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Die zulässige Klage ist nicht begründet. [...]
Die Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 AsylVfG für den Widerruf der Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, waren zum gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Gericht gegeben. [...]
Eine Wiederholung der damals dem Kläger drohenden Verfolgungsmaßnahmen kann wegen der seit November 2002 in der Türkei umgesetzten Reformvorhaben mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden.
Seit diesem Zeitpunkt hat die AKP-Regierung ein umfangreiches gesetzgeberisches Reformprogramm verwirklicht, das als das umfassendste in der türkischen Geschichte seit den Atatürkschen Reformen in den 1920er Jahren gilt. Kernelemente der türkischen Reformpolitik, die vorsichtig bereits Anfang/Mitte 2002 von der Vorgängerregierung eingeleitet wurde (u.a. Abschaffung der Todesstrafe im August 2002) sind die – nach üblicher Zählung – acht "Reformpakete" aus den Jahren 2002 bis 2004. Mit Inkrafttreten des letzten Gesetzespaketes am 1. Juni 2005 hat die Türkei die politischen Kopenhagener Kriterien für die Aufnahme von EUBeitrittsverhandlungen hinreichend erfüllt. Die Kernpunkte der acht „Reformpakete“ sind: Abschaffung der Todesstrafe, Abschaffung der Staatssicherheitsgerichte, Reform des Nationalen Sicherheitsrates (Eindämmung des Einflusses des Militärs), Zulassung von Unterricht in anderen in der Türkei gesprochenen Sprachen als Türkisch (de facto Kurdisch), die Benutzung dieser Sprachen in Rundfunk und Fernsehen, erleichterte Bestimmungen über die rechtliche Stellung von Vereinen und religiösen Stiftungen, Neuregelungen zur Erschwerung von Parteischließungen und Politikverboten, Maßnahmen zur Verhütung sowie zur erleichterten Strafverfolgung und Bestrafung von Folter, Ermöglichung der Wiederaufnahme von Verfahren nach einer Verurteilung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Einführung von Berufungsinstanzen. Im Bereich der Strafjustiz kam es bereits seit 2002 zu entscheidenden Verbesserungen z.B. bei den strafrechtlichen Bestimmungen zur Verfolgung von Meinungsdelikten. Die neuen, zum 1. Juni 2005 in Kraft getretenen Gesetze sollen eine Strafbarkeit, die sich im Rahmen von EU-Standards hält, bewirken. Im Rahmen der im Mai 2004 verabschiedeten Verfassungsänderungen wurde außerdem Artikel 90 der Verfassung über internationale Abkommen geändert und der Vorrang der von der Türkei ratifizierten völkerrechtlichen und europäischen Verträge gegenüber den nationalen Rechtsvorschriften verankert (vergleichbar Art. 25 GG). Geraten internationale Menschenrechtsübereinkommen mit nationalen Rechtsvorschriften in Konflikt, haben die türkischen Gerichte jetzt internationale Übereinkommen anzuwenden.
Die Reformen standen in engem Zusammenhang mit dem Ziel des Beginns von EU-Beitritts-Verhandlungen, zielen aber erklärtermaßen auch auf eine weitere Demokratisierung der Türkei zum Wohle ihrer Bürger ab. Bestehende Implementierungsdefizite sind u.a. darauf zurückzuführen, dass viele Entscheidungsträger in Verwaltung und Justiz auf Grund ihrer Sozialisation im kemalistisch-laizistisch-nationalen Staatsverständnis Skepsis und Misstrauen gegenüber der islamisch-konservativen AKP-Regierung hegen und Reformschritte als von außen oktroyiert und potentiell schädlich wahrnehmen. In ihrer Berufspraxis setzen sie den Reformen großes Beharrungsvermögen entgegen und verteidigen damit aus ihrer Sicht das Staatsgefüge als Bollwerk gegen Separatismus und Islamismus. Die Regierung setzt sich nachdrücklich dafür ein, durch zahlreiche erklärende und anweisende Runderlasse die Implementierung der beschlossenen Reformen voranzutreiben und die sachgerechte Anwendung der Gesetze sicherzustellen (vgl. zum Ganzen: Lagebericht des Auswärtigen Amtes Türkei vom 11.9.2008, Stand: Juli 2008).
Die derzeitige politische Entwicklung in der Türkei bietet jedenfalls keine gesicherten Anhaltspunkte dafür, dass es zu einer generellen Rücknahme der geschilderten Reformmaßnahmen kommen wird.
Nach alledem ist eine politische Verfolgung des Klägers wegen einer nunmehr längere Zeit zurückliegenden Unterstützung der PSK (Partiya Soresa Kurdistan) mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen, zumal der damals geltende Ausnahmezustand mittlerweile längst aufgehoben ist und der Kläger weitere Aktivitäten exilpolitischer Art nicht vorgetragen hat. Vielmehr hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich erklärt, dass er sich seit etwa zwei Jahren nicht mehr politisch beschäftige und er in der Bundesrepublik Deutschland lediglich an der Nevrozfesten und Nevrozdemonstrationen teilgenommen habe. Schon aus diesem Vorbringen ergibt sich, dass der Kläger wegen früherer Aktivitäten für die PSK nicht mehr mit politischer Verfolgung in der Türkei zu rechnen hat. Denn es ist lebensfremd anzunehmen, die türkischen Sicherheitsbehörden würden gegen einen am Rand beteiligten Unterstützer einer nicht im Zentrum gewaltsamer Auseinandersetzungen stehenden Organisation, deren Führer mit weiteren Mitgliedern zwar angeklagt aber aus der Haft entlassen worden sind, in asylrelevanten Weise vorgehen (vgl. OVG Münster, Einzelentscheider-Brief 2/05, S. 4/5). Dies gilt erst recht, nachdem sich der Kläger nach seinem eigenen Vorbringen seit langem jeglicher herausragenden politischen Betätigung enthalten hat.
