VG Potsdam

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Zitieren als:
VG Potsdam, Urteil vom 10.11.2008 - 7 K 822/05.A - asyl.net: M15367
https://www.asyl.net/rsdb/M15367
Leitsatz:

Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich der Türkei wegen drohenden "Ehrenmordes".

 

Schlagwörter: Türkei, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Frauen, Ehrenmord, nichtehelicher Geschlechtsverkehr, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, interne Fluchtalternative, Existenzminimum, Analphabeten
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich der Türkei wegen drohenden "Ehrenmordes".

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die Klage ist zulässig und zum Teil begründet.

Der Bescheid des Bundesamtes vom 25. März 2005 ist insoweit rechtmäßig und verletzt die Klägerinnen nicht in ihren Rechten, (§ 113 Abs. 5 VwGO) als ein Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte gemäß Art. 16 a Abs. 2 GG und ein Anspruch auf die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) in den Personen der Klägerinnen vorliegen verneint wurde, denn die Klägerinnen sind nicht politisch Verfolgte im Sinne dieser Vorschriften. [...]

Die Klägerin zu 1. hat jedoch einen Anspruch auf die Feststellung, dass in ihrer Person die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) vorliegen. [...]

Unter Berücksichtigung aller Umstände ist das Gericht davon überzeugt, dass der Klägerin bei einer Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine erhebliche Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit droht.

Insbesondere nach den Schilderungen der Klägerin zu 1. in der mündlichen Verhandlung und der Vernehmung ihres Bruders als Zeugen ist das Gericht davon überzeugt, dass die Klägerin von ihrem Vater mit dem Tod bedroht worden ist und bei einer Rückkehr in die Türkei mit einer erheblichen Gefahr für ihr Leben zu rechnen hat. Die Klägerin war in ihrer Heimat ohne Erlaubnis ihres Vaters mit einem Mann eine Beziehung eingegangen und bereits vor ihrer Ausreise aus der Türkei schwanger, wovon ihr Vater jedoch zunächst nichts wusste. Der Vater der Klägerin zu 1. hat, nachdem er von der Schwangerschaft der Klägerin von seinem in Deutschland lebenden Sohn erfahren hatte, diesen bei einem Besuch in der Türkei aus seinem Haus geworfen und ihm zu verstehen gegeben, dass seine Schwester den Tod verdient habe. Dies wiederholte er auch in Telefongesprächen mit dem Bruder der Klägerin zu 1. nachdem dieser wieder nach Deutschland zurückgekehrt war. Eine versöhnende Aussprache lehnte der Vater über Jahre hinweg ab und gab dem Bruder zu verstehen, dass die Tötung der Klägerin zu 1. für ihn eine beschlossene Sache sei. Auch wenn es sich nicht um einen "Ehrenmord" im klassischen Sinn handelt, der vom sogenannten "Familienrat", einem Zusammenschluß der älteren Familienangehörigen, beschlossen wird, der auch denjenigen bestimmt, der die Entscheidung zu vollstrecken hat (vgl. IMK e.V. "Mord im Namen der Ehre", Seite 16), so droht der Klägerin zu 1. bei einer Rückkehr konkret Gefahr für Leib und Leben durch ihren Vater.

Aus den in das Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen ergibt sich, dass nach Artikel 10 der Verfassung Männer und Frauen zwar die gleichen Rechte haben, die gesellschaftliche Wirklichkeit jedoch in weiten Teilen der Türkei hinter den letzten gesetzlichen Entwicklungen hinterherhinkt. In den besser gebildeten und wohlhabenderen Schichten spielen Frauen zwar eine gleichberechtigte oder nahezu gleichberechtigte Rolle. In den ländlichen Gebieten vor allem der Zentral- und Osttürkei ist dies nicht der Fall. Dort ist die Gesellschaft oft immer noch traditionell konservativ und patriarchialisch strukturiert. Frauen werden oftmals Opfer familiärer Gewalt. Die Rolle der Frau wird nach wie vor traditionell gesehen als Hausfrau und Mutter, deren Ehre gleichbedeutend mit der Familienehre ist. In der Türkei kommt es immer noch zu so genannten "Ehrenmorden", d.h. der Ermordung von Frauen und Mädchen, die "schamlosen Verhaltens" verdächtigt werden. Sie sind auf die traditionelle Vorstellung von der Wiederherstellung der Familienehre zurückzuführen. Zwar gibt es keine aussagekräftigen Statistiken zu "Ehrenmorden", doch sollen nach dem 2006 erstellten und Anfang 2007 veröffentlichten Bericht einer "Ehrenmord-Kommission" des türkischen Parlaments 1.190 Ehrenmorde und Blutrachedelikte in den Jahren 2001 bis 2006 begangen worden sein. Nach Angaben des Justizministeriums starben in den letzten fünf Jahren 1.806 Menschen durch ein Ehrverbrechen, 5.375 Frauen begingen zusätzlich Selbstmord (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Türkei, Stand September 2007).

