VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Beschluss vom 26.02.2009 - 8 L 521/08 - asyl.net: M15436
https://www.asyl.net/rsdb/M15436
Leitsatz:

Die Addition mehrerer Freiheitsstrafen genügt nicht, um die nach § 6 Abs. 5 S. 3 FreizügG/EU erforderliche Mindeststrafe festzustellen.

 

Schlagwörter: D (A), Ausweisung, Türken, Assoziationsberechtigte, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt, Sofortvollzug, zwingende Gründe der öffentlichen Ordnung, Straftaten, Freiheitsstrafe, Addition, Rechtsweggarantie
Normen: VwGO § 80 Abs. 5; ARB Nr. 1/80 Art. 7 Abs. 1; ARB Nr. 1/80 Art. 14 Abs. 1; RL 2004/38/EG Art. 28 Abs. 3a; FreizügG/EU § 6 Abs. 5; GG Art. 19 Abs. 4
Auszüge:

Die Addition mehrerer Freiheitsstrafen genügt nicht, um die nach § 6 Abs. 5 S. 3 FreizügG/EU erforderliche Mindeststrafe festzustellen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Der – sinngemäß gestellte – Antrag des Antragstellers, die aufschiebende Wirkung seiner zum Aktenzeichen 8 K 944/08 erhobenen Klage gegen die Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 9. April 2008 hinsichtlich der Ausweisung wiederherzustellen und hinsichtlich der Abschiebungsandrohung anzuordnen, hat Erfolg. [...]

Zwar hat der Antragsgegner die mit der angefochtenen Ordnungsverfügung vom 9. April 2008 vorgenommene Ausweisung des Antragstellers zu Recht (auch) auf § 55 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) gestützt. Er hat unterstellt, dass der Antragsteller im Sinne der Art. 6, 7 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) assoziationsberechtigt ist. [...]

Nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 sind Beschränkungen der daraus folgenden Rechte nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit möglich. Die rechtmäßige Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen setzt danach voraus, dass eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Erforderlich ist insoweit eine einzelfallbezogene, vom persönlichen Verhalten des Betroffenen ausgehende Prüfung und das Vorhandensein einer gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung, d. h. ein Verhalten des Betroffenen, das nach einer auf spezialpräventive Gesichtspunkte beschränkten Gefahrenprognose eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Darüber hinaus hängt die Rechtmäßigkeit der Ausweisung davon ab, ob das öffentliche Interesse am Schutz der öffentlichen Ordnung im Sinne des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 das private Interesse des Betroffenen an seinem Verbleib im Bundesgebiet deutlich überwiegt. Diese Abwägung hat die Ausländerbehörde im Rahmen der in jedem Fall gebotenen Ermessensentscheidung vorzunehmen (BVerwG, Urteile vom 3. August 2004 - 1 C 29.02 und 1 C 30.02 -, a.a.O.; EuGH, Urteil vom 29. April 2004 - Rs. C-482/01 und C-493/01 (Orfanopoulos und Oliveri), Rdnr. 64 ff., a.a.O.).

Der Antragsteller hat nachhaltig ein persönliches Verhalten an den Tag gelegt, das in diesem Sinne eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Er ist seit 1998 zu sechs Freiheitsstrafen (12 Monate, 11 Monate 2 Wochen, 6 Monate, 9 Monate, 24 Monate, 4 Monate) mit einer Gesamtdauer von fünfeinhalb Jahren verurteilt worden, vorwiegend wegen Diebstahls, Einbruchdiebstahls und Automatendiebstahls, wobei die Taten im Wesentlichen der Beschaffung von Rauschmitteln dienten. [...]

Die Rechtmäßigkeit der Ausweisung ist aber aus einem anderen Grund zweifelhaft. Es ist offen, ob der aus Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates ("Unionsbürgerrichtlinie“) vom 29. April 2004 folgende besondere Ausweisungsschutz auch für assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige gilt.

Nach Art. 28 Abs. 3 a der Richtlinie 2004/38/EG dürfen Unionsbürger, die ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet gehabt haben, (nur) aus "zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, die von den Mitgliedstaaten festgelegt wurden" ausgewiesen werden. Nach § 6 Abs. 5 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) sind dementsprechend zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit erforderlich, die nach § 6 Abs. 5 Satz 3 Freizügigkeitsgesetz/EU nur dann vorliegen können, wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt worden ist, bei der letzten Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet wurde, wenn die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland betroffen ist oder wenn vom Betroffenen eine terroristische Gefahr ausgeht.

Die Frage der Geltung der Richtlinie und ihrer Umsetzung in § 6 Abs. 5 FreizügG/EU auch für assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige ist bislang nicht geklärt (verneinend Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Beschlüsse vom 5. September 2008 - 18 A 855/07 - und vom 15. Mai 2007 - 18 B 2389/06 -, EzAR-NF 19 Nr 20, NVwZ 2007, 1445, Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteile vom 8. Januar 2008 - 10 B 07.304 - und 20. März 2008 - 10 BV 07.1856 - und Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 27. März 2008 - 11 LB 26/08 -, bejahend Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 12. Juli 2006 - 12 TG 494/06 -, ZAR 2006, 331, AuAS 2006, 231, InfAuslR 2006, 393; Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 5. Dezember 2006 - 7 A 10924/06 - InfAuslR 2007, 148, NVwZ-RR 2007, 488).

Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Frage noch nicht entschieden. Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat dem EuGH mit Beschluss vom 22. Juli 2007 - 3 S 1917/07 -, NVwZ-RR 2009, 82, InfAuslR 2008, 439, ein Vorabentscheidungsersuchen zur Anwendbarkeit des Art. 28 Abs. 3 lit. a der Richtlinie 2004/38/EG auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige vorgelegt, das der EuGH noch nicht behandelt hat.

Diese offene Rechtsfrage bedarf, wenn es auf sie ankommt, der grundsätzlichen Klärung. Sie kann nicht im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes abschließend beantwortet werden (OVG NRW, Beschluss vom 26. Februar 2007 - 17 B 140/06 -, Oberverwaltungsgericht Bremen, Beschluss vom 22. Juli 2008 - 1 B 266/08 -).

Einstweilen muss davon ausgegangen werden, dass die Ausweisung des Antragstellers rechtswidrig sein könnte, wenn sie den Anforderungen des Art. 28 der Richtlinie 2004/38/EG nicht genügt, was im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung zu Gunsten des Antragstellers wirkt.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kommt der in Art. 19 Abs. 4 GG verbürgten Garantie eines umfassenden und effektiven Rechtsschutzes wesentliche Bedeutung bereits für den vorläufigen Rechtsschutz zu, weil dessen Versagung vielfach irreparable Folgen hat. Der Rechtsschutzanspruch des Betroffenen ist gegenüber dem öffentlichen Interesse am Vollzug umso stärker und darf umso weniger zurückstehen, je schwer wiegender die ihm auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahme der Verwaltung Unabänderliches bewirkt (Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 10. Mai 2007 - 2 BvR 304/07 -, InfAuslR 2007, 275, ZAR 2007, 243, NVwZ 2007, 946, AuAS 2007, 242; vgl. auch den Beschluss vom 22. Juli 2008 - 1 B 266/08 -).

Danach ist dem Antrag hier stattzugeben. Entgegen der Ansicht des Antragsgegners kommt es auf die Frage der Anwendbarkeit des Art. 28 der Richtlinie 2004/38/EG an, weil der Antragsteller die für eine Ausweisung erforderlichen Voraussetzungen des § 6 Abs. 5 Satz 3 Freizügigkeitsgesetz/EU nicht erfüllt. Insbesondere ist er nicht wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt worden. Nach der Umsetzung des Art. 28 der Richtlinie 2004/38/EG in § 6 Abs. 5 Satz 3 Freizügigkeitsgesetz/EU reicht eine Addition mehrerer Freiheitsstrafen, hier der sechs gegen den Antragsteller verhängten Freiheitsstrafen (12 Monate, 11 Monate 2 Wochen, 6 Monate, 9 Monate, 24 Monate, 4 Monate) nicht aus. Hätte der Gesetzgeber die Möglichkeit einer Addition im Auge gehabt, hätte er eine Formulierung wie etwa in § 53 Nr. 1 AufenthG gewählt ("... wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens ... oder wegen vorsätzlicher Straftaten innerhalb von ... zu mehreren Freiheits- oder Jugendstrafen von zusammen mindestens ..."). Abgesehen davon muss es sich bei einem Fall des Art. 28 Abs. 3 a der Richtlinie 2004/38/EG wohl um außergewöhnlich schwere Straftaten handeln, wobei die Schwere der Straftat entweder in der besonderen Höhe der Freiheitsstrafe oder aber in dem besonders gravierenden Deliktstyp deutlich werden kann (Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 16. Mai 2006 - 11 LC 324/05 -, InfAuslR 2006, 350) so dass der Additionsgedanke auch deshalb ausscheidet. Der Antragsteller fällt nicht in die Kategorie eines solchen Straftäters, der nach Art. 28 der Richtlinie 2004/38/EG aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit im gemeinschaftsrechtlichen Sinn auszuweisen wäre. Der Typ der von ihm wiederholt begangenen Delikte gehört nicht zu den hier vorausgesetzten besonders gravierenden. Einziger gedanklicher Anknüpfungspunkt zu einem schweren Deliktstyp könnte sein, dass die Taten des Antragstellers im Wesentlichen der Beschaffungskriminalität zuzuordnen sind, also durch seinen Drogenkonsum verursacht wurden. Derartige Straftaten wegen Drogenkonsums repräsentieren aber nicht den hohen Unwertgehalt wie etwa von Straftaten in Gestalt des Drogenhandels (vgl. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Urteil vom 23. Juni 2008 1638/03 (Maslov II), InfAuslR 2008, 333).

In dieser Situation hat angesichts der wesentlichen Bedeutung der in Art. 19 Abs. 4 GG verbürgten Garantie eines umfassenden und effektiven Rechtsschutzes bereits für den vorläufigen Rechtsschutz und im Hinblick auf die Tatsache, dass ein Vollzug der Ausweisungsverfügung nur schwer reparabel wäre und für den Antragsteller eine schwer wiegende Belastung darstellen würde, sein privates Interesse am vorläufigen weiteren Verbleiben in der Bundesrepublik Deutschland Vorrang vor dem öffentlichen Vollzugsinteresse. [...]