VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Urteil vom 04.04.2006 - 5 E 969/05.A - asyl.net: M15319
https://www.asyl.net/rsdb/M15319
Leitsatz:

Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich Bangladeschs wegen Entwicklungsstörung, da die erforderliche medizinische Behandlung dort nicht möglich ist; der drohende Eintritt einer geistigen Behinderung stellt eine wesentliche Gesundheitsgefahr i.S.d. § 60 Abs. 7 AufenthG dar.

 

Schlagwörter: Bangladesch, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, Kinder, Entwicklungsstörung, Mikrocephalie, Behinderung, geistige Behinderung, medizinische Versorgung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich Bangladeschs wegen Entwicklungsstörung, da die erforderliche medizinische Behandlung dort nicht möglich ist; der drohende Eintritt einer geistigen Behinderung stellt eine wesentliche Gesundheitsgefahr i.S.d. § 60 Abs. 7 AufenthG dar.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Dem Kläger steht jedoch der geltend gemachte Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich Bangladesch zu. [...]

Der Kläger leidet an einer behandlungsbedürftigen Erkrankung. Dies steht für die Einzelrichterin nach Auswertung der von der Klägerseite eingereichten ärztlichen und anderen Berichte fest. Dem 6 ½-jährigen Kläger wird seit Anfang des Jahres 2005 von den ihn behandelnden Ärztinnen des Sozialpädiatrischen Zentrums der Städtischen Kliniken Frankfurt am Main-Höchst eine "globale Entwicklungsstörung mit besonderer Beeinträchtigung der Sprachentwicklung und Sensomotorik" bescheinigt (Berichte des Zentrums vom 25.01.2005, 08.06.2005, 24.11.2005 und 16.02./15.03.2006). Dabei ist inzwischen die bei ihm vorhandene Mikrocephalie (d.h. pathologische Verkleinerung von Umfang und Inhalt des Schädels) nicht mehr progredient; die Entwicklungsstörung wird aber nach wie vor gemäß dem Bericht des Zentrums - Frau Dr. med. ..., Leitende Ärztin des SPZ, und Frau ..., Kinderärztin - vom 16.02./15.03.2006 als gravierend eingestuft. [...]

Die Krankheit des Klägers wird auch medizinisch behandelt und betreut. Diese Behandlung und Betreuung ist zur "Gesundung" bzw. zur Verhinderung der Verschlimmerung des Gesundheitszustandes, nämlich des Eintritts einer geistigen Behinderung des Klägers auch erforderlich. So heißt es schon im Arztbericht des SPZ vom 25.01.2005, dass die Entwicklungsstörung des Klägers umfangreich sei, "so dass eine intensive Fördermaßnahme aus medizinischer Sicht dringend indiziert scheine". Auf Grund des komplexen Störungsbildes werde eine "kontinuierliche Weiterbehandlung" in Zukunft sicher weiter erforderlich sein. Diese Einschätzung wird in den Berichten des SPZ vom 08.06.2005 und 16.02./15.03.2006 bestätigt und darin weiter hervorgehoben, dass der bisherige Verlauf gezeigt habe, dass die Entwicklungsstörung des Klägers zwar gravierend aber nicht therapierefraktär sei. Abschließend wird ausgeführt: "Er hat unter den bisher eingeleiteten Fördermaßnahmen bereits deutliche Fortschritte gemacht, so dass eine weitere, intensive Förderung des Kindes aus medizinischer Sicht dringend indiziert ist, um sein Potential voll auszuschöpfen und eine geistige Behinderung abzuwenden." Im Bericht des Zentrums vom 24.11.2005 ist von einem bestehenden "Behandlungskonzept" die Rede. Das SPZ, in welchem der Kläger interdisziplinär zum Teil behandelt wird (im Bericht vom 16.02./15.03.2006 ist z.B. von einem interdisziplinären Gespräch zwischen der Kinderärztin, der Heilpädagogin und der Logopädin, die alle mit dem Kläger befasst sind, die Rede) und das weitere Fördermaßnahmen empfiehlt, ist als sozialpädiatrisches Zentrum ein Zentrum der Kinderheilkunde. Sozialpädiatrie wird definiert als "interdisziplinäres Arbeitsgebiet der Kinderheilkunde unter Berücksichtigung von u.a. Psychologie, Sozialpädagogik, Kinderkrankenpflege, Logopädie, Spieltherapie und Physiotherapie" (Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 260. Auflage).

