VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 10.11.2008 - 3 V 62.07 - asyl.net: M15342
https://www.asyl.net/rsdb/M15342
Leitsatz:

§ 32 Abs. 3 AufenthG ist nicht entsprechend anwendbar, wenn dem Familienrecht des Herkunftslandes die Ausübung der Personensorge durch nur einen Elternteil fremd ist (hier: Serbien).

 

Schlagwörter: D (A), Visum, Familienzusammenführung, Kindernachzug, Sorgerecht, alleiniges Sorgerecht, Serben, Serbien, Analogie, besondere Härte, Familienzusammenführung im Ausland, Familienrecht
Normen: AufenthG § 104 Abs. 3; AufenthG § 32 Abs. 3; AufenthG § 32 Abs. 4
Auszüge:

§ 32 Abs. 3 AufenthG ist nicht entsprechend anwendbar, wenn dem Familienrecht des Herkunftslandes die Ausübung der Personensorge durch nur einen Elternteil fremd ist (hier: Serbien).

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die Klage ist, ausgehend davon, dass der Remonstrationsbescheid vom 17. August 2007 dem von der Beklagten nicht widersprochenen Vortrag der Klägerin zufolge am 27. August 2007 zugestellt wurde, zulässig, jedoch nicht begründet. Die Versagung des begehrten Visums zum Kindernachzug ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten; die hat keinen Anspruch auf Erteilung des begehrten Visums (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). [...]

§ 32 Abs. 3 AufenthG ist gemäß § 104 Abs. 3 AufenthG anwendbar, weil diese Vorschrift der Klägerin eine günstigere Rechtsstellung vermittelt als § 20 des Gesetzes über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern im Bundesgebiet (Ausländergesetz vom 9. Juli 1990 BGBl. I S. 1354], aufgehoben durch das Aufenthaltsgesetz vom 30. Juli 2004 [BGBl. I S. 1950]). Während nach § 20 Abs. 2 Satz 1 AuslG über den Visumsantrag nach Ermessen zu entscheiden war, wenn - wie hier - die Eltern des nachzugswilligen Kindes geschieden waren, besteht nach § 32 Abs. 2 AufenthG ein Rechtsanspruch auf Erteilung des Visums, soweit der Nachzug zu dem allein sorgeberechtigten Elternteil erfolgen soll (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 18. August 2005 - OVG 7 B 24.05 -, juris; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 25. April 2007 a.a.O.). Einer weitergehenden Prüfung bedarf es für die Feststellung der maßgeblichen Rechtsgrundlagen nicht. Insbesondere ist dem Wortlaut des § 104 Abs. 3 AufenthG nicht zu entnehmen, dass eine vollständige einzelfallbezogene Prüfung des Visumsantrags anhand der alten und neuen Rechtslage erforderlich wäre, die unter Umständen eine weitere tatsächliche Aufklärung voraussetzen würde (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 18. August 2005 a.a.O.).

Nach § 32 Abs. 3 AufenthG ist dem minderjährigen ledigen Kind eines Ausländers, das das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn beide Eltern oder der allein personensorgeberechtigte Elternteil eine Aufenthaltserlaubnis oder Niederlassungserlaubnis besitzen. Der Vater der Klägerin besitzt zwar einen entsprechenden Aufenthaltstitel, er ist jedoch nicht allein personensorgeberechtigt im Sinne dieser Vorschrift. Das alleinige Personensorgerecht setzt im Hinblick auf den Wortlaut des § 32 Abs. 3 AufenthG voraus, dass die zugunsten des Vaters der Klägerin ergangene Sorgerechtsentscheidung des Amtsgerichts P. den im Ausland lebenden Elternteil, die Mutter der Klägerin, von der Personensorge für die Klägerin ausschließt. Dies ist jedoch nicht der Fall. Zwar wurde das Personensorgerecht für die Klägerin durch Urteil des Amtsgerichts P. vom 10. April 2007 auf den Vater der Klägerin übertragen. Dieses Urteil ist auch nach Art. 7 des Europäischen Übereinkommens über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen über das Sorgerecht für Kinder und die Wiederherstellung des Sorgeverhältnisses vom 20. Mai 1980 (Europäisches Sorgerechtsübereinkommen, BGBl. 1990 II, S. 220) anerkennungsfähig, da die Bundesrepublik Deutschland am 5. April 1990 das entsprechende Zustimmungsgesetz erlassen hat (BGBl. 1990 II, S. 206) und das Übereinkommen seit dem 1. Mai 2002 auch in der Bundesrepublik Jugoslawien (BGBl. 2002 II, S. 2844) und nunmehr auch in der Nachfolgerepublik Serbien gilt. Die Wirkungen der Sorgerechtsübertragung sind ferner mit den Grundwerten des deutschen Familien- und Kindschaftsrechts nicht offensichtlich unvereinbar (vgl. Art. 10 Abs. 1 lit. a) des Europäischen Sorgerechtsübereinkommens), da auch im deutschen Familien- und Kindschaftsrecht bei der Übertragung der alleinigen Personensorge nach bisheriger gemeinsamer elterlicher Sorge nach § 1671 BGB das materielle Wohl des Kindes zu berücksichtigen ist und eine darüber hinausgehende inhaltliche Nachprüfung nicht stattfindet (Art. 9 Abs. 3 des Europäischen Sorgerechtsübereinkommens).

