VG Cottbus

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Zitieren als:
VG Cottbus, Urteil vom 20.02.2009 - 7 K 848/08.A - asyl.net: M15341
https://www.asyl.net/rsdb/M15341
Leitsatz:
Schlagwörter: Verfahrensrecht, Verordnung Dublin II, Drittstaatenregelung, normative Vergewisserung, Griechenland, Selbsteintrittsrecht, Anspruch, Übernahmeersuchen, Fristen, Fristbeginn, Asylantrag, Überstellung, Untertauchen
Normen: AsylVfG § 27a; EG VO Nr. 343/2003 Art. 3 Abs. 2; EG VO Nr. 343/2003 Art. 20 Abs. 2; EG VO Nr. 343/2003 Art. 17 Abs. 1 S. 2; AsylVfG § 14 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Der Bescheid der Beklagten vom 5. September 2008 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Durchführung eines Asylverfahrens in der Bundesrepublik Deutschland. Für sein Asylbegehren ist innerhalb der Europäischen Gemeinschaften Griechenland zuständig. [...]

1. Maßgeblich für die Entscheidung, den Kläger auf die gemeinschaftsrechtliche Zuständigkeit Griechenlands für die materielle Prüfung seines Asylbegehrens zu verweisen, ist das sog. Prinzip der normativen Vergewisserung, welches das Bundesverfassungsgericht entwickelt hat. Danach gelten die Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaften kraft Entscheidung des Verfassungsgesetzgebers als sicher und können andere Staaten durch den (einfachen) Gesetzgeber aufgrund der Feststellung, dass in ihnen die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sichergestellt ist, zu sicheren Drittstaaten bestimmt werden (vgl. Art. 16a Abs. 2 GG). Diese normative Vergewisserung bezieht sich darauf, dass der Drittstaat einem Betroffenen, der sein Gebiet als Flüchtling erreicht hat, den nach der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK gebotenen Schutz vor politischer Verfolgung und anderer ihm im Herkunftsstaat drohenden schwerwiegenden Beeinträchtigungen seines Lebens, seiner Gesundheit oder seiner Freiheit gewährt. Damit entfällt das Bedürfnis, ihm Schutz in der Bundesrepublik Deutschland zu bieten (vgl. zum Ganzen BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 –, BVerfGE 94, 49 ff.). Nach dieser verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung kann ein Ausländer eine Prüfung, ob der Zurückweisung oder sofortigen Rückverbringung in den Drittstaat ausnahmsweise Hinderungsgründe entgegenstehen, nur dann erreichen, wenn es sich aufgrund bestimmter Tatsachen aufdrängt, dass der Asylbegehrende von einem Sonderfall betroffen ist, der seiner Eigenart nach nicht im Rahmen des Konzepts normativer Vergewisserung berücksichtigt werden konnte und damit von vornherein außerhalb der Grenzen liegt, die der Durchführung eines solchen Konzepts aus sich selbst heraus gesetzt sind (vgl. BVerfG ebenda). Ein derartiger Sonderfall ist nicht ersichtlich; vielmehr steht die bestehende Verpflichtung Griechenlands, die gemeinschaftsrechtlichen Mindestanforderungen an die materielle Prüfung von Asylanträgen und an die menschenrechtskonforme Behandlung und Unterbringung von Asylbegehrenden zu erfüllen, gerade inmitten dieses Konzepts.

