VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 10.11.2008 - 12 V 88.07 - asyl.net: M15343
https://www.asyl.net/rsdb/M15343
Leitsatz:

Die gem. § 30 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AufenthG für den Ehegattennachzug erforderlichen Kenntnisse der deutschen Sprache müssen auch von Analphabeten erfüllt werden.

 

Schlagwörter: D (A), Visum, Familienzusammenführung, Ehegattennachzug, Sprachkenntnisse, Analphabeten, Krankheit, Behinderung, Schutz von Ehe und Familie, Verfassungsmäßigkeit, Gleichheitssatz, Familienzusammenführung im Ausland, Zumutbarkeit
Normen: AufenthG § 30 Abs. 1 S. 1 Nr. 2; AufenthG § 30 Abs. 1 S. 3 Nr. 2; GG Art. 6 Abs. 1; RL 2003/86/EG Art. 7 Abs. 2; GG Art. 3 Abs. 1; GG Art. 3 Abs. 3
Auszüge:

Die gem. § 30 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AufenthG für den Ehegattennachzug erforderlichen Kenntnisse der deutschen Sprache müssen auch von Analphabeten erfüllt werden.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die Klage ist unbegründet. [...]

Nach § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG ist für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für den Ehegatten eines Ausländers erforderlich, dass der Ehegatte sich zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen kann.

Diese Voraussetzung ist nicht erfüllt, denn die Klägerin zu 1. kann sich unstreitig nicht auf Deutsch – nicht einmal in geringem Umfang – verständigen. [...]

Die Klägerin zu 1. kann sich auch nicht auf den Ausnahmetatbestand des § 30 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AufenthG berufen, wonach die Sprachkenntnisse für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis unbeachtlich sind, wenn der Ausländer wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung nicht in der Lage ist, einfache Kenntnisse der deutschen Sprache nachzuweisen. Der geltend gemachte Analphabetismus stellt keine Krankheit oder Behinderung dar. Es ist nicht ersichtlich, dass er seine Ursache in einer Krankheit oder Behinderung hat, die zur Unfähigkeit des Erlernens der Sprache zur Verständigung "auf einfache Art" führt (vgl. VG Berlin, Beschlüsse vom 14. April 2008 – VG 11 V 1.08 – und vom 23. September 2008 – VG 34 V 47.08 -).

Das Spracherfordernis für den Nachzug eines ausländischen Ehegatten verstößt weder gegen Art. 6 Abs. 1 GG, wonach die Ehe unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung steht (hierzu 1.), noch gegen Art 3 Abs. 1 (allgemeiner Gleichheitssatz) und Abs. 3 GG (Diskriminierungsverbot) – hierzu 2.

1. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. Beschluss vom 12. Mai 1987 - 2 BvR 1226/83 u.a.-, BVerfGE 76, 1 ff) ist der Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG zwar nicht auf rein inlandsbezogene Ehen und Familien beschränkt, sondern umfasst eheliche und familiäre Lebensgemeinschaften unabhängig davon, wo und nach Maßgabe welcher Rechtsordnung sie begründet wurden. Jedoch gewährt Art. 6 GG keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt. Das Grundgesetz überantwortet es vielmehr weitgehend der gesetzgebenden und der vollziehenden Gewalt festzulegen, in welcher Zahl und unter welchen Voraussetzungen Fremden der Zugang zum Bundesgebiet ermöglicht wird. Es schließt weder eine großzügige Zulassung von Fremden aus, noch gebietet es eine solche Praxis. In dem von ihm gesteckten weiten Rahmen obliegt es der Entscheidung der Legislative und - in den von dieser zulässigerweise gezogenen Grenzen - der Exekutive, ob und bei welchem Anteil Nichtdeutscher an der Gesamtbevölkerung die Zuwanderung von Ausländern ins Bundesgebiet begrenzt wird oder ob und bis zu welchem Umfang eine solche Zuwanderung geduldet oder gefördert wird (BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 1987, a.a.O.).

