BVerwG

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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 27.01.2009 - 1 C 40.07 - asyl.net: M15385
https://www.asyl.net/rsdb/M15385
Leitsatz:

1. Einer Bleiberechtsregelung, die eine oberste Landesbehörde aus humanitären Gründen getroffen hat, kommt keine rechtliche Bedeutung zu, wenn das zwingend erforderliche Einvernehmen mit dem Bundesministerium des Innern nicht hergestellt ist (§ 23 Abs. 1 Satz 3 AufenthG). Dies gilt auch für Regelungen, die vor Inkrafttreten des Ausländergesetzes 1990 getroffen worden sind.

2. Bei der Altfallregelung des § 104a Abs. 1 AufenthG stellt die Verurteilung zu einer Geldstrafe von mehr als 50 Tagessätzen einen strikten Versagungsgrund dar.

3. Die nach § 104a Abs. 2 AufenthG erforderliche positive Integrationsprognose kann bei der Verurteilung zu einer Strafe, die doppelt so hoch ist wie die Tagessatz-Grenze in § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 AufenthG, in aller Regel nicht getroffen werden.

4. Bei der Beurteilung, ob die Beendigung des Aufenthalts eines in Deutschland aufgewachsenen Ausländers eine außergewöhnliche Härte im Sinne des § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG darstellt, kommt auch dem Umstand Bedeutung zu, inwieweit der Ausländer in Deutschland verwurzelt ist. Das Ausmaß der Verwurzelung bzw. die für den Ausländer mit einer "Entwurzelung" verbundenen Folgen sind unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben der Art. 2 Abs. 1 und Art 6 Abs. 1 GG sowie der Regelung des Art. 8 EMRK zu ermitteln, zu gewichten und mit den Gründen, die für eine Aufenthaltsbeendigung sprechen, abzuwägen. Dabei ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten.

5. Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit ist - neben anderen Aspekten der Verwurzelung - nicht nur die Dauer des Aufenthalts in Deutschland, sondern auch die Legitimität des Aufenthalts zu würdigen.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltsbefugnis, Verlängerung, Antrag, Auslegung, Streitgegenstand, Aufenthaltszweck, Bleiberechtsregelung 1990, Einvernehmen, BMI, Ausländergesetz, Bleiberechtsregelung 1992, Türken, Altfallregelung, Straftat, Strafurteil, volljährige ledige Kinder, religiöse Eheschließung, Integration, Integrationsprognose, Verwertungsverbot, Wiederholungsgefahr, außergewöhnliche Härte, Verhältnismäßigkeit, Schutz von Ehe und Familie, Privatleben, EMRK, Aufenthaltsdauer, Falschangaben, Eltern, Zurechnung
Normen: AufenthG § 23 Abs. 1; AufenthG § 105a; AufenthG § 104a Abs. 1 S. 1 Nr. 6; AufenthG § 104a Abs. 2; AufenthG § 25 Abs. 4 S. 2; GG Art. 2 Abs. 1; GG Art. 6 Abs. 1; EMRK Art. 8
Auszüge:

[...]

Die Revision ist begründet. [...] Da der Senat mangels ausreichender Feststellungen im Berufungsurteil in der Sache selbst nicht abschließend entscheiden kann, ist das Verfahren zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist das Begehren des Klägers auf Verlängerung seiner nach altem Recht erteilten Aufenthaltsbefugnis als Aufenthaltserlaubnis nach dem seit Januar 2005 geltenden Aufenthaltsgesetz. Er erstrebt damit einen Aufenthaltstitel, der an den Ablauf der bis zum 15. April 2001 befristeten Aufenthaltsbefugnis anknüpft und zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung noch besteht. Die beantragte "Verlängerung" des Aufenthaltstitels erfasst grundsätzlich auch Ansprüche, die auf Neuerteilung einer Aufenthaltserlaubnis gerichtet sind. Gegenständlich ist das Begehren des Klägers auf die Verlängerung oder Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis beschränkt, wie sie sich aus Abschnitt 5 des Kapitels 2 des Aufenthaltsgesetzes ergibt. Denn der Streitgegenstand einer Klage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis wird bestimmt und begrenzt durch den Aufenthaltszweck, aus dem der Ausländer seinen Anspruch herleitet. Im vorliegenden Verfahren stützt der Kläger sein Klagebegehren in tatsächlicher Hinsicht auf humanitäre Gründe, wie sie in Abschnitt 5 des Kapitels 2 des Aufenthaltsgesetzes normiert sind. Sein Klagebegehren erfasst damit auch die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach der durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl I S. 1970) - Richtlinienumsetzungsgesetz - eingeführten und am 28. August 2007 in Kraft getretenen Altfallregelung des § 104a AufenthG (Urteil vom 4. September 2007 - BVerwG 1 C 43.06 - BVerwGE 129, 226 229 f.>). [...]

