VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 05.03.2009 - 34 L 49.09.A - asyl.net: M15366
https://www.asyl.net/rsdb/M15366
Leitsatz:
Schlagwörter: Ghana, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, HIV/Aids, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, Diabetes mellitus, orthopädische Erkrankung, Wiederaufgreifen des Verfahrens, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung
Normen: VwGO § 123 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7; VwVfG § 51 Abs. 5
Auszüge:

[...]

Der Antrag vom 13. Februar 2009 auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zum vorläufigen Schutz des Antragstellers vor Abschiebung in sein Herkunftsland Ghana ist zulässig und begründet.

Es bestehen ernstliche Zweifel daran, dass die mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (- Bundesamt -) vom 11. Februar 2009 sinngemäß getroffene Entscheidung, das durch Bescheid vom 15. November 1993 abgeschlossene Verfahren auch nach pflichtgemäßem Ermessen nicht mit dem Ziel einer Abänderung der Feststellung zu § 53 AuslG wieder aufzugreifen, rechtmäßig ist und der gerichtlichen Überprüfung im Hauptsacheverfahren Stand halten wird. [...]

Das Bundesamt hat nämlich seine ablehnende Entscheidung - ersichtlich gestützt auf den Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 16. Juni 2008 - im Wesentlichen damit begründet, dass die für die antiretrovirale Therapie bei AIDS erforderlichen Medikamente in Ghana erhältlich seien und auf Grund der Teilnahme des Landes an einem Programm der WHO verbilligt bezogen werden könnten. Da der an AIDS erkrankte Antragsteller somit in seinem Heimatland voraussichtlich Zugang zu einer entsprechenden Behandlung habe, sei nicht davon auszugehen, dass sich sein Gesundheitszustand bei Rückkehr nach Ghana in Folge ausbleibender Therapie wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern werde.

Das Bundesamt hat sich dabei jedoch nicht damit auseinandergesetzt, dass in dem Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 16. Juni 2008 (dort Abschnitt IV.1.2, S. 19 f) auch ausgeführt wird, dass insgesamt nur ca. 50 v.H. der Bevölkerung Zugang zu qualifizierter medizinischer Betreuung habe, im Norden des Landes sogar nur ca. 30 v.H. Auf Grund massiver Abwanderung von Ärzten und Krankenschwestern bestehe ein großer Mangel an Fachpersonal. Die Lage in ländlichen Gebieten sei insoweit als schlecht, im Norden sogar als sehr schlecht zu beurteilen. Patienten würden in der Regel nur dann behandelt, wenn sie die medizinischen Leistungen - meistens im Voraus - selbst bezahlten. Zwar sei im März 2006 mit der Einführung einer öffentlichen Krankenversicherung begonnen worden, jedoch sei eine vollständige Implementierung bislang nicht erfolgt und die Finanzierungsgrundlage völlig unzureichend. Der Familienzusammenhalt müsse weiterhin die finanzielle und soziale Absicherung bei Krankheit gewähren, jedoch hebelten die Ausbreitung von AIDS sowie das Auseinanderbrechen der Großfamilien in den Metropolen dieses traditionelle Sicherungssystem zunehmend aus. AIDS-Kranke würden stark diskriminiert (Verlust des Arbeitsplatzes, Verweigerung der Behandlung in Krankenhäusern, gesellschaftliche und familiäre Isolierung). Es sei begonnen worden, 19 spezielle Gesundheitszentren einzurichten, welche "versuchen" würden, zusammen mit der Ghana AIDS Kommission und dem Nationalen AIDS Kontrollprogramm "eine Zugangsmöglichkeit zu den antiretroviralen Medikamenten zu schaffen".

Der sich danach aufdrängende Eindruck, dass in Ghana - zumal für mittellose oder wenig bemittelte AIDS-Kranke, zu denen der Antragsteller voraussichtlich gehören würde - der erforderliche Zugang zu einer kontinuierlichen antiviralen Therapie keineswegs sichergestellt oder auch nur überwiegend wahrscheinlich ist, wird gestützt durch die von IRIN - einem 1994 als Teil der UN-Organisation OCHA (Organisation für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten) gegründetem Informationsdienst - publizierten Daten, wonach im September 2006 von ca. 67.000 behandlungsbedürftigen HIV-Infizierten und AIDS-Kranken in Ghana lediglich ca. 6.200 Menschen tatsächlich eine antivirale Therapie erhielten. Anhaltspunkte dafür, dass sich diese Situation zwischenzeitlich grundlegend zum Positiven verändert hat, sind nicht erkennbar und auch von der Antragsgegnerin nicht vorgetragen worden.

im Gegenteil ist das Bundesamt in einer am 10. Dezember 2008 gegenüber der Hamburger Ausländerbehörde abgegebenen Stellungnahme nach § 72 Abs. 2 AufenthG im Falle einer aus Ghana stammenden AIDS-Patientin selbst zu der Einschätzung gelangt, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG zu bejahen sei (vgl. Blatt 27 ff der Streitakte). Zwar dürfte die Situation dieser Patientin mit derjenigen des Antragstellers deshalb nicht in jeder Hinsicht vergleichbar sein, weil bei der Ausländerin Besonderheiten bestanden - nämlich eine komplexe Resistenzlage, die eine individuelle Therapie, weitere Resistenztests und die Behandlung durch einen sehr erfahrenen Arzt erforderlich machte -, welche beim Antragsteller nicht vorliegen. Gleichwohl kann den dortigen Ausführungen des Bundesamts nicht entnommen werden, dass die negative Einschätzung der medizinischen Versorgungssicherheit in Ghana maßgeblich auf diesen individuellen Besonderheiten des Krankheitsbildes beruhte und für "gewöhnliche" AIDS-Kranke nicht galt.

Bei dem Antragsteller wird zudem zu berücksichtigen sein, dass er ausweislich des ärztlichen Attests vom 17. Februar 2009 (vgl. Blatt 32 f. der Streitakte) inzwischen an einem - derzeit noch oral therapierten - Diabetes erkrankt ist und erhebliche orthopädische Probleme der unteren Extremitäten hat. Aus beidem dürften sich ein zusätzlicher Behandlungsbedarf sowie eine weitere Einschränkung der Erwerbsfähigkeit des Antragstellers ergeben. Soweit ersichtlich bei der Ermessensentscheidung unberücksichtigt geblieben ist schließlich die familiäre Situation des Antragstellers im Heimatland. Angesichts der im Lagebericht des Auswärtigen Amts erwähnten sozialen - auch familiären - Diskriminierung von AIDS-Kranken sowie der in Ghana weit verbreiteten Armut wird nicht ohne Weiteres davon auszugehen sein, dass die Mutter und die Geschwister des seit 1991 durchgehend in Deutschland lebenden Antragstellers bereit und in der Lage sind, ihn sogleich nach Rückkehr hinsichtlich der allgemeinen Lebensführung sowie der Kosten der erforderlichen Behandlung in einem Umfang zu unterstützen, welcher die kontinuierliche Fortsetzung der in Deutschland begonnenen Therapie ermöglicht. [...]