Danach ergeben sich keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Regelung des § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG (vgl. hierzu OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 1. Juli 2008 – OVG 11 S 38.08 -). Der Gesetzgeber wollte durch diese Regelung an die in Art 7 Abs. 2 der Familiennachzugsrichtlinie (Richtlinie 2003/86/EG betreffend das Recht auf Familiennachzug, ABl. L 251 vom 3. Oktober 2003, S. 12 ff.) vorgesehene Möglichkeit anknüpfen, dass die nachziehenden Drittstaatsangehörigen Integrationsmaßnahmen nachkommen müssen (vgl. amtliche Begründung, BT/DrS. 16/5065 S. 173). Die Betroffenen sollen nach dem Willen des Gesetzgebers dazu angeregt werden, sich bereits vor ihrer Einreise einfache Deutschkenntnisse anzueignen und dadurch ihre Integration im Bundesgebiet zu erleichtern. Die Verpflichtung zur Teilnahme am Integrationskurs stelle keinen erfolgreichen Abschluss sicher, während die Nachweispflicht von Deutschkenntnissen vor der Einreise ergebnisorientiert gewährleiste, dass tatsächlich Grundkenntnisse vorlägen. Die Regelung wirke ferner in weitaus stärkerem Maße als die Teilnahmepflicht nach der Einreise präventiv. Die Eheschließungs- und Verfügungsfreiheit seien nicht betroffen. Ehen könnten ebenso im Ausland sowie unter qualifizierten Voraussetzungen im Inland geschlossen werden. Die Forderung an Zuwanderer, dass sie bestimmte Zugangsvoraussetzungen erfüllten, die stets der Ermöglichung einer Teilnahme am Sozialleben im Gastland dienten, sei zumutbar, zumal hierdurch weitaus höherrangige Rechtsgüter wirksam geschützt würden. Auch die Teilnahme an Kursen in weiter entfernten Gegenden des Gastlandes sei vor diesem Hintergrund zumutbar. Von jemanden, der die gravierende Lebensentscheidung treffe, in ein anderes Land dauerhaft einzuwandern, könne eine Vorbereitung auf diesen Schritt erwartet werden, zumal im Rahmen des Ehegattennachzugs in der Regel die Möglichkeit bestehe, sich an den bereits im Bundesgebiet lebenden Ehegatten zu wenden. Es würden zudem keine ausreichenden, sondern nur einfache Deutschkenntnisse verlangt, also lediglich die Fähigkeit, sich zumindest auf rudimentäre Weise im Gastland zu verständigen (BT/DrS. 16/5065 S. 174).

Danach hat der Gesetzgeber eine verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende Abwägung getroffen, die den oben dargelegten Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts gerecht wird. Bereits erworbene Kenntnisse der Sprache des neuen Gastlandes können die wünschenswerte schnelle Integration des zuziehenden Ausländers fördern. Der sich auf einfache Kenntnisse beschränkende Spracherwerb stellt im Regelfall keine unzumutbare Anforderung an den nachzugswilligen ausländischen Ehegatten. Wer für sich die Entscheidung trifft, künftig in einem anderen Land zu leben, muss sich darüber im Klaren sein, dass auf ihn gewisse Anpassungs- und Integrationsleistungen zukommen. Dazu gehört nicht zuletzt das Erlernen einer fremden Sprache. Die besondere Anforderung, dass in einem begrenzten Umfange Sprachkenntnisse bereits vor der Einreise erworben werden müssen, ist vertretbar und von dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers umfasst (vgl. VG Berlin, Urteil vom 19. Dezember 2007 – VG 5 V 22.07 -).

