VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Urteil vom 09.03.2009 - 10 K 1526/08.GI.A - asyl.net: M15452
https://www.asyl.net/rsdb/M15452
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Asylanerkennung, Flüchtlingsanerkennung, Änderung der Sachlage, Menschenrechtslage, Sippenhaft, Verdacht der Unterstützung, PKK, Kurden, exilpolitische Betätigung, Autobahnblockade, Strafverfahren, Terrorismus, Terrorismusbekämpfung, Politmalus, Wehrdienstentziehung
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage ist unbegründet.

Die Kläger werden weder durch den Widerruf der Anerkennung als Asyl berechtigte noch durch den Widerruf der Feststellung hinsichtlich § 51 Abs. 1 AuslG noch durch die Feststellung des Bundesamtes, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht vorliegen, in ihren Rechten verletzt. [...]

Ergänzend zu den Ausführungen des Bundesamtes ist darauf hinzuweisen, dass neben den sich in der Türkei grundlegend geändert darstellenden Verhältnissen auch der Zeitablauf seit der Einreise ins Bundesgebiet ein maßgeblich geänderter Umstand sein kann. Seit der Einreise der Kläger in die Bundesrepublik Deutschland sind über 15 Jahre vergangen und es ist nicht ersichtlich, dass die Kläger aufgrund der von ihnen für die Zeit vor der Ausreise aus der Türkei vorgetragenen Umstände derart bedeutsam für den türkischen Staat und die dortigen Sicherheitskräfte waren, dass auch im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch ein staatliches Interesse an ihnen besteht. In Bezug auf Sippenhaft gilt dies sowohl für die vor der Ausreise vorgetragenen Umstände als auch in Bezug darauf, dass zwei weibliche Familienmitglieder der Kläger sich den kämpfenden PKK-Einheiten in der Türkei angeschlossen haben sollen. In der Türkei gibt es nämlich keine Sippenhaft in dem Sinne, dass Familienmitglieder für Handlungen eines Angehörigen strafrechtlich verfolgt oder bestraft werden. Die nach türkischem Recht aussagepflichtigen Familienangehörigen - etwa von vermeintlichen oder tatsächlichen PKK-Mitgliedern oder Sympathisanten werden allerdings zu Vernehmungen geladen, zum Beispiel um über den Aufenthalt von Verdächtigen befragt zu werden. Werden Ladungen nicht befolgt, kann es zur zwangsweisen Vorführung kommen (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.9.2008). Damit vermag das Gericht nicht festzustellen, dass den Klägern wegen ihrer Familienangehörigen in der Türkei Gefahren drohen, die als asylerheblich oder verfahrensrelevant qualifiziert werden könnten. Hinsichtlich der in der Bundesrepublik Deutschland an den Tag gelegten Aktivitäten ist die Gefahr asylerheblicher oder verfahrensrelevanter Verfolgung ebenfalls mit hinreichender Sicherheit auszuschließen, weil der türkische Staat wegen dieser Aktivitäten keinerlei Interesse an ihnen haben dürfte (vgl. Kaya an VG Göttingen vom 2.1.2009 und Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.9.2008). Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 11.9.2008 laufen nur türkische Staatsangehörige, die im Ausland in herausgehobener oder erkennbar führender Position für eine in der Türkei verbotene Organisation tätig sind und sich nach türkischen Gesetzen strafbar gemacht haben, Gefahr, dass sich die türkischen Sicherheitsbehörden und die Justiz mit ihnen befassen, wenn sie in die Türkei einreisen. Es ist davon auszugehen, dass sich eine mögliche strafrechtliche Verfolgung durch den türkischen Staat insbesondere auf Personen bezieht, die als Auslöser von als separatistisch oder terroristisch erachteten Aktivitäten und als Anstifter oder Aufwiegler angesehen werden. Dies kann für die Kläger und hier insbesondere den Kläger zu 1) nicht mit auch nur geringer Wahrscheinlichkeit festgestellt werden. Nach seinen Angaben sowohl im Asylanerkennungsverfahren als auch im Asylwiderrufsverfahren stellen sich seine Aktivitäten in der Bundesrepublik Deutschland nur von untergeordneter Bedeutung dar, in Bezug auf die Teilnahme an der Blockade der Bundesautobahn 45 gibt er insbesondere an, er sei lediglich auf der Fahrt zu einem Fest nach ... gewesen und habe von den Einzelheiten nichts gewusst. Von daher ist auszuschließen, dass er, und dies gilt umso mehr für die Kläger zu 2) und 3), sich in Bezug auf die an den Tag gelegten Exilaktivitäten in der Bundesrepublik Deutschland in verantwortlicher oder führender Position befunden haben könnte. An bloßen Mitläufern dürfte der türkische Staat aber kein wie auch immer geartetes Interesse (mehr) haben. Darüber hinaus sind öffentliche Äußerungen, auch in Zeitungsannoncen oder -artikeln sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten etc. im Ausland zur Unterstützung kurdischer Belange nach türkischem Recht nur dann strafbar, wenn sie als Anstiftung zu konkret separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen gemäß der gültigen Fassung des türkischen Strafgesetzbuches gewertet werden können (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.9.2008), was in Bezug auf die Aktivitäten der Kläger gerade nicht festgestellt werden kann. Wegen der individuellen Umstände, die die Kläger für die Zeit vor ihrer Ausreise aus der Türkei geschildert haben, ist zur Überzeugung des Gerichts die Gefahr auszuschließen, dass sich der türkische Staat oder die dortigen Sicherheitskräfte überhaupt noch an diese Umstände erinnern bzw. wegen dieser Umstände an den Klägern ein irgendwie geartetes Verfolgungsinteresse haben könnten.

