BVerfG

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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 25.02.2009 - 2 BvR 1537/08 - asyl.net: M15386
https://www.asyl.net/rsdb/M15386
Leitsatz:

Die Anwendung von § 14 Abs. 3 S. 1 Nr. 5 AsylVfG (Fortsetzung der Abschiebungshaft trotz Asylantrags) auf die Zurückschiebungshaft begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.

Schlagwörter: D (A), Zurückschiebungshaft, Verfassungsbeschwerde, Antrag, Haftantrag, Zuständigkeit, Bundespolizei, Rechtsgrundlage, Analogie, Asylantrag, Dublinverfahren, Dublin II-VO,
Normen: BVerfGG § 93a Abs. 2; GG Art. 104 Abs. 1; GG Art. 2 Abs. 2; FreihEntzG § 3 Abs. 1; AufenthG § 57 Abs. 1; AsylVfG § 14 Abs. 3 S. 1 Nr. 5; AufenthG § 57 Abs. 3; AufenthG § 62 Abs. 2 S. 1 Nr. 5
Auszüge:

[...]Die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG sind nicht erfüllt. Die Verfassungsbeschwerde, der keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt, hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (vgl.BVerfGE 90, 22 25 f.>). Sie ist unbegründet. Die Gerichte haben weder gegen freiheitsschützende Formvorschriften, deren Beachtung von Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG zum Verfassungsgebot erhoben ist, verstoßen (1.), noch haben sie das Verbot der analogen Heranziehung materiell-rechtlicher Ermächtigungsgrundlagen für Freiheitsentziehungen verletzt (2.).

1. Den Gerichten ist kein verfassungsrechtlich relevanter Verstoß gegen Form- oder Verfahrensvorschriften unterlaufen.

a) Nach Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG darf die in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Freiheit der Person nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden. Die formellen Gewährleistungen des Art. 104 GG stehen mit der materiellen Freiheitsgarantie des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in unlösbarem Zusammenhang (vgl.BVerfGE 10, 302 322>; 58, 208 220>). Art. 104 Abs. 1 GG nimmt den schon in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG enthaltenen Gesetzesvorbehalt auf und verstärkt ihn für alle Freiheitsbeschränkungen, indem er neben der Forderung nach einem förmlichen Gesetz die Pflicht, die sich aus diesem Gesetz ergebenden freiheitsschützenden Formvorschriften zu beachten, zum Verfassungsgebot erhebt (vgl.BVerfGE 10, 302 323>; 29, 183 195 f.>; 58, 208 220>). [...]

b) Die angegriffenen Entscheidungen halten einer Überprüfung an diesen Maßstäben stand.

aa) § 3 Abs. 1 FreihEntzG gehört mit seiner Bestimmung, dass ein Haftantrag von der zuständigen Behörde zu stellen ist, zu den Formvorschriften, deren Beachtung durch Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG zum Verfassungsgebot erhoben ist. Inwieweit Normen, die die Zuständigkeit der Verwaltungsbehörden regeln, grundrechtssichernde Funktion haben und dem Einzelnen rügefähige Rechtspositionen vermitteln, bedarf keiner generellen Klärung. Jedenfalls im Bereich freiheitsentziehender Maßnahmen bedarf es klarer und eindeutiger Zuständigkeitsregelungen, auf deren Beachtung sich Betroffene berufen können.

bb) Die Gerichte haben § 3 Abs. 1 FreihEntzG beachtet. Sowohl in der amtsgerichtlichen Anordnung der Verlängerung der Zurückschiebungshaft als auch in den diese bestätigenden Beschlüssen im Rechtsmittelverfahren ist die Zuständigkeit der Bundespolizei als antragstellender Behörde geprüft und jeweils bejaht worden.

cc) Die Gesetzesanwendung durch die Fachgerichte ist nicht willkürlich oder mit Bedeutung und Tragweite von Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG unvereinbar. Sie steht mit dem Wortlaut der angewendeten Normen im Einklang und erweist sich nicht als unter keinem rechtlichen Aspekt vertretbar.

Das Landgericht hat § 71 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG als für die Bundespolizei zuständigkeitsbegründende Norm herangezogen. Die damit verbundene Rechtsauffassung, es stehe der Einstufung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme als Zurückschiebung im Sinne von § 57 Abs. 1 AufenthG nicht entgegen, dass ihr Zielstaat nicht der Staat sei, aus dem der Ausländer unmittelbar in das Bundesgebiet eingereist ist, sondern jeder zur Aufnahme des Ausländers bereite Staat, entspricht allgemeiner Meinung (vgl. nur Hailbronner, AuslR, Stand: April 2006, § 57 AufenthG, Rn. 18). Der weitere Vortrag des Beschwerdeführers betrifft nicht die für die Prüfung von § 3 Abs. 1 FreihEntzG maßgebliche Frage, ob die Bundespolizei für eine Zurückschiebung und damit für den Haftantrag zuständige Behörde ist, sondern die Rechtmäßigkeit der mit der Freiheitsentziehung zu sichernden zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung. [...]