Es ist weder dargelegt noch erkennbar, dass die Klägerin zu 1. dauerhaft nicht die Fähigkeit erlangen kann, sich auf einfache Art in deutscher Sprache zu verständigen. Die Klägerin kann sich nicht mit Erfolg darauf berufen, dass ein Spracherwerb in Deutschland eine gleichwertige Alternative darstelle. Es erscheint bereits fraglich, ob die Klägerin die Sprache in Deutschland leichter erlernen könnte. Oftmals bietet ein vorheriger Spracherwerb für die Betroffenen die einzige Möglichkeit, sich in die hiesigen Verhältnisse - und nicht nur in eine „Binnenkultur“ - zu integrieren (vgl. VG Berlin, Beschluss vom 14. April 2008, a.a.O.).

2. Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG liegt nicht vor. Der allgemeine Gleichheitssatz gebietet dem Gesetzgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Der von der Klägerin zu 1. geltend gemachte Analphabetismus verpflichtet indes den Gesetzgeber nicht, von dem Erfordernis der Sprachkenntnisse abzusehen. Das damit verfolgte Integrationsgedanke besteht auch für Analphabeten.

Ebenso wenig ist ein von den Klägern geltend gemachter Verstoß gegen Art. 3 Abs. 3 GG erkennbar. Eine Benachteiligung wegen der Herkunft der Klägerin zu 1. ist nicht gegeben. Die an sie gestellte Anforderung der einfachen Sprachkenntnisse ist allein darin begründet, dass der Gesetzgeber die Integration fördern und erleichtern will. Es werden an die Klägerin dieselben Anforderungen gestellt wie an alle anderen ausländischen Ehegatten, die ein Visum zum Familiennachzug erstreben. Es ist im Hinblick auf das Erfordernis, sich auf einfache Art in deutscher Sprache zu verständigen, auch nicht zu besorgen, dass die Klägerin im Gegensatz zu den Ausländern, die des Lesens und Schreibens mächtig sind, von vornherein vom Nachzug auf Dauer ausgeschlossen ist. Dies gilt umso mehr, als das Aufenthaltsgesetz Schrift- und Lesekenntnisse nicht voraussetzt. Es spricht demnach - ohne dass dies hier zu entscheiden ist - einiges dafür, dass für des Lesens und Schreibens nicht mächtige ausländische Ehegatten das Sprechen und Verstehen bezüglich einfacher Lebenssachverhalte aus dem familiären Bereich oder über alltägliche Situationen und Bedürfnisse ausreichend sein dürfte. Ein begrenzter Wortschatz und einfacher Satzbau dürften genügen, und Fehler in Satzbau, Wortwahl und Aussprache nicht schädlich sein, wenn sie dem richtigen Verstehen nicht entgegenstehen (vgl. zum Führen eines einfachen Gesprächs auf Deutsch gemäß § 6 Abs. 2 Bundesvertriebenengesetz: BVerwG, Urteil vom 4. September 2003 - BVerwG 5 C 33.02 -, BVerwGE 119, 6).

Ein Absehen von den der Integration dienlichen Sprachkenntnissen rechtfertigt sich auch nicht im Hinblick auf den in Deutschland lebenden Ehemann. Dieser erfüllt zwar die aufenthaltsrechtlichen Voraussetzungen für den Ehegattennachzug in seiner Person. Allerdings dürfte ihm, der über dreißig Jahre in seiner Heimat Mazedonien gelebt und dort eine Familie mit der Klägerin gegründet hatte, bevor er nach Deutschland ausreiste, eine Rückkehr nach Mazedonien im Alter von nunmehr 45 Jahren nicht unzumutbar sein, nachdem er durch den zwischenzeitlichen zweijährigen Aufenthalt in Mazedonien vor zwei Jahren sowie der Heirat der Klägerin zu 1. seine Verbundenheit mit seiner Heimat bewiesen hat. Vor den mit einer solchen Übersiedlung etwa verbundenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten bietet auch Art. 6 GG keinen Schutz (vgl. BVerfG, Urteil vom 12. Mai 1987, a.a.O.; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 1. Juli 2008, a.a.O.). [...]