Entscheidend ist jedoch, dass mit dieser gerichtlichen Übertragung des Sorgerechts keine vollständige Übertragung im Sinne des § 1631 BGB stattgefunden hat. Insoweit wird zur Schilderung des serbischen Familienrechts auf die Begründung im Remonstrationsbescheid verwiesen (§ 117 Abs. 5 VwGO). Diesen Tatbestand bestreitet die Klägerin auch nicht. Daraus ergibt sich, dass dem Vater der Klägerin lediglich "Obhut, Erziehung und Unterhalt" für die Klägerin übertragen wurde, während in grundlegenden Fragen der Erziehung beiden Elternteilen weiterhin eine gemeinsame Entscheidung zusteht. Dagegen kann von einer alleinigen Personensorge nur dann gesprochen werden, wenn das Rechts des anderen Elternteils in jedweden personensorgerechtlichen Entscheidungen wie Erziehung, Aufenthaltsbestimmung, Auswahl der Schule, Ausbildung, Berufswahl, Heilbehandlung und Umgangsbestimmung ausgeschlossen ist. Für die Beurteilung, ob der im Bundesgebiet lebende Elternteil des nachzugswilligen Kindes in diesem Sinne allein personensorgeberechtigt ist, ist gemäß Art. 21 EGBGB auf das Recht des Staates abzustellen, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, da das Rechtsverhältnis zwischen einem Kind und seinen Eltern diesem Recht unterliegt. Von daher kann die hier entscheidende Frage, ob dem Vater der Klägerin die alleinige Personensorge zusteht, nur nach serbischem Familienrecht entschieden werden. Danach scheidet § 32 Abs. 3 AufenthG aus den oben dargelegten Gründen als Anspruchsgrundlage aus. Auch der Hinweis der Klägerin auf die von ihrer Mutter unter dem 22. Februar 2007 erteilte Zustimmung zu dem Visumsantrag ändert daran nichts. Diese Zustimmung hatte sie erteilt, als die Sorgerechtsübertragung auf den Vater der Klägerin noch nicht vorgenommen worden war. Dass die Zustimmung danach fortgewirkt und ggf. zu einer Vervollständigung des dem Vater übertragenen Sorgerechts geführt habe, hat sie weder substantiiert dargelegt, noch kann dies nach dem serbischen Familienrecht angenommen werden. Der Anregung der Klägerin, ein Sachverständigengutachten zu der Frage einzuholen, ob nach serbischem Recht die vollständige Übertragung des Sorgerechts auf einen Elternteil grundsätzlich möglich sei, war nicht zu folgen, da sich aus der Beantwortung der damit aufgeworfenen Frage nicht ergibt, dass das Sorgerecht für die Klägerin vollständig ihrem Vater übertragen wurde.