2. Das verfassungsrechtliche Verbot der analogen Heranziehung materiell-rechtlicher Ermächtigungsgrundlagen für Freiheitsentziehungen wird durch die angegriffenen Entscheidungen nicht verletzt.

a) Nach Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG darf die in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Freiheit der Person nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes beschränkt werden. Die Eingriffsvoraussetzungen müssen sich unmittelbar und hinreichend bestimmt aus dem Gesetz selbst ergeben (vgl. - insbesondere zu den Konsequenzen für die Androhung von Freiheitsstrafen -BVerfGE 14, 174 187>; 51, 60 70>; 75, 329 342 f.>; 78, 374 383>; BGHZ 15, 61 63 f.>). Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG steht einer analogen Heranziehung materiell-rechtlicher Ermächtigungsgrundlagen für Freiheitsentziehungen entgegen (vgl.BVerfGE 29, 183 196>; 83, 24 32>). Der Gesetzgeber soll gezwungen werden, Freiheitsentziehungen in berechenbarer, messbarer und kontrollierbarer Weise zu regeln. Dem Grundgesetz kommt es im Bereich der Freiheitsentziehungen auf eine besonders rechtsstaatliche, förmliche Regelung an (vgl.BVerfGE 29, 183 195 f.>).

Nicht anders als beim strafrechtlichen Analogieverbot (Art. 103 Abs. 2 GG) ist demgemäß jede Rechtsanwendung ausgeschlossen, die über den Inhalt des gesetzlichen Hafttatbestandes hinausgeht. Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation (vgl.BVerfGE 92, 1 12>). Der Vorbehalt des Gesetzes aus Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG einschließlich der Vorhersehbarkeit einer Haftanordnung für den Normadressaten kann auch dann gewahrt sein, wenn das Gesetz die entsprechende Anwendung einer zu Freiheitsentziehungen ermächtigenden Norm anordnet. Voraussetzung ist, dass die Normen der Verweisungskette mit hinreichender Deutlichkeit Grund und Umfang möglicher Freiheitsentziehungen erkennen lassen (vgl.BVerfGE 96, 68 97>).

b) Die Anwendung von § 14 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AsylVfG auf die nach § 57 Abs. 3 AufenthG und § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG angeordnete Haft zur Sicherung der Zurückschiebung des Beschwerdeführers durch die Fachgerichte ist gemessen an diesen Maßstäben verfassungsrechtlich unbedenklich.

aa) Mit der Verweisung in § 57 Abs. 3 AufenthG auf § 62 AufenthG ist jedenfalls in Bezug auf die hier allein entscheidungserhebliche Bestimmung des § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG - die Erfüllung dieses Tatbestandes wird mit der Verfassungsbeschwerde nicht angezweifelt - erkennbar angeordnet, dass der Begriff der Abschiebung durch denjenigen der Zurückschiebung zu ersetzen ist. Die Legaldefinition der Sicherungshaft wird damit auf die Inhaftnahme zur Sicherung der Zurückschiebung erstreckt. Es handelt sich bei dieser Haft damit - wie auch die amtliche Überschrift zu § 62 AufenthG nahe legt - um eine Form der Abschiebungshaft.

bb) Die Anwendung von § 14 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AsylVfG durch die Gerichte begegnet ebenfalls keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Nach dieser Vorschrift steht die Asylantragstellung der Anordnung oder Aufrechterhaltung von Abschiebungshaft nicht entgegen, wenn sich der Ausländer u.a. in Sicherungshaft nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG befindet. Da von der in § 57 Abs. 3 AufenthG gesetzlich angeordneten Verweisung auf § 62 AufenthG auch dessen Begrifflichkeit umfasst ist, handelt es sich bei der Haft zur Sicherung der Zurückschiebung um Sicherungshaft (hier nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG) und damit um Abschiebungshaft (vgl. Westphal/Stoppa, Ausländerrecht für die Polizei, 3. Aufl. 2007, S. 596). § 14 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AsylVfG stellt damit eine für den Normadressaten hinreichend vorhersehbare Erweiterung der Haftgründe aus § 62 Abs. 2 AufenthG für die in § 14 Abs. 3 AsylVfG genannten Fälle dar, in denen die nach § 62 Abs. 2 AufenthG tatbestandlich vorausgesetzte vollziehbare Ausreisepflicht aufgrund einer Asylantragstellung erlischt. [...]