblick auf einen EU-Beitritt durch die Reformgesetze gestärkt wurden, wieder eingeschränkt. Diese Gesetzesverschärfung zeigt, dass der Reformprozess sich nicht nur verlangsamt hat, sondern deutliche Rückschritte zu verzeichnen sind (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008 S. 24; SFH-Oberdiek, Update: Aktuelle Entwicklungen 09.10.2008 S. 1). Aufgrund der zunehmenden militärischen Auseinandersetzungen zwischen der PKK und dem türkischen Militär wurde die Debatte über eine weitere Demokratisierung in der Türkei nunmehr von der Sicherheitsfrage verdrängt (vgl. NZZ vom 24.10.2007). Angesichts dieser Entwicklung ist völlig offen, ob der begonnene legislative Reformprozess, der sich im Wesentlichen auf die bisherigen Bemühungen der Türkei auf Aufnahme in die Europäische Union stützt, in Zukunft konsequent fortgeführt und insbesondere auch umgesetzt wird.

Es kann auch nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der Kläger aufgrund des Verdachts, Unterstützer der PKK zu sein, bei einer Einreise in die Türkei einem intensiven Verhör unterzogen wird und dabei Gefahr läuft, misshandelt oder gefoltert zu werden (vgl. Kaya, Gutachten vom 08.08.2005 an VG Sigmaringen und vom 09.08.2006 an VG Berlin; Oberdiek, Gutachten vom 15.08.2007 an VG Sigmaringen; Taylan, Gutachten vom 21.12.2007 an VG Sigmaringen). Rückkehrer müssen sich - wie jeder andere in die Türkei Einreisende auch - an der Grenze einer Personenkontrolle unterziehen. Im Normalfall kann ein türkischer Staatsangehöriger, der ein gültiges türkisches, zur Einreise berechtigendes Reisedokument besitzt, die Grenzkontrolle, insbesondere am Flughafen, ungehindert passieren (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008 S. 33). Wird der türkischen Grenzpolizei allerdings die Tatsache der Abschiebung bekannt oder verfügt der Einreisende nicht über gültige türkische Reisedokumente, wird der Betreffende in den Diensträumen der Polizeiwache zum Zwecke der eingehenden Befragung festgehalten (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008 S. 32; Dinc, Gutachten vom 18.06.2004 an VG Sigmaringen). Falls die betreffende Person durch Haftbefehl oder Festnahmebefehl gesucht wird, kann die Grenzbehörde dies ohne Weiteres durch Nachforschungen feststellen (vgl. ai, Stellungnahme vom 24.08.2004 an VG Sigmaringen). Bei nicht im Computer als gesucht gespeicherten Personen werden Nachforschungen bei der Staatsanwaltschaft und den Sicherheitsbehörden des Registrierungs- und Heimatortes sowie bei der Behörde zur Bekämpfung des Terrors und beim Präsidium der Sicherheitsbehörde angestellt (vgl. Kaya, Gutachten vom 10.07.2004 an VG Sigmaringen). Da Geheimdienste, Polizei und Gendarmerie Datenblätter (sog. Fisleme) über auffällig gewordene Personen und insgesamt Informationen, die vornehmlich die linke und prokurdische Szene betreffen, führen, werden bei den Nachforschungen der Grenzbehörde auch Verfahren, die mit einem Freispruch endeten, sowie Vorstrafen trotz Löschung im Strafregister bekannt (vgl. Auswärtiges Amt, Auskünfte vom 11.04.2003 an VG Stuttgart und vom 10.03.2006 an OVG Lüneburg; Oberdiek, Gutachten vom 17.02.1997 an VG Hamburg und vom 24.05.2004 an VG Sigmaringen; Kaya, Gutachten vom 10.07.2004 an VG Sigmaringen; Aydin, Gutachten vom 01.06.2004 an VG Sigmaringen; Dinc, Gutachten vom 18.06.2004 an VG Sigmaringen; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Gutachten vom 23.02.2006 S. 13; Deutsche Botschaft, Auskunft vom 10.02.2006 an BAMF). Sollte sich bei dieser Überprüfung herausstellen, dass gegen den Betreffenden ein Separatismus- oder Terrorismusverdacht besteht, muss dieser mit einer Überstellung an die Anti-Terror-Abteilung der Polizei und damit verbunden mit einem verschärften Verhör rechnen, wobei es hierbei zu menschenrechtswidriger Behandlung kommen kann (vgl. Oberdiek, Gutachten vom 15.08.2007 an VG Sigmaringen; OVG Münster, Urt. v. 19.04.2005 - 8 A 273/04.A - juris -; OVG Lüneburg, Urt. v. 18.07.2006 - 11 LB 264/05 - juris -; OVG Koblenz, Urt. v. 12.03.2004 - 10 A 11952/03 - juris -). Hiervon ausgehend wird der Kläger bei den Kontrollen an der Grenze oder am Flughafen insofern auffallen, als er keinen Reisepass besitzt und sich seit längerer Zeit nach Durchführung eines Asylverfahrens in Deutschland aufgehalten hat. Im Rahmen der eingehenden Befragung oder aufgrund der beschriebenen Nachforschungen wird herauskommen, dass der Kläger vor seiner Ausreise aus der Türkei wegen Unterstützung der PKK festgenommen und mehrere Tage festgehalten worden ist. Der Kläger läuft somit Gefahr, der politischen Polizei überstellt zu werden.