3. Dem Berufungsgericht ist im Ergebnis darin zuzustimmen, dass der Kläger keinen Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltsbefugnis nach § 23 Abs. 1 AufenthG in Verbindung mit dem niedersächsischen Bleiberechtserlass vom 18. Oktober 1990 hat. Ungeachtet aller Fortgeltungsbestimmungen in den Folgeerlassen kann dem Landeserlass von 1990 schon deshalb keine rechtliche Bedeutung mehr zukommen, weil das inzwischen zwingend erforderliche Einvernehmen mit dem Bundesministerium des Innern - BMI - nicht hergestellt ist. Zwar bedurfte es im Jahre 1990 dieses Einvernehmens nicht. Unter Geltung des Ausländergesetzes 1965, also bis Ende 1990 waren die obersten Landesbehörden berechtigt, Bleiberechtsregelungen aus humanitären Gründen ohne Einvernehmen mit dem BMI vorzusehen. Das Ausländergesetz 1990 führte ab Januar 1991 das Erfordernis des Einvernehmens ein (§ 32 AuslG 1990), stellte es den obersten Landesbehörden in einer Übergangsvorschrift aber frei, weiterhin ohne Einvernehmen mit dem BMI Anordnungen hinsichtlich der Verlängerung von humanitären Aufenthaltserlaubnissen zu treffen, die - wie hier - erstmals vor Inkrafttreten des Ausländergesetzes 1990 erteilt worden waren (vgl. § 94 Abs. 3 Nr. 3 i.V.m. § 99 Abs. 1 und 2 AuslG 1990). Das seit Januar 2005 geltende Aufenthaltsgesetz enthält jedoch eine derartige Übergangsvorschrift nicht mehr und sieht nunmehr zur Wahrung der Bundeseinheitlichkeit zwingend das Einvernehmen zwischen oberster Landesbehörde und BMI vor (§ 23 Abs. 1 Satz 3 AufenthG). Das Richtlinienumsetzungsgesetz hat dies ausdrücklich bekräftigt (§ 105a AufenthG). Auf den Erlass von 1990 kann der Kläger sich daher nicht mehr berufen. [...]

5. Dem Berufungsgericht ist schließlich auch darin zuzustimmen, dass § 104a Abs. 1 AufenthG als Anspruchsgrundlage ausscheidet. [...] Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach dieser Vorschrift scheidet jedoch zwingend aus, weil der Kläger wegen einer im Bundesgebiet begangenen vorsätzlichen Straftat zu einer Geldstrafe von mehr als 50 Tagessätzen verurteilt worden ist (§ 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 AufenthG). Entgegen der Hilfserwägung des Berufungsgerichts (UA S. 25) besteht insoweit kein behördliches Ermessen, denn die Verurteilung zu einer Geldstrafe von mehr als 50 Tagessätzen stellt einen strikten Versagungsgrund dar.

6. Dagegen kann den Ausführungen des Berufungsgerichts zu § 104a Abs. 2 AufenthG nicht in vollem Umfang gefolgt werden. Die Begründung, mit der im Berufungsurteil ein Anspruch des Klägers nach dieser Vorschrift verneint worden ist, lässt sich mit Bundesrecht nicht vereinbaren (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO).