2. Aus dem Antrag, die Bundesrepublik Deutschland möge von ihrem Selbsteintrittsrecht gemäß § 3 Abs. 2 Dublin-II-VO Gebrauch machen, lässt sich nichts Gegenteiliges herleiten. Denn das Selbsteintrittsrecht besteht allein im öffentlichen Interesse; der jeweilige Asylbegehrende hat weder einen gebundenen Anspruch auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO noch einen Anspruch auf Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts. Dies ergibt sich aus folgendem: Weder das Dublin-II-Abkommen noch das Vorgängerabkommen enthalten Konkretisierungen, unter welchen Voraussetzungen das Selbsteintrittsrecht von den Mitgliedsstaaten ausgeübt werden soll. In der Begründung des Verordnungsentwurfs spricht die Kommission von politischen, humanitären oder praktischen Erwägungen (vgl. dazu Schröder, Die EU-Verordnung zur Bestimmung des zuständigen Asylstaats, ZAR 2003, 126, 128). Eine Ausübung des Selbsteintritts kommt nur dann in Frage, wenn außergewöhnliche humanitäre Gründe, die an die Person des einzelnen Asylbewerbers anknüpfen, vorliegen. Ein Selbsteintrittsrecht kann aufgrund der Normsystematik nur in Einzelfällen – bei einem Anknüpfungspunkt an Person und besondere persönliche Verhältnisse des Asylsuchenden – möglich sein und nicht, wenn – wie hier – die Gesamtsituation in Griechenland gerügt wird. Denn dies würde zu einer Umgehung der Vorgaben des Verordnungsgebers führen. Dürfte an die allgemeinen Verhältnisse in Griechenland angeknüpft werden, müsste das Selbsteintrittsrecht stets ausgeübt werden, wenn sich aus der Anwendung der Dublin-II-VO die Zuständigkeit Griechenlands ergibt; dies würde die Dublin-II-VO faktisch leerlaufen lassen. Der Wille des Verordnungsgebers, die Last der Asylverfahren innerhalb der Staaten der EU zu verteilen, darf nicht durch Behörden und Gerichte im Wege einer flächendeckenden Ausübung des Selbsteintrittsrechts unterlaufen werden. Das Gericht verkennt nicht die desolate Situation für Asylbewerber in Griechenland, sieht sich jedoch aufgrund der geltenden Gesetzeslage – die angesichts der Verankerung im Grundgesetz selbst, Art. 16a Abs. 2 GG, auch nicht durch eine verfassungskonforme Auslegung modifiziert werden kann – außer Stande, dem Kläger zum gegenwärtigen Zeitpunkt (nämlich vor Ablauf der in Art. 20 Abs. 2 Dublin-II-VO bezeichneten Frist, dazu nachfolgend unter 3.) einen Anspruch auf Durchführung eines Asylverfahrens in Deutschland zuzusprechen; es ist Aufgabe der Organe der Europäischen Union, die Umsetzung der einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Normen, insbesondere der Qualifikationsrichtlinie, in Griechenland durchzusetzen (ebenso VG München, Urteil vom 30. Mai 2008 – M 16 K 07.51049 –, juris; entgegen VG Gießen, Beschluss vom 25. April 2008 – 2 L 201/08.GI.A –, juris).

3. Die nach alledem bestehende Zuständigkeit Griechenlands für die materielle Prüfung des Asylbegehrens des Klägers ist auch nicht durch Ablauf der in der Dublin-II-VO vorgesehenen Fristen erloschen mit der Folge, dass die Zuständigkeit auf die Beklagte übergegangen wäre. Dies gilt sowohl für die Frist des Art. 17 Abs. 1 Dublin-II-VO – dazu nachfolgend a) – als auch für die Frist des Art. 20 Abs. 2 Dublin-II-VO – dazu nachfolgend b) –.

a) Die Zuständigkeit für die materielle Prüfung des Asylbegehrens des Klägers ist nicht durch Fristablauf im Sinne des Art. 17 Abs. 1 Satz 2 Dublin-II-VO auf die Beklagte übergegangen. Das Übernahmeersuchen an Griechenland ist fristgerecht im Sinne des Art. 17 Abs. 1 Dublin-II-VO gestellt worden. Nach dieser Vorschrift ist das Übernahmeersuchen innerhalb von drei Monaten nach Einreichung des Antrages im Sinne von Art. 4 Abs. 2 Dublin-II-VO zu stellen. Diese Frist hat die Beklagte gewahrt, indem sie sich am 1. Februar 2008 an Griechenland wandte. Denn die Dreimonatsfrist ist erst mit der Asylantragstellung im Sinne des § 14 Abs. 1 AsylVfG am 8. November 2007 und nicht schon mit der Bekundung des Asylbegehrens gegenüber der Erstaufnahmestelle am 30. Oktober 2007 in Lauf gesetzt worden. Dies ergibt sich aus der Bezugnahme auf Art. 4 Abs. 2 Dublin-II-VO in Art. 17 Abs. 1 Satz 1 Dublin-II-VO. Nach Art. 4 Abs. 2 Satz 1 Dublin-II-VO gilt ein Asylantrag erst dann als gestellt, wenn der zuständigen Behörde ein Formblatt oder Protokoll zugegangen ist; aus Art. 4 Abs. 2 Satz 2 Dublin-II-VO ergibt sich, dass der Verordnungsgeber dieser Verordnung zwischen der Abgabe einer auf die Einleitung eines Asylverfahrens gerichteten Willenserklärung und dem Zeitpunkt, zu dem der Antrag als gestellt gilt, unterscheidet. Hieraus folgt, dass die Unterscheidung zwischen dem Bekunden des Asylwunsches und der formwirksamen Asylantragstellung im Sinne des § 14 Abs. 1 AsylVfG entgegen der in der mündlichen Verhandlung geäußerten Rechtsmeinung des Klägers durchaus im Gemeinschaftsrecht, nämlich in der Dublin-II-VO selbst, angelegt ist; bei der zuständigen Behörde unter Verwendung des vorgeschriebenen Formulars ist der Asylantrag erst am 8. November 2007 gestellt worden. Auf die anderenfalls zu prüfende weitere Frage, ob der Kläger aus einer Nichteinhaltung dieser Frist überhaupt etwas zu seinen Gunsten herleiten könnte, oder ob eine etwaige Fristversäumnis möglicherweise allein Griechenland berechtigt hätte, die Übernahme abzulehnen, so dass eine Fristversäumnis durch die gleichwohl (fiktiv) erklärte Übernahmebereitschaft Griechenlands möglicherweise gegenstandslos geworden wäre, kommt es danach nicht mehr an.

