[...]
Der Kläger begehrt mit seiner Klage, den Bescheid vom 5. Juni 2008 aufzuheben, mit dem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die mit Bescheid vom 14. Dezember 1999 erfolgte Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG widerrufen und darüber hinaus festgestellt hat, dass in der Person des Klägers die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht gegeben seien. Diese Klage ist zulässig, sachlich aber nicht begründet. [...]
Die Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 AsylVfG für den Widerruf der mit Bescheid vom 14. Dezember 1999 ausgesprochenen Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG lagen zum gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Gericht vor. [...]
Entgegen der Ansicht der Klägervertreter ist das Bundesamt zu Recht vom Vorliegen entscheidungserheblich veränderter Umstände gegenüber der dem Bundesamtsbescheid gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG (vgl. BVerwG, U. v. 8.5.2003, 1 C 15/02, a.a.O.; zur früheren Rechtslage: BVerwG, U. v. 17.10.1989, 9 C 58/88, NVwZ 1990, 654 f.) maßgeblich zugrunde zu legenden Situation des Jahres 1999 ausgegangen. Die vom Bundesamt angenommene Gefährdungssituation für den Kläger wegen seines und seiner Familie gezeigten Engagements für die MLKP ("Marxist Leninist Kommunist Partisi" = "Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei") – eigenen Angaben des Klägers zufolge hatten ihm gerade seine Aktivitäten freilich nicht nachgewiesen werden können; die Situation sei für ihn jedoch nach der Verhaftung des eingetragenen Inhabers des Geschäfts, das tatsächlich er im Auftrag der Partei geführt habe, für ihn zu gefährlich geworden – besteht in Folge entscheidungsrelevanter Änderungen der Sachlage nicht mehr. Dass dem Kläger im Falle einer nunmehrigen Rückkehr – wie damals vom Bundesamt angenommen – Verfolgungsmaßnahmen drohten, kann wegen der grundlegenden Änderung der Verhältnisse mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden.
Zwar hatte dem Kläger – ausgehend von seinem Sachvortrag beim Bundesamt – möglicherweise ein Strafverfahren wegen Art. 169 tStGB a.F. gedroht. Derartige Straftaten verjährten jedoch, soweit sie – wie hier – in der Türkei begangen wurden, gemäß Art. 102 tStGB a. F. bereits nach fünf Jahren, so dass einer erneut drohenden Strafverfolgung mittlerweile Verjährung entgegen steht. Selbst wenn gegen den Kläger Strafen bereits festgesetzt worden sein sollten, würden diese – bis zu fünf Jahren – gemäß Art. 112 Abs. 4 StGB a. F. nach Ablauf von zehn Jahren infolge Verjährung erlöschen. Im Falle des Klägers wäre eine derartige Strafe zwar derzeit noch nicht verjährt, indes ist eine Strafverfolgung gegen den Kläger für vor dem 23. April 1999 begangene Straftaten gemäß Art. 169 tStGB – wie die in Rede stehenden Unterstützungshandlungen des (im Januar 1999 ausgereisten) Klägers – ausgeschlossen. Der Erlass eines solchen Amnestiegesetzes wäre sogar geeignet, die Rechtskraft eines asylrechtlichen Verpflichtungsurteils zu durchbrechen (vgl. BVerwG, U. v. 24.11.1998, 9 C 53.97, BayVBl 1999, 376). Zutreffend hat das Bundesamt weiterhin festgestellt, dass im Falle des Klägers auch eine Strafverfolgung nach Art. 314 Abs. 2 tStGB wegen Mitgliedschaft in einer bewaffneten Organisation bzw. nach Art. 220 Abs. 7 tStGB wegen Unterstützung einer solchen Organisation nicht in Betracht komme, da nach den Übergangsbestimmungen zum neuen Strafrecht (vgl. Gesetz Nr. 5252 vom 4.11.2004) bei vor Inkrafttreten des neuen Strafgesetzbuches am 1. Juni 2005 begangenen Straftaten das jeweils günstigere Gesetz anzuwenden sei.