Nach der ebenfalls durch das Richtlinienumsetzungsgesetz eingefügten Altfallregelung des § 104a Abs. 2 Satz 1 AufenthG kann einem geduldeten volljährigen ledigen Kind eines geduldeten Ausländers, der sich am 1. Juli 2007 seit mindestens acht Jahren oder, falls er zusammen mit einem oder mehreren minderjährigen ledigen Kindern in häuslicher Gemeinschaft lebt, seit mindestens sechs Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen im Bundesgebiet aufgehalten hat, eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn es bei der Einreise minderjährig war und gewährleistet erscheint, dass es sich auf Grund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann. Das Berufungsgericht hat offen gelassen, ob der nach islamischem Ritus verheiratete Kläger als "lediges" Kind im Sinne dieser Vorschrift anzusehen ist, und hat auch keine Feststellungen dazu getroffen, ob die Eltern des Klägers im Besitz einer Duldung sind. Es hat einen Anspruch nach dieser Vorschrift vielmehr deshalb verneint, weil im Falle des Klägers jedenfalls die erforderliche positive Integrationsprognose nicht getroffen werden könne, und sich hierbei auf drei strafgerichtliche Verurteilungen des Klägers gestützt (ein Verstoß gegen das Fleischhygienegesetz und zwei Falschbeurkundungen; vgl. UA S. 26, 27 und 28). Das Berufungsgericht hat dabei übersehen, dass die im Februar 2004 nach Jugendstrafrecht erfolgte Verurteilung wegen Falschbeurkundung einem Verwertungsverbot unterliegt (§ 60 Abs. 1 Nr. 2, § 63 Abs. 1 und 4, § 51 Abs. 1, §§ 52 sowie 63 Abs. 2 BZRG). Die Feststellung des Berufungsgerichts hinsichtlich einer zweiten Verurteilung wegen Falschbeurkundung dürfte aktenwidrig sein; jedenfalls finden sich in der Ausländerakte des Beklagten keine Hinweise auf eine weitere Verurteilung des Klägers. Allerdings wiegt die Verurteilung des Klägers wegen eines vorsätzlichen Verstoßes gegen das Fleischhygienegesetz im hier gegebenen Zusammenhang auch für sich genommen schwer und spricht dafür, dass eine positive Integrationsprognose tatsächlich nicht getroffen werden kann. Zwar enthält die Vorschrift keinen ausdrücklichen Hinweis auf die Bedeutung einer strafgerichtlichen Verurteilung. Der systematische Zusammenhang der Vorschrift mit § 104a Abs. 1 auf der einen und § 104a Abs. 3 AufenthG auf der anderen Seite macht aber deutlich, dass dem Umstand einer oder mehrerer strafgerichtlicher Verurteilungen auch im Rahmen der nach § 104a Abs. 2 AufenthG zu treffenden Integrationsprognose entscheidendes Gewicht zukommt. So wird bei der Verurteilung zu einer Strafe, die - wie hier - doppelt so hoch ist wie die Tagessatz-Grenze in § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 AufenthG die erforderliche positive Integrationsprognose in aller Regel ausscheiden, insbesondere auch dann, wenn eine Wiederholungsgefahr nicht auszuschließen ist. In atypischen Fällen, in denen besondere Umstände die Integration des Ausländers im Bundesgebiet belegen, kann jedoch auch bei einer Bestrafung wie hier die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in Betracht kommen. Ein Anhalt in dieser Richtung ist der Vorschrift etwa in Bezug auf die Ausbildung des Ausländers zu entnehmen. Das Berufungsgericht hat hierzu keine Feststellungen getroffen. Bei der erneuten Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen des § 104a Abs. 2 AufenthG im weiteren Verfahren wird das Berufungsgericht davon auszugehen haben, dass der Kläger als "lediges" Kind im Sinne dieser Vorschrift anzusehen ist. Denn insoweit kann nicht angenommen werden, dass die sonst im Aufenthaltsrecht nicht anerkannte Eheschließung nach islamischem Ritus im Rahmen von § 104a Abs. 2 AufenthG zulasten des Ausländers anders zu beurteilen ist. Das Berufungsgericht wird ferner die erforderlichen Feststellungen zur aufenthaltsrechtlichen Situation der Eltern des Klägers treffen und ggf. auch die Frage der Integrationsprognose für den Kläger nach Klärung aller hierfür wesentlichen Umstände im Wege einer Gesamtbewertung erneut beurteilen müssen. [...]

8. In Betracht kommt jedoch die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen nach § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG. Diese Vorschrift ist im bisherigen Verfahren weder von den Behörden noch den Gerichten in den Blick genommen worden. Nach § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG kann eine Aufenthaltserlaubnis abweichend von § 8 Abs. 1 und 2 AufenthG, also unabhängig vom Wegfall der Erteilungsvoraussetzungen verlängert werden, wenn aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalles das Verlassen des Bundesgebiets für den Ausländer eine außergewöhnliche Härte bedeuten würde. Die Vorschrift entspricht im Wesentlichen der früheren Regelung in § 30 Abs. 2 Nr. 2 AuslG 1990. Insofern kann an die Rechtsprechung des Senats zu dieser Regelung angeknüpft werden (so bereits Beschluss vom 8. Februar 2007 - BVerwG 1 B 69.06 - Buchholz 402.242 § 25 AufenthG Nr. 7).