Diese Gefährdungssituation wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass dem Auswärtigen Amt in jüngerer Zeit kein Fall bekannt geworden ist, in dem ein aus der Bundesrepublik in die Türkei zurückgekehrter abgelehnter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten gefoltert oder misshandelt wurde (vgl. Lagebericht vom 11.09.2008 S. 32). [...]

Nach allem ist noch keine erhebliche und dauerhafte Veränderung der Lage in der Türkei eingetreten, so dass die Voraussetzungen für die seinerzeit erfolgte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht weggefallen sind (ebenso der überwiegende Teil der in den letzten Monaten bekannt gewordenen Gerichtsentscheidungen: u.a. OVG Schleswig, Beschl. v. 22.04.2008 - 4 LA 24/08 -; OVG Bautzen, Urt. v. 23.03.2007 - A 3 B 372/05 -; OVG Münster, Beschl. v. 10.11.2008 - 8 A 2738/08.A - InfAuslR 2009, 85 und Urt. v. 27.03.2007 - 8 A 4728/05.A - juris = Asylmagazin 7-8/2007, 28; VG Ansbach, Urt. v. 16.10.2008 - AN 1 K 08.30318 - juris - und Urt. v. 12.03.2008 - AN 1 K 07.30561 - juris -; VG Düsseldorf, Urt. v. 20.08.2008 - 20 K 4991/07.A - juris -; VG Minden, Urt. v. 10.03.2008 - 8 K 831/07.A; VG Göttingen, Urt. v. 12.11.2008 - 1 A 392/06 - juris -; VG Hannover, Urt. v. 22.09.2008 - 1 A 4852/07 -; VG Aachen, Urt. v. 26.11.2008 - 6 K 1742/08.A - juris - und Urt. v. 26.03.2008 - 6 K 1094/07.A - juris -; VG Augsburg, Urt. v. 19.08.2008 - Au 4 K 08.30067 -; VG Berlin, Urt. v. 10.07.2008 - VG 36 X 45.08 und Urt. v. 25.01.2008, Asylmagazin 3/2008, 17; VG Braunschweig, Urt. v. 16.12.2008 - 5 A 277/08 - juris -; VG Gelsenkirchen, Urt. v. 28.08.2008 - 14a K 2997/08.A - juris -; VG Karlsruhe, Urt. v. 18.08.2008 - A 7 K 277/07; VG München, Urt. v. 26.06.2008 - M 24 K 08.50189 - juris - und Urt. v. 07.02.2008, AuAS 2008, 81; VG Stade, Urt. v. 21.01.2009 - 4 A 1817/06 - juris -; VG Stuttgart, Urt. v. 29.01.2009 - A 8 K 4377/07 - juris -). Dass die Beklagte im Lichte neuerer Erkenntnisse die konkrete Verfolgungsgefahr für den Kläger anders bewertet, also aus heutiger Sicht bei der damaligen Sachlage keinen Flüchtlingsstatus mehr gewähren würde, rechtfertigt den Widerruf der Flüchtlingseigenschaft nicht (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.09.2000 a.a.O und Urt. v. 08.05.2003 a.a.O.). Der Kläger war vor seiner Ausreise aus der Türkei wegen Unterstützung kurdischer Separatisten inhaftiert und misshandelt worden. Es kann daher nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass er weiterhin im Blickfeld der türkischen Sicherheitsorgane steht und im Falle einer Rückkehr asylrechtlich relevanten Maßnahmen ausgesetzt sein wird. Damit ist für den angefochtenen Widerrufsbescheid des Bundesamtes kein Raum. [...]