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OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 24.03.2009 - 10 LA 377/08 - asyl.net: M15397
https://www.asyl.net/rsdb/M15397
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Berufungszulassungsantrag, ernstliche Zweifel, Aufenthaltserlaubnis, Altfallregelung, Schulbesuch, Erlasslage, Streitgegenstand, Antrag, Auslegung, Aufenthaltszweck, Ausreisehindernis, EMRK, Privatleben, Integration, Duldung
Normen: VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1; AufenthG § 104a S. 1 Nr. 3; AufenthG § 25 Abs. 5; VwGO § 88; EMRK Art. 8
Auszüge:

[...]

Der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg, weil der von ihnen geltend gemachte Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) nicht vorliegt bzw. von den Klägern nicht in einer den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO genügenden Weise dargelegt worden ist. [...]

Die Kläger vertreten die Ansicht, die Voraussetzung des § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG sei bereits dann erfüllt, wenn sie zum Zeitpunkt der Entscheidung über ihren Antrag auf Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen den tatsächlichen Schulbesuch nachweisen. Diese Auffassung ist aber nicht zutreffend. Der in dieser Bestimmung geforderte "tatsächliche Schulbesuch" stellt ein bildungsbezogenes Integrationskriterium dar. Gerade die nachhaltige Erfüllung der Schulpflicht stellte eine wesentliche Voraussetzung für eine Erfolg versprechende sprachliche und soziale Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse dar. Dementsprechend muss der Schulbesuch für den gesamten Zeitraum zwischen Beginn und Ende des schulpflichtigen Alters durch Zeugnisvorlage oder Bescheinigungen der Schulen nachgewiesen werden. Ein tatsächlicher Schulbesuch kann zudem nur dann angenommen werden, wenn das schulpflichtige Kind während eines Schuljahres allenfalls an einzelnen, wenigen Tagen unentschuldigt dem Schulunterricht ferngeblieben ist (vgl. Senatsbeschluss vom 2. Januar 2008 - 10 PA 261/07 -, n.v.; Beschluss vom 27. August 2008 - 10 LA 168/08 -, v.n.; Beschluss vom 20. Januar 2009 - 10 ME 442/08 -, juris).

Im Hinblick auf diese Erteilungsvoraussetzung machen die Kläger weiter geltend, das Verwaltungsgericht habe sich zu Unrecht über die Vorläufigen Niedersächsischen Verwaltungsvorschriften zum Aufenthaltsgesetz hinweggesetzt, nach denen von einer fehlenden Erfüllung der Schulpflicht auf Grund von Fehlzeiten erst dann ausgegangen werden könne, wenn das schulpflichtige Kind mehr als ein Drittel der Schultage unentschuldigt gefehlt habe. Auch dieses Vorbringen rechtfertigt eine andere Entscheidung nicht.

Zunächst bindet die genannte Verwaltungsvorschrift hinsichtlich der Auslegung der gesetzlichen Voraussetzungen das Gericht nicht. Zudem ist nicht davon auszugehen, dass die betreffende Verwaltungsvorschrift (104 a. 1.1.5) eine abschließende Bestimmung trifft, unter denen ein tatsächlicher Schulbesuch als nicht nachgewiesen gilt. Die Vorschrift erfasst lediglich den Fall besonders zahlreicher Fehltage innerhalb eines Schulhalbjahres. Nach dem beschriebenen Zweck des § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG kann jedoch nicht darauf abgestellt werden, ob die Schulpflicht in einem bestimmten Schuljahr erfüllt worden ist. Vielmehr muss das schulpflichtige Kind sowohl in den vergangenen Schuljahren als auch in dem laufenden Schuljahr seiner Schulpflicht genügt haben. Unter welchen Voraussetzungen kontinuierliche Fehlzeiten in der Schule über mehrere Schuljahre ebenfalls der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG entgegenstehen können, wird in den Verwaltungsvorschriften hingegen nicht näher beschrieben (vgl. Senatsbeschluss vom 20. Januar 2009, a.a.O.).

Dies zugrunde gelegt können den Klägern Aufenthaltserlaubnisse nach § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG schon deshalb nicht erteilt werden, weil die Kläger nicht in ausreichender Weise Nachweise dafür erbracht haben, dass die schulpflichtigen Kläger sowohl in der Vergangenheit als auch gegenwärtig ihrer Schulpflicht nachgekommen sind. Im Hinblick hierauf haben die Kläger lediglich einzelne Schulzeugnisse und Schulbescheinigungen beigebracht. Diese wenigen und damit unvollständigen Bescheinigungen genügen aber nicht, um den Nachweis zu führen, dass die schulpflichtigen Kläger ihrer Schulpflicht bisher nachgekommen sind. [...]

