OVG Mecklenburg-Vorpommern

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Zitieren als:
OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 13.09.2006 - 2 M 84/06 - asyl.net: M15478
https://www.asyl.net/rsdb/M15478
Leitsatz:

Eine Abschiebungsankündigung "auf Vorrat" ist zuzulässig.

 

Schlagwörter: D (A), Abschiebung, Abschiebungsankündigung, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung, Antrag, Auslegung, Umdeutung, Eilbedürftigkeit, Festststellungsklage, Abschiebungsankündigung auf Vorrat
Normen: AufenthG § 60a Abs. 5 S. 4; VwGO § 123 Abs. 1; VwGO § 88; VwGO § 43
Auszüge:

Eine Abschiebungsankündigung "auf Vorrat" ist zuzulässig.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die Beschwerde ist zulässig und begründet.

Die Antragsteller machen zu Recht geltend (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO), dass die angegriffene Entscheidung ihrem erkennbaren Rechtsschutzziel nicht gerecht geworden ist und deshalb zu Unrecht die im Rahmen des Anordnungsgrundes erforderliche Dringlichkeit verneint hat. Die Antragsteller haben ihren Antrag zur Hauptsache als Feststellungsantrag formuliert. Zu dem weiter gestellten Eilrechtsschutzantrag haben sie ausgeführt, angesichts der zu erwartenden Verfahrenslaufzeit sei es zur Wahrung ihrer Interessen erforderlich, das Hauptsacheverfahren mit einem Eilrechtsschutzantrag zu verbinden, um ihnen auch über die Dauer des Hauptsacheverfahrens die Sicherheit wieder zu verschaffen, die zu erreichen § 60a Abs. 5 Satz 4 AufenthG im Sinne des Art.1 Abs. 1 GG zu dienen bestimmt sei. Daraus wird hinreichend deutlich, dass das Eilrechtsschutzbegehren der Antragsteller auf eine vorläufige Sicherung entsprechend ihrem Begehren in der Hauptsache abzielt. Dem damit erkennbaren Rechtsschutzziel ist durch die vorläufige Feststellung dahingehend, dass eine Abschiebung der Antragsteller ungeachtet der Abschiebungsankündigung vom 16.06.2006 unzulässig ist, zu entsprechen. In diesem Sinne haben die Antragsteller in der Beschwerdebegründung auch vorgetragen (s. d. Seite 3 am Ende), ohne allerdings ihren Antrag entsprechend umzuformulieren.

Dass die Antragsteller noch im Beschwerdeverfahren dem Wortlaut nach beantragt haben, dem Antragsgegner vorläufig zu untersagen, gestützt auf die Abschiebungsankündigung vom 16.06.2006 aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen sie einzuleiten, begründet keine andere Bewertung. Dabei kommt es nicht darauf an, ob mit dem Verwaltungsgericht davon auszugehen ist, dass für einen solchen Untersagungsausspruch kein Anlass besteht, so lange eine Abschiebung nicht konkret absehbar ist. Maßgeblich ist nicht der Wortlaut des gestellten Antrags, sondern das Begehren des Antragstellers, § 88 VwGO. Im Falle des § 123 VwGO muss der Antragsteller die vom Gericht zu treffende Maßnahme nicht konkret bezeichnen, vgl. § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §938 Abs. 1 ZPO (vgl. Schoch u.a., VwGO, Stand: 10/05, § 123 Rn. 125; Sodan/Ziekow, VwGO, 2. Aufl. 2006, §123 Rn. 66). Hat er dies gleichwohl getan, so ist das Gericht daran nicht gebunden (vgl. Sodan/Ziekow, a.a.O. Rn. 111). Um eine Umdeutung des Antrags, die im Falle anwaltlicher Vertretung ausscheiden würde (vgl. Beschluss des Senats vom 01.09.2004 2M223/04, NordÖR 2004, 503), handelt es sich dabei nicht.

Gegen die Zulässigkeit des Antrags bestehen keine Bedenken. Das in der Hauptsache geltend gemachte Feststellungsbegehren ist der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zugänglich (vgl. Schoch u.a., a.a.O. Rn. 35). Die in der Hauptsache erhobene Feststellungsklage ist ihrerseits gemäß § 43 VwGO zulässig. Gegenstand des Rechtsstreits ist ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis. Denn es geht um die Frage, ob der Anspruch der Antragsteller gemäß § 60 a Abs. 5 Satz 4 AufenthG auf die Ankündigung einer geplanten Abschiebung mindestens einen Monat im Voraus (noch) besteht, oder ob dieser Anspruch durch die Abschiebungsankündigung vom 16.06.2006 erfüllt worden ist. Im Rahmen des Erlasses einer einstweiligen Anordnung ist auch eine vorläufige Feststellung möglich (vgl. Schoch u.a., a.a.O. Rn. 35 u. 139, jew. m.w.N.), wie sie hier der Sache nach begehrt wird.