Der Kläger bedarf also zur Behandlung seiner Krankheit (der gravierenden globalen Entwicklungsstörung) und zur Verhinderung eines Eintritts einer geistigen Behinderung nicht nur "einer speziellen Förderung" in Form eines speziellen Förderplans in einer Schule für Behinderte oder allein einer sozialpädagogischen Unterstützung (so der jeweilige Sachverhalt, der den das Vorliegen der Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG jeweils verneinenden Urteilen des VG Düsseldorf vom 26.11.2002 - 14 K 1399/02.A - bzw. des OVG Bremen vom 16.12.1999 - 1 B 392/99 - zu Grunde lag), sondern jedenfalls auch einer medizinischen Behandlung. Die für ihn erforderlichen Therapien und Untersuchungen können ihm keineswegs allein durch seine Eltern zu Teil werden. Die Behandlungs- und Betreuungsmaßnahmen haben das Ziel, eine ohne diese Maßnahmen zu befürchtende Verschlimmerung einer Erkrankung (des Einritts einer geistigen Behinderung) abzuwenden. Demgegenüber läge das Tatbestandsmerkmal des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG einer Verschlimmerung der Krankheit ohne medizinische Behandlung nicht vor, wenn eine wesentliche Besserung bzw. die Verhinderung einer (geistigen) Behinderung durch die erfolgende Betreuung und Behandlung nicht zu erwarten wäre und diese Maßnahmen nicht darauf gerichtet wären, eine ohne sie zu befürchtende Verschlimmerung der Erkrankung abzuwenden (so z.B. auch VG Berlin, Urteil vom 13.10.2003 - 34 X 87.03 -).

Die für den Kläger zur Abwendung einer geistigen Behinderung erforderliche sozialpädiatrische Betreuung und Behandlung steht ihm in Bangladesch nicht zur Verfügung. Dies ergibt sich hinreichend deutlich aus den Berichten des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Volksrepublik Bangladesch. Auch im aktuellsten Bericht vom 28.02.2006 führt das AA aus, dass in Bangladesch eine beitragsabhängige medizinische Versorgung "niedrigen Standards" gewährleistet sei. Überlebensnotwendige Maßnahmen könnten in bestimmten Krankenhäusern durchgeführt werden. Im Gegensatz zu Ambulanten seien in Einzelfällen längerfristige psychologische und psychiatrische Behandlungen und Betreuungen nach ärztlichen Auskünften in Bangladesch nur schwer zu gewährleisten. Daraus folgt zwangsläufig, dass es in Bangladesch keine interdisziplinäre Betreuung und Behandlung (früh-) kindlicher Entwicklungsstörungen einschließlich regelmäßiger medizinischer Kontrollen und logopädischer und ergotherapeutischer Behandlung gibt.

Dem Kläger droht bei einer Rückkehr nach Bangladesch ohne eine weitere bzw. neue Behandlung seiner Entwicklungsstörung auch eine wesentliche Verschlechterung seines Gesundheitszustandes im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Zwar sind die zu erwartenden Gesundheitsfolgen nicht lebensbedrohlich. Dies fordert die gesetzliche Regelung jedoch auch nicht. Die Gefahr für das Leben steht neben der Gefahr für den Leib (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 25.11.1997, a.a.O. zur Vorgängervorschrift § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG). Der zu erwartende Eintritt einer geistigen Behinderung des Klägers stellt aber eine wesentliche Gesundheitsgefahr dar. Wie die Kinderärztin Frau Dr. ... vom SPZ auch der Einzelrichterin am 27.03.2006 telefonisch bestätigt hat, sähe die Behinderung, die durch die Behandlung des Klägers abgewendet werden soll, voraussichtlich so aus, dass der Kläger nicht in der Lage sein würde, "ein Leben auf eigenen Füßen zu führen". Das Drohen einer derartigen geistigen Behinderung stellt zur Überzeugung des Gerichts eine erhebliche (Gesundheits-) Gefahr für ihn dar. [...]