Der Kläger ist deshalb auch zur Überzeugung des Gerichts bei einer Rückkehr in die Türkei ebenso vor anderen asylerheblichen Repressionen, insbesondere vor Folter, hinreichend sicher.
Ist der türkischen Grenzpolizei bekannt, dass es sich um eine abgeschobene Person handelt, wird diese nach ihrer Ankunft in der Türkei einer Routinekontrolle unterzogen, die einen Abgleich mit dem Fahndungsregister nach strafrechtlich relevanten Umständen und eine eingehende Befragung beinhalten kann. Abgeschobene können dabei in den Diensträumen der jeweiligen Polizeiwache vorübergehend zum Zwecke einer Befragung festgehalten werden. Gleiches gilt, wenn jemand keine gültigen Reisedokumente vorweisen kann oder aus seinem Reisepass ersichtlich ist, dass er sich ohne Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland aufgehalten hat. Die Einholung von Auskünften kann je nach Einreisezeitpunkt und dem Ort, an dem das Personenstandsregister geführt wird, einige Stunden dauern. In neuerer Zeit wurde dem Auswärtigen Amt nur ein Fall bekannt, in dem eine Befragung bei Rückkehr länger als mehrere Stunden dauerte. Besteht der Verdacht einer Straftat (z.B. Passvergehen, illegale Ausreise), werden strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet. Insoweit handelt es sich jedoch nicht um asylerhebliche Vorgänge.
Es sind mehrere Fälle bekannt geworden, in denen Suchvermerke zu früheren Straftaten oder über Wehrdienstentziehung von den zuständigen türkischen Behörden versehentlich nicht gelöscht worden waren, was bei den Betroffenen zur kurzzeitigen Ingewahrsamnahme bei Einreise führte. Das Auswärtige Amt hat in den vergangenen Jahren Fälle, in denen konkret Behauptungen von Misshandlung oder Folter in die Türkei abgeschobener Personen (vor allem abgelehnter Asylbewerber) vorgetragen wurden, im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten durch seine Auslandsvertretungen stets überprüft. Dem Auswärtigen Amt ist seit fast vier Jahren kein einziger Fall bekannt, in dem ein aus der Bundesrepublik Deutschland in die Türkei zurückgekehrter abgelehnter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten gefoltert oder misshandelt wurde. In den letzten beiden Jahren wurde kein Fall an das Auswärtige Amt zur Überprüfung mit der Behauptung heran getragen, dass ein abgelehnter Asylbewerber nach Rückkehr misshandelt worden sei. Auch die türkischen Menschenrechtsorganisationen haben explizit erklärt, dass aus ihrer Sicht diesem Personenkreis keine staatlichen Repressionsmaßnahmen drohen. Das Auswärtige Amt geht deshalb davon aus, dass bei abgeschobenen Personen die Gefahr einer Misshandlung bei Rückkehr in die Türkei nur auf Grund vor Ausreise nach Deutschland zurückliegender wirklicher oder vermeintlicher Straftaten auch angesichts der durchgeführten Reformen und der Erfahrungen der letzten Jahre in diesem Bereich äußerst unwahrscheinlich ist. Misshandlung oder Folter allein auf Grund der Tatsache, dass ein Asylantrag gestellt wurde, schließt das Auswärtige Amt aus (vgl. Lagebericht Türkei vom 25.10.2007).
Das erkennende Gericht schließt sich dieser Einschätzung an (vgl. auch Hessischer VGH vom 5.8.2002 - 12 UE 2172/99.A, OVG Nordrhein-Westfalen vom 27.6.2002 - 8 A 4782/99.A - und vom 25.1.2000 - 8 A 1292/96.A; OVG Magdeburg vom 8.11.2000 - A 3 S 657/98; OVG Lüneburg vom 11.10.2000 - 2 L 4591/94; VGH Baden-Württemberg vom 10.11.1999 - A 12 S 2013/97, vom 2.4.1998 - A 12 S 1092/96, vom 2.7.1998 - A 12 S 1006/97 und - A 12 S 3031/96, vom 21.7.1998 - A 12 S 2806/96 sowie vom 22.7.1999 - A 12 S 1891/97 -).
Schließlich hätte auch ein mit dem Vorwurf der Wehrdienstentziehung begründetes Vorgehen der türkischen Behörden gegen den Kläger einen rein strafrechtlichen und keinen politisch motivierten Hintergrund, da nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Beschluss vom 10.9.1999, 9 B 7/99) die zwangsweise Heranziehung zum Wehrdienst und die damit zusammenhängenden Sanktionen, selbst wenn sie von weltanschaulich totalitären Staaten ausgehen, nicht schlechthin eine politische Verfolgung darstellen. Dahin schlagen derartige Maßnahmen nur dann um, wenn sie zielgerichtet gegenüber bestimmten Personen eingesetzt werden, die dadurch gerade wegen ihrer Religion, ihrer politischen Überzeugung oder eines sonstigen asylerheblichen persönlichen Merkmals getroffen werden sollen. Dies trifft jedoch nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 11. September 2008 für türkische Staatsangehörige, die sich durch einen Aufenthalt im Ausland der Einberufung zum Wehrdienst entzogen haben, ersichtlich nicht zu.
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG. Das Bundesamt war befugt, hierzu (erstmals) eine negative Feststellung zu treffen (vgl. BVerwG vom 20.4.1999 - 9 C 29/98, InfAuslR 1999, 373). [...]