Der erforderliche Anordnungsgrund liegt vor. Die vorläufige Feststellung erscheint nötig, um wesentliche Nachteile abzuwenden, § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO. Das durch die Regelung des § 60a Abs. 5 Satz 4 AufenthG geschützte Interesse der Antragsteller, sich in ihren Lebensverhältnissen darauf einstellen zu können, ob ihnen eine geplante Abschiebung noch mindestens einen Monat im Voraus angekündigt wird, oder ob sie mit einer Abschiebung jederzeit rechnen müssen, besteht jetzt aktuell und ist nicht davon abhängig, dass sämtliche anderen Voraussetzungen für eine Abschiebung bereits vorliegen, zumal die Antragsteller davon nicht gesondert benachrichtigt werden. Durch eine Entscheidung in der Hauptsache kann diesem Interesse für den bis dahin verstrichenen Zeitraum nicht mehr Rechnung getragen werden.

Der geltend gemachte Anordnungsanspruch ist – entsprechend den insoweit vom Verwaltungsgericht gegebenen Hinweisen – ebenfalls zu bejahen. Für das hiesige Eilverfahren ist davon auszugehen, dass die Abschiebungsankündigung vom 16.06.2006 rechtswidrig ist und die Antragsteller vor Erlass einer erneuten, rechtmäßigen Abschiebungsankündigung nicht abgeschoben werden dürfen. Nach § 60 a Abs. 5 Satz 4 AufenthG ist dann, wenn die Abschiebung länger als ein Jahr ausgesetzt ist, die für den Fall des Erlöschens durch Ablauf der Geltungsdauer oder durch Widerruf vorgesehene Abschiebung mindestens einen Monat vorher anzukündigen. Der Zweck dieser Regelung ist darin zu sehen, dass dem längerfristig geduldeten Ausländer ausreichend Zeit für die Regelung seiner Lebensverhältnisse gegeben werden soll. Daher muss sich für den Ausländer aus der Ankündigung hinreichend deutlich und nachvollziehbar ergeben, wann in etwa mit einer Abschiebung zu rechnen ist. Richtig ist zwar, dass mit der Ankündigung ein bestimmter Termin für die Abschiebung nicht angegeben werden muss. Gleichwohl darf die Abschiebungsankündigung nicht ohne jeden Anlass, gewissermaßen "auf Vorrat" ergehen. Es liegt kein Sinn darin, die Betroffenen, nur um dem Gesetz Genüge zu tun, in regelmäßigen Abständen zu veranlassen, ihre Ausreise vorzubereiten. Eine Ankündigung, die nicht in dem Sinne ernst gemeint ist, dass ihre Umsetzung auch tatsächlich im zeitlichen Zusammenhang zu erwarten ist, läuft Gefahr, auch nicht ernst genommen zu werden (vgl. Beschluss des Senats vom 27.01.2005 - 2 M 14/05, 2 O 9/05 -, m.w.N.).

Zu Recht hat daher auch das Innenministerium Mecklenburg-Vorpommern mit Erlass vom 10.08.2006 die Ausländerbehörden darauf hingewiesen, dass eine Abschiebungsankündigung erst dann zu erfolgen habe, wenn die Möglichkeit einer Abschiebung auch tatsächlich realisiert werden könne. Eine "vorsorgliche" bzw. nach einem Jahr Duldungserteilung "automatische" Ankündigung der Abschiebung sehe das Gesetz weder vom Wortlaut noch vom Zweck her vor. Führe somit z.B. die Beantragung von Passersatzpapieren nicht kurzfristig zur Realisierung der Abschiebungsmöglichkeit, oder stehe eine Botschaftsvorführung des Ausländers (und damit auch das Vorliegen von Passersatzpapieren) noch aus, sei eine Abschiebungsankündigung verfrüht.

Diesen Maßstäben entspricht die Abschiebungsankündigung des Antragsgegners vom 16.06.2006 nicht. Wann in etwa mit der Abschiebung der Antragsteller zu rechnen ist, ist soweit ersichtlich nicht absehbar. Passersatzpapiere liegen nicht vor. [...]