Des Weiteren sehen die Kläger ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts darin begründet, dass dieses zu Unrecht einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG geprüft und verneint habe. Ein solcher Anspruch sei nicht Gegenstand des Rechtsstreits gewesen. Der Beklagte habe allein eine Entscheidung über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104a AufenthG getroffen. Das Gericht könne nicht Anspruchsgrundlagen prüfen, die nicht Gegenstand des Rechtsstreits gewesen seien.

Das vermag ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts von vornherein nicht zu begründen. Mit diesem Vorbringen wenden die Kläger sinngemäß ein, das Verwaltungsgericht sei unter Verstoß gegen den in § 88 VwGO geregelten Grundsatz "ne ultra petita" über ihr Klagebegehren hinausgegangen. Damit rügen die Kläger in der Sache aber einen Verfahrensfehler (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. Mai 1983 - BVerwG 5 C 34.82 -, Buchholz 436.0 § 39 BSHG Nr. 2; Urteil vom 3. Juli 1992 BVerwG - 8 C 72.90 -, Buchholz 310 § 88 VwGO Nr. 19; Bay. VGH, Beschluss vom 4. August 2008 - 15 ZB 08.390 -, juris; Schmid, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 2. Aufl. 2006, § 88 Rdnr. 20; Happ, in: Eyermann, VwGO, 12. Aufl. 2006, § 124 Rdnr. 48).

Daneben greift der Einwand der Kläger zu § 88 VwGO nicht durch. Nach dieser Bestimmung darf das Gericht zwar nicht über das Klagebegehren hinausgehen. Für die Ermittlung des Klagebegehrens ist aber nicht allein der Wortlaut der Anträge, sondern das wirkliche, in dem gesamten Parteivorbringen zum Ausdruck kommende Rechtsschutzziel maßgeblich (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Mai 1980 - BVerwG 2 C 30.78 -, BVerwGE 60, 144; Urteil vom 4. Dezember 2001 - BVerwG 1 C 11.01 -, BVerwGE 115, 267; Beschluss vom 19. Mai 2008 - BVerwG 8 B 112.07 -, Buchholz 428 § 2 VermG Nr. 90). In Verfahren, in denen ein Ausländer die Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels begehrt, wird der Streitgegenstand seiner Klage durch die Aufenthaltszwecke, aus denen der Ausländer seinen Anspruch herleitet, bestimmt und begrenzt. Dabei ist der geltend gemachte Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im Hinblick auf seinen Aufenthaltszweck ohne neuen Antrag nach jeder in Betracht kommenden Vorschrift zu beurteilen. Im Falle einer Klage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen ist neben den Bestimmungen des Kapitels 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes auch ein Anspruch nach § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu prüfen (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Juni 2006 - BVerwG 1 C 14.05 -, BVerwGE 126, 192; Urteil vom 4. September 2007 - BVerwG 1 C 43.06 -, BVerwGE 129, 226;OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 11. Dezember 2006 - 18 E 1317/06 -, AuAS 2007, 86; Nds. OVG, Beschluss vom 7. September 2007 - 8 PA 84/07 -, juris). Denn eine nach § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG erteilte Aufenthaltserlaubnis wird entweder als Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 Satz 1 AufenthG erteilt oder sie gilt als Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes (§ 104a Abs. 1 Satz 2, 3 AufenthG).

Hiernach ist das Rechtsschutzbegehren der Kläger sachdienlich dahingehend auszulegen, dass sie die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen begehren. Dem steht nicht entgegen, dass der Beklagte mit dem angefochtenen Bescheid die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis allein nach § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG abgelehnte und das Klagevorbringen sich mit den vom Beklagten angeführten Versagungsgründen auseinander gesetzt hat. Insoweit bestimmt und begrenzt nicht allein die Entscheidung des Beklagten – hier zu § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG – den Streitgegenstand. Auch kann dem in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag aufgrund des Zusatzes "wie beantragt" nicht entnommen werden, dass die Kläger lediglich einen auf eine bestimmte Rechtsgrundlage beschränkten Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis geltend gemacht haben. Vielmehr ist bei sachdienlicher Auslegung dieser Zusatz auf den maßgeblichen Aufenthaltszweck der begehrten Aufenthaltserlaubnis – nämlich aus humanitären Gründen – zu beziehen. Weiterhin kann dem Vorbringen der Kläger im gerichtlichen Verfahren nicht entnommen werden, dass sie ihr Rechtsschutzziel nicht entsprechend ihrer Interessenlage umfassend, sondern auf eine bestimmte Rechtsgrundlage beschränkt verstehen wollten. Ein solches (eingeschränktes) Verständnis würde den wohlverstandenen Interessen der Kläger nicht gerecht werden.