Die Vorschrift setzt nicht nur eine besondere Härte, sondern eine außergewöhnliche Härte voraus. Hierfür gelten naturgemäß hohe Anforderungen. Die Beendigung des Aufenthalts in Deutschland muss für den Ausländer mit Nachteilen verbunden sein, die ihn deutlich härter treffen als andere Ausländer in einer vergleichbaren Situation. Die Beendigung des Aufenthalts muss für den Ausländer bei dieser Vergleichsbetrachtung unzumutbar sein (vgl. etwa Urteil des Senats vom 19. September 2000 - BVerwG 1 C 14.00 - Buchholz 402.240 § 6 AuslG Nr. 16 sowie Beschluss vom 8. Februar 2007 - BVerwG 1 B 69.06 - a.a.O.). In einem anderen aufenthaltsrechtlichen Zusammenhang hat der Senat eine außergewöhnliche Härte angenommen, wenn die mit der Versagung der Aufenthaltserlaubnis eintretenden Schwierigkeiten nach ihrer Art und Schwere so ungewöhnlich und groß sind, dass die Ablehnung der Erlaubnis schlechthin unvertretbar ist (Beschluss vom 25. Juni 1997 - BVerwG 1 B 236.96 - Buchholz 402.240 § 22 AuslG Nr. 4 zu der früheren Familiennachzugsregelung in § 22 AuslG 1990). Die Kommentarliteratur sieht eine außergewöhnliche Härte im Sinne des § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG erst bei einer exzeptionellen Ausnahmesituation als gegeben an (Hailbronner, Kommentar zum Ausländerrecht, § 25 AufenthG Rn. 92; Burr, in: Gemeinschaftskommentar zum Aufenthaltsgesetz, § 25 Rn. 93; jeweils m.w.N.).

Bei der Beurteilung, ob die Beendigung des Aufenthalts eines in Deutschland aufgewachsenen Ausländers eine außergewöhnliche Härte darstellt, kommt auch dem Umstand Bedeutung zu, inwieweit der Ausländer in Deutschland verwurzelt ist. Das Ausmaß der Verwurzelung bzw. die für den Ausländer mit einer "Entwurzelung" verbundenen Folgen sind unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben der Art. 2 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 GG sowie der Regelung des Art. 8 EMRK zu ermitteln, zu gewichten und mit den Gründen, die für eine Aufenthaltsbeendigung sprechen, abzuwägen. Dabei ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Diese Würdigung unter Einbeziehung aller Umstände des Einzelfalls ist in erster Linie eine tatrichterliche Aufgabe. Das Berufungsgericht hat diese Beurteilung im Rahmen des § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG bisher nicht vorgenommen. Die Erwägungen im Berufungsurteil zu Art. 8 EMRK (UA S. 32 f.) finden sich bei der Prüfung des § 25 Abs. 5 AufenthG und damit in einem anderen rechtlichen Zusammenhang; im Übrigen sind sie unzureichend und teilweise auch fehlerhaft. Bei der Beurteilung, ob eine außergewöhnliche Härte im Sinne des § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG vorliegt, wird das Berufungsgericht Folgendes zu beachten haben:

Das Recht auf Achtung seines Familienlebens steht beim Kläger nicht im Vordergrund. Seine familiäre Situation ist seit Jahren dadurch gekennzeichnet, dass seine Frau bestandskräftig ausgewiesen worden ist und mit zwei Kindern in der Türkei lebt. Die beiden anderen Kinder sind ebenfalls bestandskräftig ausgewiesen worden. Auch wenn dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG erteilt würde, wäre eine Familienzusammenführung in Deutschland problematisch (§ 29 Abs. 3 Satz 3 AufenthG). Im Vordergrund steht das Recht des Klägers auf Achtung seines Privatlebens. Dieses Recht umfasst, auch soweit es keinen familiären Bezug hat, die Summe der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind und denen - angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen - bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 10. Mai 2007 - 2 BvR 304/07 - InfAuslR 2007, 275 277> und vom 10. August 2007 - 2 BvR 535/06 - InfAuslR 2007, 443 446>; jeweils m.w.N.).