b) Die Zuständigkeit für die materielle Prüfung des Asylbegehrens des Klägers ist auch nicht durch Fristablauf im Sinne des Art. 20 Abs. 2 Dublin-II-VO auf die Beklagte übergegangen. Nach dieser Vorschrift wird das Land des tatsächlichen Aufenthalts für das Asylverfahren zuständig, wenn die Überstellung an das zunächst und vorrangig zuständige Land nicht innerhalb von sechs – in Haftfällen zwölf, in Untertauchensfällen 18 – Monaten erfolgt. Diese Frist ist vorliegend noch nicht verstrichen. In Lauf gesetzt wird die Frist mit der Erklärung der Übernahmebereitschaft durch den zunächst zuständigen Staat. Das Übernahmeersuchen der Beklagten ist Griechenland im elektronischen Verkehr am 1. Februar 2008 zugegangen; es war nicht als besonders dringlich gekennzeichnet, so dass die Antwortfrist gemäß Art. 18 Abs. 1 Dublin-II-VO zwei Monate betrug. Die Aufnahmebereitschaft Griechenlands gilt gemäß Art. 18 Abs. 7 Dublin-II-VO seit dem Ablauf dieser Frist, also mit dem 2. April 2008, als erklärt; an diesem Tage ist die Frist des Art. 20 Abs. 2 Dublin-II-VO in Lauf gesetzt worden. Die sechsmonatige Regelfrist ist zwar am 2. Oktober 2008 abgelaufen; dies ist jedoch unbeachtlich, da infolge Untertauchens anstelle der Regelfrist die 18-monatige Frist des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 Dublin-II-VO maßgeblich ist. Diese Frist läuft noch bis zum 2. Oktober 2009; erst am 3. Oktober 2009 wird die Beklagte – sofern nicht bis dahin eine Überstellung des Klägers nach Griechenland erfolgt – für sein Asylbegehren zuständig werden. Der Kläger ist auch flüchtig im Sinne des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 Dublin-II-VO. Denn er hat das Asylbewerberwohnheim, in welchem zu wohnen er verpflichtet war, unmittelbar vor dem vorgesehenen Abschiebetermin verlassen und ist seitdem einwohnermeldebehördlich unbekannten Aufenthalts. Daran ändert sich auch nichts dadurch, dass der Prozessbevollmächtigte des Klägers auf entsprechende Betreibensaufforderung hin eine – übrigens nicht nur nicht im Bezirk der zuständigen Ausländerbehörde, sondern sogar in einem anderen Bundesland befindliche – Anschrift des Klägers angegeben hat, und dass der Kläger an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hat. Denn weder das Verwaltungsgericht noch die für die Prozessführung zuständige Außenstelle des sind diejenige Behörde, die die Überstellung des Klägers nach Griechenland zu bewirken hätte. Dass aber die zuständige Ausländerbehörde – auf deren Kenntnis vom Aufenthaltsort des Klägers es für die Anwendung des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 Dublin-II-VO allein ankommen kann – diese Kenntnis besäße, erscheint nach den Gesamtumständen des Falles ausgeschlossen. [...]