VG Dresden

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Zitieren als:
VG Dresden, Beschluss vom 12.03.2009 - 3 L 55/09 - asyl.net: M15420
https://www.asyl.net/rsdb/M15420
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, Verlängerung, Ausreisehindernis, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, abgelehnte Asylbewerber, Prüfungskompetenz, Ablehnungsbescheid, Bindungswirkung, Krankheit, inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, Anpassungsstörung, Retraumatisierung, Suizidgefahr, Türkei
Normen: VwGO § 80 Abs. 5; AufenthG § 25 Abs. 5; AufenthG § 26 Abs. 2; AsylVfG § 42 S. 1; AufenthG § 60a Abs. 2; GG Art. 2 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Der gestellte Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat Erfolg. [...]

Ob dem Antragsteller ein Anspruch auf Verlängerung der ihm nach Maßgabe des § 25 Abs. 5 AufenthG erteilten Aufenthaltserlaubnis zusteht oder er zumindest einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie (Neu-) Bescheidung seines entsprechenden Antrags hat, lässt sich nach gegenwärtiger Aktenlage nicht abschließend beurteilen. [...]

Die von der Antragsgegnerin in diesem Rahmen getroffene Feststellung, dass im Fall des Antragstellers derzeit keine Ausreise- oder Abschiebehindernisse (mehr) bestehen und damit gegenwärtig auch die Voraussetzungen des § 25 Abs. 5 AufenthG nicht (mehr) erfüllt sind, begegnet rechtlichen Bedenken. [...]

Zwar ist – wovon die Behörde zu Recht ausgeht – von auf das Heimatland des Antragstellers bezogenen (= zielstaatsbezogenen) Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 2–7 AufenthG schon deshalb nicht auszugehen, weil das damalige Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge in seinem Bescheid vom 21. Februar 2003 unanfechtbar festgestellt hat, dass keine Abschiebungshindernisse nach Maßgabe des damaligen § 53 AuslG bestehen. Diese Feststellung ist für die Ausländerbehörde gemäß § 42 Satz 1 AsylVfG auch im Falle der negativen Entscheidung bindend (vgl. zur Rechtslage nach § 53 AuslG: BVerwG, Urteil vom 7. September 1999, NVwZ 2000, 204 = InfAuslR 2000, 16 m.w.N.). [...]

Darüber hinaus kann allerdings eine Krankheit im Hinblick auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG Duldungsgrund nach § 60 a Abs. 2 AufenthG sein bzw. ein Ausreisehindernis im Sinne des § 25 Abs. 5 AufenthG darstellen, sofern es sich dabei nicht von vornherein um ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG handelt. Voraussetzung ist aber – wie auch für § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (früher: § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG) –, dass die konkrete Gefahr besteht, der Gesundheitszustand werde sich in Folge der Abschiebung in einem nicht unwesentlichen Maße verschlechtern; es gilt hier der gleiche Prognosemaßstab wie bei § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bzw. § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG (vgl. Funke/Kaiser, in: GK-AuslR, § 55 Rdnr. 22 und 23, April 2001; VGH Bad.-Württ., Beschlüsse vom 2. Mai 2000 und 7. Mai 2001, InfAuslR 2000, 435 und 2001, 384 m.w.N.). Die mit dem Vollzug der Abschiebung befasste Behörde hat daher die Pflicht, eine soweit wie möglich abgesicherte Prognose über eine behauptete Gesundheitsgefahr zu gewinnen, damit eine Abschiebung verantwortet werden kann. Die Abschiebung eines Ausländers hat zu unterbleiben, wenn das ernsthafte Risiko besteht, dass sich sein Gesundheitszustand unmittelbar durch die Abschiebung wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert, dass also die Abschiebung ihn in diesem Sinne krank oder kränker macht. Da bei einer derartigen Sachlage die befürchteten negativen Auswirkungen bereits durch die Abschiebung als solche und nicht erst wegen der spezifischen Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung eintreten, handelt es sich gegebenenfalls – als inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis – um ein rechtliches Abschiebehindernis nach § 60 a Abs. 2 AufenthG bzw. Ausreisehindernis i. S. d. § 25 Abs. 5 AufenthG und nicht um ein – zielstaatsbezogenes und bei (ehemaligen) Asylbewerbern allein vom Bundesamt zu prüfendes – Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Dabei ist die Annahme eines Vollstreckungshindernisses nicht etwa im Hinblick auf die Möglichkeit einer therapeutischen Behandlung im Zielstaat der Abschiebung ausgeschlossen, d.h. der Ausländer muss sich nicht gleichsam darauf verweisen lassen, eine durch die Abschiebung herbeigeführte wesentliche Verschlechterung seines Gesundheitszustands könne im Rahmen einer therapeutischen Behandlung im Zielstaat der Abschiebung behoben werden. Krankheitsbedingte Gefahren, die sich allein durch die Abschiebung und nicht durch die spezifischen Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung ergeben können, sind demnach inlandsbezogene Vollstreckungs- bzw. Abschiebungshindernisse (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. September 1999, NVwZ 2000, 206).