Von erheblichem Gewicht ist vorliegend die Dauer des Aufenthalts. Der Kläger ist mit sechs Jahren nach Deutschland gekommen und hält sich seit 1985 durchgehend hier auf. Er hat hier die gesamte Schulzeit verbracht und die Schule mit dem Hauptschul-Abschluss beendet. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts spricht der Kläger fließend Deutsch (UA S. 35). Er ist in Deutschland entscheidend geprägt worden. Einschränkend muss allerdings berücksichtigt werden, dass die Legitimität des Aufenthalts über viele Jahre belastet gewesen ist. Zwar weist der Aufenthaltsstatus des Klägers in formeller Hinsicht keine Lücken oder sonstige Mängel auf. Materiellrechtlich muss sich der Kläger aber entgegenhalten lassen, dass sein Aufenthaltsrecht in Deutschland durch eine bewusste Täuschung seiner Eltern begründet worden ist. Das Berufungsgericht hat in den Verfahren der Eltern des Klägers, die deswegen ausgewiesen worden sind, festgestellt, dass diese vorsätzlich und in strafbarer Weise gegenüber dem Beklagten ihre türkische Staatsangehörigkeit verschwiegen haben (Urteile vom 2. Oktober 2007 - 11 LB 130 und 131/07 -). Diese Täuschung und die dadurch gravierend belastete Legitimität des Aufenthalts muss der Kläger sich jedenfalls für die Zeit seiner Minderjährigkeit, also bis 1997 zurechnen lassen. Damit kommt der Aufenthaltsdauer insgesamt nicht das Gewicht zu, wie wenn der Aufenthalt formell und materiell in jeder Hinsicht unbedenklich wäre. Ob dagegen - wie vom Berufungsgericht mehrfach betont - dem Umstand, dass der Kläger als Volljähriger seine türkische Herkunft weiter "geleugnet" hat, größeres Gewicht beizumessen ist, erscheint unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falls eher fraglich.

Was die berufliche Verwurzelung des Klägers in Deutschland betrifft, wird das Berufungsgericht zu prüfen haben, ob der Kläger nach wie vor berufstätig und dadurch in der Lage ist, den Lebensunterhalt für sich und seine Familie dauerhaft zu sichern. Beim Ausmaß der beruflichen Integration ist zu berücksichtigen, dass der Kläger über Jahre öffentliche Sozialleistungen bezogen hat. Das Berufungsgericht wird außerdem festzustellen haben, ob der Kläger eine Berufsausbildung absolviert hat und ihn diese Ausbildung gegebenenfalls für eine Berufstätigkeit qualifiziert, die nur oder bevorzugt in Deutschland ausgeübt werden kann.

Bei der sozialen Integration des Klägers hat das Berufungsgericht das Ausmaß sozialer Bindungen bzw. Kontakte des Klägers außerhalb der Kernfamilie bisher nicht ermittelt. Zu Unrecht ist das Berufungsgericht, wie ausgeführt, von drei strafgerichtlichen Verurteilungen des Klägers ausgegangen. Es bleibt seine Verurteilung wegen eines vorsätzlichen Verstoßes gegen das Fleischhygienegesetz. Diese Verurteilung ist unter dem Aspekt der Integration zu bewerten. Sie hat im Rahmen des § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG allerdings wohl nicht die dominierende Bedeutung wie im Rahmen des § 104a AufenthG. Schließlich ist vom Berufungsgericht zu klären, ob für den Kläger ein Zusammenleben mit seiner Familie im Libanon oder in der Türkei möglich und zumutbar ist. Alle diese Umstände sind im Wege einer Gesamtbewertung zu gewichten und im Hinblick auf das Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte gemäß § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG zu beurteilen.

Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auch nach § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG setzt weiter in der Regel voraus, dass die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 AufenthG vorliegen. Auch dies wird das Berufungsgericht zu prüfen haben. Dabei ist davon auszugehen, dass die Verurteilung des Klägers einen Ausweisungsgrund im Sinne von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG darstellt, solange sie im Bundeszentralregister nicht getilgt ist. Allerdings kann von einer Regelerteilungsvoraussetzung, sofern sie nicht bereits wegen Vorliegens eines Ausnahmefalls entbehrlich ist, im Rahmen des Ermessens abgesehen werden (§ 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG). Dies müsste die Beklagte im Falle einer - hier ohnehin nur in Betracht kommenden - Verpflichtung zur erneuten Bescheidung bei Ausübung ihres Ermessens, das ihr sowohl im Rahmen von § 25 Abs. 4 Satz 2 als auch im Rahmen von § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eröffnet ist, prüfen. Auch in diesem Zusammenhang sind die verfassungsrechtlichen Vorgaben der Art. 2 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 GG sowie die Regelung des Art. 8 EMRK von Bedeutung. [...]