VG Berlin

Merkliste
Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 06.05.2008 - 13 V 51.06 - asyl.net: M15371
https://www.asyl.net/rsdb/M15371
Leitsatz:

Liegt eine formwirksame Verpflichtungserklärung eines leistungsfähigen und -willigen Dritten vor, kann es geboten sein, ausnahmsweise von der Sicherung des Lebensunterhalts gem. § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG abzusehen.

 

Schlagwörter: D (A), Visum, Familienzusammenführung, Kindernachzug, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Lebensunterhalt, Verpflichtungserklärung, atypischer Ausnahmefall
Normen: AufenthG 3 32 Abs. 3; AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1; AufenthG § 2 Abs. 3 S. 1
Auszüge:

Liegt eine formwirksame Verpflichtungserklärung eines leistungsfähigen und -willigen Dritten vor, kann es geboten sein, ausnahmsweise von der Sicherung des Lebensunterhalts gem. § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG abzusehen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die zulässige Verpflichtungsklage ist begründet. Die Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in Form des Sichtvermerks ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO), weil diese einen Anspruch auf Erteilung eines Visums zum Kindernachzug hat.

Anspruchsgrundlage für die Erteilung des Visums ist § 6 Abs. 4 i.V.m. § 32 Abs. 3 AufenthG. [...]

§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG steht der Visumserteilung nicht entgegen. Hiernach setzt die Erteilung eines Aufenthaltstitels in der Regel voraus, dass der Lebensunterhalt gesichert ist. Diese allgemeine Erteilungsvoraussetzung findet auch im Rahmen der Vorschriften über den Kindernachzug grundsätzlich Anwendung (Umkehrschluss aus §§ 33, 34 Abs. 1 AufenthG).

Der Lebensunterhalt eines Ausländers ist gem. § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG gesichert, wenn er ihn einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes in Deutschland ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten kann; nach § 2 Abs. 3 Satz 4 AufenthG werden bei Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug Beiträge der Familienangehörigen zum Haushaltseinkommen berücksichtigt. [...]

Ob der Lebensunterhalt der Klägerin unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe gesichert ist, erscheint zumindest zweifelhaft. [...]

Letztlich kann dies jedoch dahinstehen. Denn eine - wie hier - formwirksam durch einen finanziell leistungsfähigen und leistungsbereiten Dritten abgegebene Verpflichtungserklärung gebietet es, von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ausnahmsweise abzusehen (VG Berlin, Urt. v. 16. April 2008, 19 V 11.07). Unabhängig von den vorstehenden dogmatischen Erwägungen ist bei einer solchen Konstellation nämlich grundsätzlich davon auszugehen, dass der Dritte den Unterhaltsbedarf unmittelbar decken wird, ohne abzuwarten, ob er behördlicherseits aus der Verpflichtungserklärung in Anspruch genommen wird, womit die Sozialleistungssysteme nicht belastet werden. Zweck der Regelung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ist es gerade, eine solche Belastung zu verhindern (VG Berlin, Urt. v. 23. April 2008, VG 33 V 32.07); wird dieser Zweck anderweitig erreicht, ist die Erfüllung der Regelerteilungsvoraussetzung nämlich entbehrlich. Die Beurteilung, ob ein solcher Ausnahmefall vorliegt oder nicht, steht auch nicht im behördlichen Ermessen, sondern unterliegt der vollen gerichtlichen Überprüfung.

Vorliegend hat Herr S. eine den formellen Voraussetzungen entsprechende, wirksame Verpflichtungserklärung abgegeben. Er hat des Weiteren ausreichende finanzielle Mittel zur Deckung des Lebensbedarfs der Klägerin nachgewiesen. [...]

Das Gericht hat keine Zweifel an der Leistungsbereitschaft von Herrn S.; solche Zweifel sind auch von Beklagter und Beigeladenem nicht geäußert worden. Herr S. ist aus eigenem Antrieb, ohne Ladung zum Termin angereist und hat bei seiner persönlichen Anhörung nachvollziehbar bekräftigt, dass er aus familiärer Verbundenheit die notwendigen Mittel selbstverständlich aufwenden würde.

Es haben sich auch keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass Herr S. die Verpflichtungserklärung nicht aus freien Stücken, sondern in einer moralischen Zwangslage abgegeben haben könnte, was zu deren Unbeachtlichkeit führen könnte (vgl. VG Berlin, Urteil vom 25. August 2006, VG 34 V 35.05). Die Erklärung bedeutet für Herrn S. auch keine unverhältnismäßige Belastung. Die vom Beigeladenen beanstandete "lebenslange" Verpflichtung wird nicht eintreten, da davon auszugehen ist, dass die Klägerin in absehbarer Zeit über eigene Einkünfte verfügen wird. [...]