Aufgrund der vorgelegten und in den Akten enthaltenen ärztlichen Stellungnahmen spricht derzeit einiges für eine solche konkrete Gesundheitsgefahr schon durch den Vollzug der Abschiebung.

Die im Auftrag des Gesundheitsamtes Meißen erstellte Stellungnahme des Facharztes R. B. vom 27. Mai 2008 stellt zwar klar, dass der Antragsteller zweifelsfrei reisefähig sei und mit Bus, Zug oder Flugzeug befördert werden könne. Dies wird von dem Prozessbevollmächtigten des Antragstellers letztlich nicht ernsthaft bestritten. [...]

In Anbetracht der vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen kann jedoch eine konkrete Gefahr des Eintritts oder der weiteren Verfestigung eines Gesundheitsschadens des Antragstellers unmittelbar durch die Abschiebung (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinn; vgl. VGH BW, Beschluss vom 20. Juli 2003, a.a.O.) nicht ausgeschlossen werden.

Die Fachärzte K. und B. gehen in ihren jeweiligen Stellungnahmen für die Gesundheitsämter – ebenso wie die den Antragsteller behandelnden Ärzte – von einem bestehenden psychiatrischen Behandlungsbedarf aufgrund einer "depressiv getönten Anpassungsstörung" bzw. "schwerer Anpassungsstörung" oder "anhaltender Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung" aus. [...]

Allerdings halten Herr Y., ebenso wie seine Praxisvorgängerin, Frau P., den Kläger deshalb für nicht reisefähig, weil im Fall einer Abschiebung in die Türkei "eine Verschlimmerung der Suizidalität" nicht auszuschließen sei und eine Retraumatisierung auf jeden Fall eintreten werde. In diese Richtung äußern sich auch die für die Gesundheitsämter Dahme-Spreewald und Meißen tätig gewordenen Fachärzte. Herr B. führt aus, dass der Antragsteller bei einer Rückkehr in die Türkei mit "massiven Verfolgungen" rechnen müsse und sich dessen auch bewusst sei. Dies beeinträchtige seine Rückkehrfähigkeit massiv und werde "sicherlich zusätzliche Traumata" setzen. Herr K., dessen Gutachten zur Erteilung der Aufenthaltserlaubnis durch das Landratsamt Dahme-Spreewald geführt hat, bekundete, dass der Antragsteller den türkischen Staat als eine erhebliche Bedrohung für seine persönliche Integrität empfinde. Die Rückkehr in die Türkei würde mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Zuspitzung der psychischen Symptomatik infolge einer Retraumatisierung führen. Damit gehen alle mit dem Fall befassten psychiatrischen Fachärzte erkennbar gerade von einer Reiseunfähigkeit des Antragstellers im weiteren Sinn (s.o.) aus. Für sie steht sämtlich nicht die Frage im Vordergrund, ob der Antragsteller transportfähig ist. Vielmehr halten sie gerade seinen Transport in die Türkei aufgrund seiner Krankheitsgeschichte für problematisch und prognostizieren für diesen Fall eine nicht nur unwesentliche Verschlechterung seines Gesundheitszustandes.

Ob diese insoweit einstimmig geäußerten ärztlichen Prognosen letztlich zutreffen, kann im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes dahinstehen. Gegen ihre Beweiskraft könnte etwa sprechen, dass sämtlichen Stellungnahmen kritiklos die Darstellung des Antragstellers hinsichtlich der von ihm angeblich erlebten Verfolgungssituation in der Türkei und dessen Wertungen hinsichtlich der von ihm erwarteten Reaktion der türkischen Behörden bei seiner Rückkehr zugrunde gelegt wurden. Ob die diagnostizierte Reiseunfähigkeit (im weiteren Sinne) des Antragstellers tatsächlich vorliegt, wird daher zunächst im Widerspruchsverfahren – ggf. durch die Einholung eines weiteren amtsärztlichen Fachgutachtens – zu klären sein.

Vor diesem Hintergrund liegt auf der Hand, dass die Interessen des Antragstellers an seinem vorläufigen weiteren Verbleib im Bundesgebiet die öffentlichen Interessen am Sofortvollzug des angegriffenen Bescheides überwiegen. Sollten sich im Falle einer Abschiebung die Prognosen der mit dem Fall bisher befassten Ärzte als zutreffend erweisen, würde möglicherweise ein irreparabler Gesundheitsschaden des Antragstellers eintreten. Demgegenüber erscheint das öffentliche Interesse am Sofortvollzug des Bescheides bei offenem Ausgang des Widerspruchsverfahrens als relativ gering. Zudem geht der Antragsteller einer Erwerbstätigkeit nach und bezieht keine Sozialleistungen. [...]