Im Hinblick hierauf können die Kläger nicht damit gehört werden, dass ihnen dadurch eine Ermessensentscheidung des Beklagten genommen worden wäre. Nach dem Vorbringen der Kläger begegneten die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zu den Voraussetzungen des § 25 Abs. 5 AufenthG insoweit erheblichen rechtlichen Bedenken. Sie – die Kläger – seien im Hinblick auf Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht deshalb von dieser Regelung ausgenommen, weil sie seit Jahren im Bundesgebiet lediglich geduldet seien. Darüber hinaus lägen die Integrationsleistungen vor, die von ihnen gefordert werden könnten. Sie bemühten sich um die Integration im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Eine Reintegration im Heimatland sei hingegen nicht möglich.

Diese Einwände greifen nicht durch. Den Klägern ist eine Ermessensentscheidung des Beklagten zu § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG durch die Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht genommen worden. Dies wäre nur dann zu bejahen, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG zugunsten der Kläger vorgelegen hätten. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht dies verneint. Nach der angeführten Bestimmung kann einem vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer abweichend von § 11 Abs. 1 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall des Ausreisehindernisses in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. Entgegen dem Vorbringen der Kläger lässt sich ein solches Ausreisehindernis nicht zu ihren Gunsten aus Art. 8 EMRK ableiten. [...]

Zu Recht hat das Verwaltungsgericht eine gefestigte Integration der Kläger in der Bundesrepublik Deutschland verneint. Das Vorbringen der Kläger zieht die Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht in Zweifel. Zunächst ist das Verwaltungsgericht nicht davon ausgegangen, dass den Kläger allein deshalb eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu versagen wäre, weil sie im Bundesgebiet bisher lediglich geduldet wurden. Weiter ist offenkundig, dass es den Klägern trotz eines langjährigen Aufenthalts nicht gelungen ist, sich in wirtschaftlicher Hinsicht zu integrieren. Die Kläger haben nicht dargelegt, in welchen Bereichen sie eine nachhaltige Integration im Bundesgebiet erreicht haben. Dabei ist ein Ausländer nicht schon deshalb gefestigt in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert, weil er sich im Rahmen seiner Möglichkeiten hierum bemüht hat. Im Hinblick hierauf ist allein maßgeblich, ob der Ausländer tatsächlich integriert ist. Hingegen ist es nicht entscheidungserheblich, ob dem Ausländer insoweit ein Verschulden trifft und er deshalb eine unzureichende Integration – aus welchen Gründen auch immer – zu vertreten hat (Senatsbeschlüsse 16. September 2008 - 10 LA 83/07 -, n.v. und vom 17. November 2006 - 10 ME 222/06 -, AuAS 2007, 28). Im Übrigen kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich die Kläger im Rahmen ihrer Möglichkeiten bemüht haben, sich hier zu integrieren. Die aufgezeigten Versäumnisse der Kläger zu 1. und 2. im Hinblick auf die Einhaltung der Schulpflicht ihrer Kinder sprechen eher gegen ernsthafte Integrationsbemühungen. Soweit die Kläger zu 3. bis 12. geltend machen, sie hätten keinerlei Bezug zum Herkunftsland ihrer Eltern und eine Reintegration dort scheide aus, fehlt dem Vorbringen eine nähere Begründung. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass der Aufenthalt der minderjährigen Kläger nicht getrennt von ihren Eltern beendet wird. Es ist deshalb zu erwarten, dass die Kläger zu 1. und 2. den übrigen Klägern bei ihrer Eingliederung in die Gegebenheiten ihres Herkunftslandes behilflich sein werden. Ungeachtet dessen kann nicht davon ausgegangen werden, dass eine Integration von minderjährigen Ausländern in die Lebensverhältnisse des Herkunftslandes ihrer Eltern allein deshalb ausscheidet, weil sie in der Bundesrepublik Deutschland aufgewachsen sind. [...]