Widerruf der Flüchtlingsanerkennung einer Kurdin aus der Türkei wegen exilpolitischen Engagements niedrigen Profils; keine Gefahr der Sippenhaft.
Widerruf der Flüchtlingsanerkennung einer Kurdin aus der Türkei wegen exilpolitischen Engagements niedrigen Profils; keine Gefahr der Sippenhaft.
(Leitsatz der Redaktion)
[...]
Die zulässige Klage ist unbegründet.
Der Bescheid des Bundesamtes der Beklagten vom 21.12.2007 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 AsylVfG für den Widerruf der Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG waren zum gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung gegeben. [...]
Zwar müssen nach ständiger Rechtsprechung der Kammer Personen, die den türkischen Behörden als Sympathisanten bzw. Unterstützer linksorientierter oder separatistischer Organisationen bekannt geworden bzw. in einen entsprechenden ernsthaften Verdacht geraten sind, im Rahmen von polizeilichen Ermittlungen in der Türkei immer noch mit der Anwendung von Folterpraktiken rechnen, die darauf abzielen, sie wegen ihrer politischen Überzeugung zu treffen und die dem türkischen Staat auch zurechenbar sind (vgl. hierzu die Urteile der Kammer vom 11.09.2008 - 6 K 130/07 - und vom 16.05.2008 - 6 K 113/07 –). Dies gilt ungeachtet der neueren innenpolitischen Entwicklung im Heimatland der Klägerin, die zu Verbesserungen der Menschenrechtslage - auch bezüglich Folter und Misshandlung - geführt hat (vgl. OVG des Saarlandes, Urteil vom 03.04.2008 - 2 A 312/07 –).
Hinsichtlich der Klägerin ist jedoch nicht festzustellen, dass sie sich in einer Weise exilpolitisch als Gegnerin des türkischen Staates exponiert hat, die auch jetzt noch, d.h. zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG), im Falle einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgungsmaßnahmen befürchten lassen. Insoweit ist maßgeblicher Bedeutung, dass es sich bei der von ihr geltend gemachten Teilnahme an Demonstrationen und sonstigen Veranstaltungen (z.B. einem Hungerstreik) um exilpolitische Aktivitäten niedrigen Profils handelt. Veranstaltungen wie Demonstrationen, Protestaktionen und Hungerstreiks sind ein Massenphänomen, bei denen die Teilnehmer überwiegend nur die Kulisse für die eigentlich agierenden Wortführer abgeben. Eine exponierte exilpolitische Betätigung im Zusammenhang mit öffentlichen Veranstaltungen liegt regelmäßig nur dann vor, wenn der Betreffende einen bestimmenden Einfluss auf die Veranstaltung genommen und in den Augen der türkischen Sicherheitskräfte als "Aufwiegler" oder Anstifter zum Separatismus agiert hat (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 26.10.2005 - 8 A 1949/04.A -, bei Juris). [...]
Des Weiteren ergibt sich unter dem Gesichtspunkt der Sippenhaft keine Gefährdung der Klägerin. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts des Saarlandes kann nämlich jedenfalls für den Bereich der Westtürkei nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass Familienangehörige von Personen, denen wegen (vermeintlicher) politischer Aktivitäten Verfolgung droht, der Gefahr eigener staatlicher Verfolgung - unter dem Gesichtspunkt der Sippen- oder Geiselhaft - ausgesetzt sind (vgl. das Urteil der Kammer vom 30.08.2005 - 6 K 158/04 - unter Hinweis auf die Urteile vom 09.11.1992 - 6 K 160/92 - vom 16.04.1992 - 6 K 159/88 -, vom 16.05.1991 - 6 K 148/88 - oder vom 02.05.1991 - 6 K 291/88 - vom 21.03.1995 -6 K 359/94.A-, vom 13.07.1994 -6 K 94/94.A- sowie vom 12.06.1996 - 6 K 59/93.A -). Diese Einschätzung der Kammer wird durch neuere Auskünfte und Gutachten belegt. (Vgl. Kamil Taylan, Gutachten vom 31.06.2004 an VG Sigmaringen, Riza Dinc, Gutachten vom 18.06.2004 an VG Sigmaringen, Osman Aydin, Gutachten vom 01.06.2004 an VG Sigmaringen).