Entgegen der vom Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg vertretenen Auffassung (vgl. Urteil vom 21. Mai 2008 - 12 B 66.07 -) geht das erkennende Gericht davon aus, dass § 32 Abs. 3 AufenthG auf Fälle, in denen - wie hier - dem ausländischen Recht die Ausübung der alleinigen Personensorge durch nur einen Elternteil grundsätzlich fremd ist, auch nicht entsprechend anwendbar ist (ebenso Urteile der 5., 10. und 14. Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin vom 12. Februar 2008 - VG 5 V 66.06 -, vom 20. März 2007 - VG 10 V 6.06 -, vom 20. Februar 2007 - VG 5 V 33.06 - und vom 7. April 2005 - VG 14 V 35.03 -, sowie der 38. Kammer vom 17. September 2008 - VG 38 V 21.08 -). Die Voraussetzungen für eine analoge Anwendung der Vorschrift, nämlich dass eine unbewusste oder planwidrige Regelungslücke und eine vergleichbare Interessenlage gegeben sind, liegen nicht vor. Nachdem der dem vom Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg durch Urteil vom 25. April 2007 (12 B 2.05) ebenso wie der dem Urteil vom 21. Mai 2008 (a.a.O.) zugrunde liegende Fall entschieden worden war, in der Revisionsinstanz für erledigt erklärt wurde, hat das Bundesverwaltungsgericht durch Beschluss vom 28. August 2008 ausgeführt, dass der Begriff des allein personensorgeberechtigten Elternteils im Sinne des § 32 Abs. 3 AufenthG mit Blick auf die Richtlinie 2003/86/EG des Rates betreffend das Recht auf Familienzusammenführung vom 22. September 2003 (ABl. L 251/12 vom 3. Oktober 2003) gemeinschaftsrechtlich auszulegen sei, dass diese Richtlinie im Gesetzgebungsverfahren des Aufenthaltsgesetzes bereits vorgelegen habe und dass daher die vom Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg "im Hinblick auf vermeintliche Regelungslücken im Aufenthaltsgesetz vorgenommene analoge Anwendung des § 32 Abs. 3 AufenthG in dieser Form nicht vertretbar" sei. [...]

Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf das begehrte Visum nach § 32 Abs. 4 AufenthG. Hiernach kann dem minderjährigen ledigen Kind eines Ausländers eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn es aufgrund der Umstände des Einzelfalls zur Vermeidung einer besonderen Härte erforderlich ist. Hierbei sind das Kindeswohl und die familiäre Situation zu berücksichtigen. Eine besondere Härte liegt nur dann vor, wenn sich die Lebensumstände wesentlich geändert haben, die bisher das Verbleiben des Kindes im Heimatland ermöglichten, und weil dem in Deutschland lebenden Elternteil eine Rückkehr in das Heimatland gegenwärtig nicht zumutbar ist. Grundvoraussetzung für die Annahme einer besonderen Härte ist demzufolge der Eintritt eines Umstands, den die Eltern bei ihrer früheren Entscheidung, das Kind nicht nach Deutschland nachzuholen, nicht in Rechnung stellen konnten. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch, ob nur der in Deutschland wohnende Elternteil zur Betreuung des Kindes in der Lage ist (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 18. November 1997 - 1 C 22.96 - NVwZ-RR 1998, 517; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 14. Februar 2007 - 2 S 7.07 -).

Danach liegt im Falle der Klägerin eine besondere Härte im Sinne des § 32 Abs. 4 AufenthG nicht vor. Die Beigeladene und die Beklagte haben zu Recht darauf hingewiesen, dass die Klägerin bislang im Familienverbund mit ihren jüngeren Geschwistern bei ihrer Mutter gelebt hat und dort und somit auch in den Verhältnissen ihres Heimatortes in Serbien aufgewachsen und von ihnen geprägt worden ist. Es ist nicht ersichtlich, dass sich diese Umstände derart verändert hätten, dass der Klägerin der weitere Aufenthalt bei ihrer Mutter und ihren Geschwistern nicht mehr möglich wäre. Im Gegenteil, die Tatsache, dass die Mutter der Klägerin ersichtlich weiterhin die Betreuung der vier jüngeren Geschwister sicherzustellen bereit ist, spricht dafür, dass dies ohne weiteres auch für die Klägerin möglich sein dürfte. Dem Nachzugsbegehren liegt offenbar lediglich das Bestreben zugrunde, der Klägerin rechtzeitig vor Vollendung ihres 16. Lebensjahres ein Aufenthaltsrecht in Deutschland zu verschaffen. Dies reicht in keiner Weise aus, den Fall einer besonderen Härte anzunehmen. Hinzu kommt, dass die Klägerin seit ihrer frühesten Kindheit nicht mit ihrem Vater, sondern mit ihrer Mutter aufgewachsen ist und daher von einer tatsächlich gelebten oder intensiven Vater-Kind-Beziehung nicht die Rede sein kann. Nicht unerwähnt bleiben soll, dass der Vater der Klägerin, nachdem er offenbar die Beziehung zu seiner deutschen Ehefrau gelöst hat, grundsätzlich nicht mehr gehindert ist, durch eine Rückkehr in seine Heimat die tatsächliche Beziehung zu seiner Tochter herzustellen, die durch Kindernachzug erreicht werden soll. [...]