VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 19.03.2009 - 9 B 403/09 - asyl.net: M15372
https://www.asyl.net/rsdb/M15372
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, Familienzusammenführung, Kindernachzug, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Lebensunterhalt, Minderjährige, atypischer Ausnahmefall, Haitianer, deutsche Kinder, Eltern, Visumsverfahren, Zumutbarkeit, Ermessensreduzierung auf Null
Normen: AufenthG § 32 Abs. 1 Nr. 1; VwGO § 80 Abs. 5; AufenthG § 32 Abs. 3; AufenthG § 32 Abs. 4; AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1; AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2; AufenthG § 5 Abs. 2; GG Art. 6; EMRK Art. 8
Auszüge:

[...]

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den seinen Antrag auf Eilrechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO ablehnenden erstinstanzlichen Beschluss ist nach § 146 Abs. 1 VwGO statthaft und auch im Übrigen zulässig. [...]

Unter Berücksichtigung dessen ist es dem Antragsteller mit seinem Beschwerdevortrag gelungen aufzuzeigen, dass die Erwägungen, die das Verwaltungsgericht zur Qualifizierung des angefochtenen Bescheids als offensichtlich rechtmäßig bewogen haben, einer rechtlichen Kontrolle nicht standhalten können. Vielmehr hätte das Gericht erster Instanz dem Eilrechtsschutzgesuch des Antragstellers in Anwendung der im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO in der Rechtsprechung allgemein anerkannten Prüfungsmaßstäbe stattgeben müssen.

Soweit das Verwaltungsgericht die Annahme der Antragsgegnerin im angegriffenen Bescheid als frei von Rechtsfehlern bestätigt hat, dass sich der Antragsteller im Hinblick auf die von ihm erstrebte Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 32 Abs. 3 bzw. Abs. 4. AufenthG das Nichtvorliegen der allgemeinen (Regel-) Erteilungsvoraussetzung nach §§ 5 Abs. 1 2 Abs. 3 AufenthG entgegenhalten lassen müsse, vermag der Senat dem nicht zu folgen. Zwar hat das Verwaltungsgericht bei seiner Entscheidungsfindung zutreffend berücksichtigt, dass das nach vorstehenden Vorschriften in der Regel begründete Erfordernis, dass der Ausländer zur Sicherung seines Lebensunterhalts in der Lage ist, im Rahmen der vorliegend einschlägigen aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen (§§ 32 Abs. 3 und 4 AufenthG) uneingeschränkt zur Anwendung gelangt (vgl. dazu etwa BVerwG, Urteil vom 26. August 2008 - BVerwG 1 C 32/07 -, InfAuslR 2009, 8 ff. = NVwZ 2009, 248 ff. = AuAS 2009, 2 ff.; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 9. Mai 2008 - 2 M 17.08 -, InfAuslR 2008, 298 ff. = AuAS 2008, 171 ff.). Auch dürfte zwischen den Beteiligten unstreitig sein, dass beim Antragsteller, der zur eigenständigen Lebensunterhaltssicherung schon altersbedingt nicht in der Lage ist, vorn Vorliegen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG nicht ausgegangen werden kann, weil ihm insoweit der Bezug von Leistungen nach dem SGB II durch seine unterhaltspflichtige Mutter, mit der er in häuslicher familiärer Gemeinschaft lebt, zum Nachteil gereicht (vgl. dazu auch Hailbronner, AuslR, Stand: Juni 2008, § 5 AufenthG Rdnr. 19). Das Verwaltungsgericht hat jedoch nicht berücksichtigt, dass es in Bezug auf den vom Antragsteller begehrten Kindernachzug zu seiner Mutter ausnahmsweise gerechtfertigt erscheint, von der Regelfolge des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG abzuweichen.

Nach der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der der Senat in ebenfalls ständiger Rechtsprechung folgt, liegt ein solcher Ausnahmefall bei besonderen, atypischen Umständen vor, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen. Ein Ausnahmefall ist danach u.a. dann anzunehmen, wenn der Versagung des Aufenthaltstitels höherrangiges Recht entgegensteht. Das ist namentlich der Fall, wenn die Gestattung des Familiennachzugs geboten, erscheint, um der Schutzwirkung aus Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK in ausreichendem Maße zur Durchsetzung zu verhelfen, z.B. weil die Herstellung der Familieneinheit im Herkunftsland nicht möglich ist (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 26. August 2008 - BVerwG 1 C 32.07 -, a.a.O. unter Verweis auf BVerfG, Beschluss vom 11. Mai 2007 - 2 BvR 2483/06 -, InfAuslR 2007, 336 ff.; sowie OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 9. Mai 2008 - 2 M 17.08-, Juris).