Zu Recht hat das Bundesamt auf weitere, nach Erlass des genannten Amnestiegesetzes eingetretene grundlegende Veränderungen in der Türkei hingewiesen. Seit November 2002 hat die AKP-Regierung ein umfangreiches gesetzgeberisches Reformprogramm verwirklicht, das als das umfassendste in der türkischen Geschichte seit den Atatürkschen Reformen in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts gilt. Kernelemente der türkischen Reformpolitik, die vorsichtig bereits Anfang/Mitte 2002 von der Vorgängerregierung eingeleitet wurde (vgl. u.a. die Abschaffung der Todesstrafe im August 2002) sind die – nach üblicher Zählung – acht "Reformpakete" aus den Jahren 2002 bis 2004. Mit Inkrafttreten des letzten Gesetzespaketes am 1. Juni 2005 hat die Türkei die politischen Kopenhagener Kriterien für die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen hinreichend erfüllt. Die Kernpunkte der acht „Reformpakete“ sind die Abschaffung der Todesstrafe, die Abschaffung der Staatssicherheitsgerichte, die Reform des Nationalen Sicherheitsrates (Eindämmung des Einflusses des Militärs), die Zulassung von Unterricht in anderen in der Türkei gesprochenen Sprachen als Türkisch (de facto Kurdisch), die Benutzung dieser Sprachen in Rundfunk und Fernsehen, erleichterte Bestimmungen über die rechtliche Stellung von Vereinen und religiösen Stiftungen, Neuregelungen zur Erschwerung von Parteischließungen und Politikverboten, Maßnahmen zur Verhütung sowie zur erleichterten Strafverfolgung und Bestrafung von Folter, Ermöglichung der Wiederaufnahme von Verfahren nach einer Verurteilung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sowie die Einführung von Berufungsinstanzen. Im Bereich der Strafjustiz kam es bereits seit 2002 zu entscheidenden Verbesserungen z. B. bei den strafrechtlichen Bestimmungen zur Verfolgung von Meinungsdelikten. Die neuen, zum 1. Juni 2005 in Kraft getretenen Gesetze sollen eine Strafbarkeit, die sich im Rahmen von EU-Standards hält, bewirken. Im Rahmen der im Mai 2004 verabschiedeten Verfassungsänderungen wurde außerdem Artikel 90 der Verfassung über internationale Abkommen geändert und – vergleichbar zu Art. 25 GG – der Vorrang der von der Türkei ratifizierten völkerrechtlichen und europäischen Verträge gegenüber den nationalen Rechtsvorschriften verankert. Geraten internationale Menschenrechtsübereinkommen mit nationalen Rechtsvorschriften in Konflikt, haben die türkischen Gerichte jetzt internationale Übereinkommen anzuwenden. Die Reformen standen in engem Zusammenhang mit dem Ziel des Beginns von EU-Beitrittsverhandlungen, zielen aber erklärtermaßen auch auf eine weitere Demokratisierung der Türkei zum Wohle ihrer Bürger ab. Bestehende Implementierungsdefizite sind u.a. darauf zurückzuführen, dass viele Entscheidungsträger in Verwaltung und Justiz auf Grund ihrer Sozialisation im kemalistisch-laizistisch-nationalen Staatsverständnis Skepsis und Misstrauen gegenüber der islamisch-konservativen AKP-Regierung hegen und Reformschritte als von außen oktroyiert und potentiell schädlich wahrnehmen. In ihrer Berufspraxis setzen sie den Reformen großes Beharrungsvermögen entgegen und verteidigen damit aus ihrer Sicht das Staatsgefüge als Bollwerk gegen Separatismus und Islamismus. Die Regierung setzt sich jedoch nachdrücklich dafür ein, durch zahlreiche erklärende und anweisende Runderlasse die Implementierung der beschlossenen Reformen voranzutreiben und die sachgerechte Anwendung der Gesetze sicherzustellen (vgl. zum Ganzen: Lagebericht des Auswärtigen Amtes Türkei vom 25.10.2007, Stand: September 2007).
Aufgrund der genannten Reformen ist der Kläger vor Maßnahmen, die die Voraussetzungen des nunmehr anzuwendenden § 60 Abs. 1 AufenthG erfüllen könnten, hinreichend sicher. Das Bundesamt verweist zutreffend darauf, dass dem Auswärtigen Amt seit vier Jahren kein einziger Fall bekannt geworden ist, in dem ein aus der Bundesrepublik Deutschland in die Türkei zurückgekehrter abgelehnter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten gefoltert oder misshandelt worden wäre. Auch die türkischen Menschenrechtsorganisationen haben nach Angaben des Auswärtigen Amtes explizit erklärt, dass diesem Personenkreis keine staatlichen Repressionsmaßnahmen drohen (vgl. Lageberichte vom 25.10.2007 und vom 11.9.2008).
Zusammenfassend steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass jedenfalls nunmehr – zehn Jahre nach der Ausreise des Klägers und in Anbetracht der geschilderten Reformen in der Türkei – seitens des türkischen Staates oder anderer nichtstaatlicher Akteure im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG keinerlei (Verfolgungs-) Interesse an dem Kläger mehr besteht. Der Kläger ist vor Übergriffen, die die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG erfüllen könnten, hinreichend sicher. [...]
Zu Recht hat das Bundesamt auch das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG verneint. Das Bundesamt war befugt, hierzu (erstmals) eine negative Feststellung zu treffen (vgl. BVerwG, U. v. 20.4.1999, 9 C 29/98, BayVBl 1999, 735 = InfAuslR 1999, 373). [...]