Auch nach der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes kann von einer Regelvermutung politischer Verfolgung naher Angehöriger nicht ausgegangen werden. Nahe Familienangehörige separatistischer Aktivisten, die sich entweder in der Türkei oder im Ausland exponiert für die kurdische Sache eingesetzt haben und den türkischen Behörden bekannt sind oder sein müssen, sind in erster Linie dann gefährdet, wenn diese des Gesuchten selbst, da untergetaucht oder ausgereist, nicht habhaft werden können. Mit gegen Familienangehörige ergriffenen Maßnahmen wird vor allem das Ziel verfolgt, Informationen sowohl über die gesuchte Person selbst (hinsichtlich des Aufenthalts, Tätigkeiten, Kontakte) als auch über die Unterstützung des Gesuchten durch die Familienangehörigen zu erhalten. Die Erkenntnislage rechtfertigt aber nicht die Prognose, dass nahen Angehörigen (z.B. Ehegatten, Eltern und Geschwistern) von landesweit gesuchten Aktivisten einer militanten staatsfeindlichen Organisation regelmäßig Sippenhaft mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Vielmehr ist durch Einzelfallprüfung unter Berücksichtigung der konkreten Fallumstände zu ermitteln, ob solchen Angehörigen ausnahmsweise nach der Rückkehr in die Türkei dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht (vgl. Urteil des OVG des Saarlandes vom 08.09.2004 - 2 R 24/03 - unter Hinweis auf die Urteile vom 08.05.1996 - 9 R 80/93 -, vom 02.10.1996 – 9 R 148/93 -, vom 18.02.1999 - 9 R 21/97 - und vom 29.03.2000 - 9 R 3/99 - sowie die Beschlüsse vom 01.12.1999 - 9 Q 44/98 -, vom 29.11.1999 - 9 Q 172/98 -, vom 13.08.2001 - 9 Q 126/00 -, vom 07.08.2002 - 9 Q 84/00 - und vom 10.03.2003 - 2 Q 19/03; ebenso OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19.04.2005 - 8 A 273/04.A -, bei Juris). Von dieser Rechtsprechung abzuweichen, bietet die aktuelle Erkenntnislage keinen Anlass (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 11.09.2008, S. 19; Kaya, Gutachten vom 10.06.2006 an VG Wiesbaden; Osman Aydin, Gutachten vom 16.06.2006 an VG Wiesbaden).
Im Falle der Klägerin ist nicht ersichtlich, dass ihr aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalles, insbesondere im Hinblick auf die Aktivitäten ihres Bruders H. für die PKK und dessen Bekanntheit die Gefahr von Sippenhaft droht. Zwar werden - wie erwähnt - die nach türkischem Recht aussagepflichtigen Familienangehörigen von vermeintlichen oder tatsächlichen Mitgliedern und Sympathisanten der PKK zum Beispiel über dessen Aufenthalt befragt (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 11.09.2008, S. 19) Die Gefahr einer Befragung der Klägerin nach ihrem Bruder einschließlich damit einhergehender asylerheblicher Misshandlungen besteht hier indes schon deshalb nicht mit der notwendigen beachtlichen Wahrscheinlichkeit, weil der als "Sippenhaftvermittler" in Betracht kommende Bruder der Klägerin bereits vor einigen Jahren verstorben ist mit der Folge, dass die türkischen Sicherheitskräfte, die davon Kenntnis haben, kein auf ihn bezogenes Ergreifungsinteresse mehr haben (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19.04.2005 - 8 A 273/04.A -, bei Juris). [...]