Vorliegend hat der Antragsteller Gesichtspunkte dargetan, aus denen sich ergibt, dass sein Fall durch das Vorliegen atypischer Umstände im vorstehend beschriebenen Sinne gekennzeichnet ist. Er beruft sich nämlich mit Recht darauf, dass eine Herstellung der von ihm erstrebten Familieneinheit zwischen ihrn und seiner bereits seit längerer Zeit im Bundesgebiet lebenden Mutter in seinem Heimatland nicht möglich wäre. Dem steht entgegen, dass die Mutter des Antragstellers die elterliche Sorge für ein minderjähriges Kind deutscher Staatsangehörigkeit ausübt und ihr im Hinblick darauf nach näherer Bestimmung des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt worden ist. Vor diesem Hintergrund kann der Antragsteller nicht auf die Möglichkeit seiner Mutter zur Übersiedlung nach Haiti und Fortführung der familiären Lebensgemeinschaft im Ausland verwiesen werden (vgl. dazu nochmals BVerwG, Urteil vom 26. August 2008 - BVerwG 1 C 32.07 -, a.a.O., sowie OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 9. Mai 2008 -2 M 17.08-, a.a.O.). [...]

Die Möglichkeit einer insoweit abweichenden rechtlichen Beurteilung ergibt sich letztlich auch nicht aus dem - von der Antragsgegnerin im angefochtenen Bescheid erörterten und ebenfalls zu Ungunsten des Antragstellers gewerteten - Umstand, dass die Einreise des Antragstellers in das Bundesgebiet nicht zum Zwecke des Kindernachzugs, sondern mit einem Schengen-Visum der Kategorie "C" zu Besuchszwecken erfolgt ist. Zwar setzen die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 32 Abs. 3 AufenthG und auch die Erlaubniserteilung nach Absatz 4 der Vorschrift gleichermaßen grundsätzlich voraus, dass der Ausländer mit dem erforderlichen Visum eingereist ist und die für die Erteilung maßgeblichen Angaben bereits im Visumantrag gemacht hat (§ 5 Abs. 2 Satz 1 Nm. 1 und 2 AufenthG). Jedenfalls auf der Basis des ihm durch die vorliegenden Akten und Unterlagen vermittelten Erkenntnisstandes und unter Berücksichtigung der Angaben des Antragstellers zu seinen Lebensverhältnissen vor der Einreise vermag der Senat jedoch nicht anzunehmen, dass dem Antragsteller die Nichteinhaltung der Visumpflicht entgegengehalten und er auf die Erforderlichkeit der Nachholung des Visumverfahrens verwiesen werden kann. Nach dem insoweit vermittelten Bild muss nämlich davon ausgegangen werden, dass sich der Antragsteller in einer besonderen Situation befindet, die auch eine vorübergehende Trennung von seiner Mutter nicht hinnehmbar erscheinen lässt. Er ist nämlich erst elf Jahre alt und trägt unter Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung seiner Mutter vor, dass für den Fall seiner Rückkehr nach Haiti aus in dieser Versicherung näher erläuterten Gründen seine Versorgung nicht sichergestellt sei, diese insbesondere auch nicht von Verwandten - etwa seiner offenbar dort noch lebenden, jedoch erkrankten Großmutter - wahrgenommen werden könne (vgl. zu einer insoweit vergleichbaren Fallkonstellation BayVGH, Beschluss vom 22. August 2007 - 24 CS 07.1495 -, Juris; siehe auch Hailbronner, AuslR, Stand: Juni 2008, § 5 AufenthG Rdnr. 69, m.w.N.). Diese Sachverhaltsdarstellung kann im Eilverfahren nicht als unzutreffend widerlegt angesehen werden. Der Senat entnimmt hieraus, dass vorliegend eine Fallkonstellation im Sinne des § 5 Abs. 2 Satz 2, 2. Alt. AufenthG in Frage steht, in der das der Antragsgegnerin durch diese Vorschrift eingeräumte Ermessen, von der Einhaltung der Visumspflicht unter der in dieser Vorschrift genannten Voraussetzungen absehen zu können, in einer Weise reduziert ist, die einen Verweis des Antragstellers auf die hier in Rede stehende Erteilungsvoraussetzung als ermessensfehlerhaft erscheinen lassen würde (Fall der sog. Ermessensreduzierung auf Null). Insofern erweist sich die angegriffene Entscheidung auch nicht aus Gründen als jedenfalls im Ergebnis richtig, die das Verwaltungsgericht bei seiner Entscheidungsfindung nicht berücksichtigt hat. [...]