Zwar hat es bezüglich der Ahndung von Gewalt gegen Frauen im neuen türkischen Strafgesetzbuch wesentliche Verbesserungen gegeben und auch die intensivierte Diskussion in der türkischen Gesellschaft hat dazu geführt, dass die sogenannten "Ehrenmorde" und Gewalttaten innerhalb der Familie häufiger angezeigt und öffentlich gemacht werden. Trotz dieser positiven Entwicklung sind "Ehrenmorde" jedoch nach wie vor weit verbreitet. Betroffen sind vor allem Frauen, die eine außereheliche Beziehung eingegangen sind, insbesondere dann, wenn sie - wie die Klägerin zu 1. - dadurch schwanger werden (vgl. amnesty international, Länderkurzinfo, Koordinationsgruppe Türkei der deutschen Sektion, Juli 2005, Seite 8).

Der türkische Staat ist nicht in der Lage, in diesem Zusammenhang effektiven Rechtsschutz zu bieten. Zwar wurde der Art. 462 des türkischen Strafgesetzbuches abgeschafft, der eine Strafmilderung für Verbrechen vorsah, die zum Schutze der Familienehre begangen wurden und es wird nach dem neuen Strafgesetzbuch die vorsätzliche Tötung aus Gründen der Ehre mit erschwerter lebenslanger Haft bestraft, doch kann allenfalls davon ausgegangen werden, dass die Türkei am Beginn eines Umdenkungsprozesses steht, der nur in Ansätzen in die gesellschaftliche Wirklichkeit Eingang gefunden hat. Die Polizei reagiert auf entsprechende Schutzgesuche bedrohter Frauen in der Alltagspraxis überhaupt nicht oder zu spät (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Gutachten vom 31.08.2005).

Auch werden Frauen, die auf der Wache Gewaltanwendung innerhalb der Familie anzeigen, häufig vertröstet. Obwohl Erlasse des zuständigen Innenministeriums ein sofortiges Handeln vorschreiben, komme die Polizei ihrer Pflicht nicht ordnungsgemäß nach. Ermittlungen bei "Ehrenmorden" würden halbherzig und mangelhaft geführt (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Türkei, Stand Juli 2006).

Die Klägerin zu 1. kann auch nicht darauf verwiesen werden, in andere Landesteile der Türkei, beispielsweise nach Istanbul oder in die westlichen Touristengebiete, auszuweichen. Unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Umstände ist ihr dies nicht zumutbar. Gegen die Bedrohung mit "Ehrenmord" gibt es keine sicheren regionalen oder internationalen Ausweichmöglichkeiten, wie die in Istanbul oder auch in der Bundesrepublik Deutschland begangenen Ehrenmorde gezeigt haben. "Ehrenmorde" finden in allen Landesteilen der Türkei statt. Nirgendwo in der Türkei werden so viele Frauen Opfer von so genannten "Ehrenmorden" wie in Istanbul. Die meisten Täter. oder Opfer stammen allerdings aus dem Südosten der Türkei. Allein im Jahr 2006 seien in der Stadt 25 Frauen getötet worden, weil sie mit ihrem Verhalten nach Ansicht ihrer Verwandtschaft die "Familienehre" befleckt hätten (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Türkei, Stand September 2007, S. 23 f.).

Es besteht somit für die Klägerin zu 1. auch in der Westtürkei die Gefahr, dass ihr Vater sie dort ausfindig macht und tötet. Hinzu kommt, dass die Klägerin als Analphabetin und Mutter zweier kleiner Kinder in der Türkei nicht in der Lage sein wird ohne Unterstützung ihrer Familie ihren und den Lebensunterhalt ihrer Kinder zu bestreiten. Sie hat vor ihrer Ausreise aus der Türkei bei ihren Eltern gelebt und ist von ihrem Vater versorgt worden, ohne jemals selbst für ihren Lebensunterhalt aufzukommen. Eine Berufsausbildung hat sie nicht gemacht. Zwar gibt es auch in der Türkei Frauenhäuser mit einem vergleichbaren Aufgabenbereich wie in Deutschland, die auch Rückkehrerinnen zur Verfügung stehen und die vor allem Beratung und teilweise auch Schutz gewähren können. Presseberichten zufolge sind die Frauenhäuser und Frauenberatungsstellen jedoch ungenügend, was ihre Funktion und den Schutz von Frauen betrifft. Im Jahre 2004 gab es in der Türkei insgesamt 14 Frauenhäuser mit jeweils 20 bis 40 Betten. Alle Frauenhäuser zusammengenommen verfügten über 300 Betten, Die Aufenthaltsdauer in solchen Frauenhäusern ist in der Regel auf drei Monate begrenzt. In Ausnahmefällen besteht die Möglichkeit der Verlängerung, allerdings auch nur um 2 bis 3 Monate (vgl. Sachverständigengutachten Serafettin Kaya an das VG Schleswig vom 20. Februar 2004; Auswärtiges Amt an VG Schleswig vom 1. April 2005).

Diese Gefahr, Opfer eines Ehrenmordes zu werden, ist für die Klägerin in Deutschland erheblich geringer, da sie sich hier der Unterstützung ihres Bruders, ihrer zwei in Deutschland lebenden Schwestern und deren Familien sicher sein kann. [...]