Soweit insbesondere der Kläger zu 1) im Falle einer Rückkehr in die Türkei dort, wenn auch nur mit geringer Wahrscheinlichkeit, Strafverfolgungsmaßnahmen der türkischen Sicherheitskräfte oder Justizbehörden ausgesetzt sein sollte, ist eine derartige Strafverfolgung nicht asylerheblich oder verfahrensrelevant. Hierbei würde es sich zur Überzeugung des Gerichts nämlich allein um die Ahndung strafbewehrten kriminellen Unrechts handeln. Nach den Angaben der Kläger, insbesondere des Klägers zu 1), wie sie seit der Einreise ins Bundesgebiet aktenmäßig ersichtlich sind, hat sich der Kläger zu 1), wenn auch in untergeordneter Stellung, für die Ziele der PKK eingesetzt. Ein derartiges Verhalten ist aber als Beihilfe für eine terroristische Organisation zu bewerten. Nicht nur in der Türkei, sondern auch in der Bundesrepublik Deutschland und europaweit wird die PKK als terroristische Vereinigung qualifiziert mit der Folge, dass staatliches Handeln primär der Terrorismusabwehr dient. Ein derartiges staatliches Abwehrverhalten ist nicht eo ipso als asylerheblich und verfahrensrelevant zu qualifizieren. Dass es im Falle der Kläger gerade anders sein sollte, nämlich dass der türkische Staat aufgrund unverfügbarer und asylerheblicher oder verfahrensrelevanter Merkmale an ihnen ein Unterdrückungsinteresse haben sollte, ist nicht einmal ansatzweise ersichtlich. [...]

Dass der Kläger zu 3) es ablehnt, in der Türkei den Wehrdienst zu leisten, begründet ebenfalls keine berücksichtigungsfähige Gefährdungslage.

Auch der Umstand, dass der Kläger zu 3) seinen Militärdienst noch nicht abgeleistet hat, begründet für ihn im Falle der Rückkehr nicht die Gefahr politischer Verfolgung. Insoweit kommt jedoch eine Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung in Betracht, sofern er sich dem Wehrdienst entzogen haben sollte.

In der Türkei unterliegt jeder männliche türkische Staatsangehörige der Wehrpflicht. Diese beginnt nach dem türkischen Wehrpflichtgesetz am 1. Januar des Jahres, in dem das 20. Lebensjahr vollendet wird, und endet am 1. Januar desjenigen Jahres, in welchem der Pflichtige das 40. Lebensjahr vollendet (Rumpf an VG Ansbach v. 12.02.1999). Wehrdienstentziehung ist nach Art. 63 Militärstrafgesetzbuch (MStGB) mit einer Freiheitsstrafe von einem Monat bis zu drei Jahren unter Strafe gestellt. Für Fahnenflucht sieht Art. 66 MStGB eine Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu drei Jahren vor. Bei einer Flucht ins Ausland beträgt das Strafmaß nach Art. 67 MStGB drei bis fünf Jahre Freiheitsentzug (AA, Lagebericht v. 24.07.2001). In der Praxis orientieren sich die türkischen Gerichte am unteren Bereich des Strafrahmens. Eine höhere Strafe wird verhängt, wenn der Wehrdienst bereits angetreten wurde. Regelmäßig weisen die Urteile die Umwandlung der Freiheitsstrafen in Geldstrafen aus (Rumpf an VG Augsburg v. 23.01.2001; Taylan an VG Saarlouis v. 23.06.2002).

Weder die Heranziehung zum Wehrdienst noch eine etwaige Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung sind für sich allein betrachtet asylrelevant. Eine politische Verfolgung im Zusammenhang mit der Heranziehung zum Wehrdienst kann allenfalls dann angenommen werden, wenn besondere Umstände hinzutreten, aus denen sich ergibt, dass mit der Heranziehung auch beabsichtigt ist, den Wehrpflichtigen wegen asylerheblicher Merkmale zu treffen, indem er z.B. politischer Disziplinierung, Umerziehung oder Einschüchterung ausgesetzt wird (vgl. BVerwG, U. v. 06.12.1988, BVerwGE 81, 41). Anhaltspunkte dafür, dass eine etwaige Bestrafung des Klägers zu 3) an seine kurdische Volkszugehörigkeit anknüpfen könnte, oder dass er bei einer Überprüfung an der Grenze im Falle der Wiedereinreise wegen der Nichtableistung des Wehrdienstes in einer für das Asylverfahren bedeutsamen Weise misshandelt werden würde, lassen sich den vorliegenden Erkenntnisquellen jedoch nicht entnehmen. Einschlägige Präzedenzfälle sind nicht belegt. [...]