VG Bremen

Merkliste
Zitieren als:
VG Bremen, Beschluss vom 07.04.2000 - 4 V 711/00.A - asyl.net: M15479
https://www.asyl.net/rsdb/M15479
Leitsatz:

Allein die Anhörung des Asylantragstellers genügt nicht zur Ausübung des Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 4 des Dubliner Übereinkommens; ernstliche Zweifel an der Ablehnung eines Asylantrags als unbeachtlich können sich auch aus zielstaatsbezogenen Umständen hinsichtlich des zuständigen Mitgliedstaat des Dubliner Übereinkommens ergeben.(Leitsatz der Redaktion)

 

Schlagwörter: Verfahrensrecht, Dubliner Übereinkommen, Drittstaatenregelung, unbeachtlicher Asylantrag, vorläufiger Rechtsschutz, Suspensiveffekt, ernstliche Zweifel, Visum, Fälschung, Schlepper, Selbsteintrittsrecht, Anhörung, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Glaubwürdigkeit
Normen: VwGO § 80 Abs. 5; AsylVfG § 36 Abs. 3; AsylVfG § 29 Abs. 3; AsylVfG § 35; AsylVfG § 36 Abs. 1; AsylVfG § 26a; GG Art. 16a Abs. 2 AsylVfG § 26a Abs. 2; DÜ Art. 3 Abs. 4; AsylVfG § 26a Abs. 1
Auszüge:

 

[...] Der nach § 80 Abs. 5 VwGO, § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG zulässige Antrag hat keinen Erfolg.

Nach § 75 AsylVfG hat eine Klage gegen eine Abschiebungsandrohung bei Unbeachtlichkeit des Asylantrages keine aufschiebende Wirkung. Diese Regelung bringt den Willen des Gesetzgebers zum Ausdruck, daß ein Ausländer, dessen Asylantrag gemäß § 29 Abs. 3 AsylVfG unbeachtlich ist, sich grundsätzlich nicht bis zur Entscheidung über seine Klage im Inland aufhalten darf. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung kommt deshalb nur in Betracht, wenn ein entgegenstehendes besonderes Interesse des betreffenden Ausländers anzuerkennen ist. Dieses ist anzunehmen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen (§ 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG).

Das ist nicht der Fall. Die angegriffene Entscheidung erweist sich als offenkundig rechtmäßig.

Die angefochtene Abschiebungsandrohung beruht auf § 29 Abs. 3, § 35 Satz 2, § 36 Abs. 1 AsylVfG. Danach ist ein Asylantrag unbeachtlich und der Ausländer unter Androhung der Abschiebung und Festsetzung einer Frist von einer Woche zur Ausreise aufzufordern, wenn auf Grund eines völkerrechtlichen Vertrages ein anderer Vertragsstaat, der ein sicherer Drittstaat ist, für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist oder die Zuständigkeit übernimmt.

Nach Art. 5 Abs. 2 des Übereinkommens über die Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften gestellten Asylantrages (Dubliner Übereinkommen) vom 15.6.1990 (BGBl. II 1994, S. 791) ist eine Vertragspartei für die Durchführung des Asylbegehrens zuständig, wenn sie dem Asylbegehrenden ein Visum erteilt hat. Das Dubliner Übereinkommen ist am 1.9.1997 für die Bundesrepublik Deutschland und gleichzeitig auch für Italien in Kraft getreten (vgl. Bekanntmachung vom 2.7.1997, BGBl. II 1997, S. 1452). Nach dem Protokoll zu den Konsequenzen des Inkrafttretens des Dubliner Übereinkommens für einige Bestimmungen des Durchführungsübereinkommens zum Schengener Übereinkommen (Bonner Protokoll) vom 26.4.1994 (BGBl. II 1995, S. 738) finden mit dem Inkrafttreten des Dubliner Übereinkommens die Bestimmungen der Art. 28 ff. SDÜ über die Zuständigkeit für die Behandlung von Asylbegehren keine Anwendung mehr (vgl. Bekanntmachung vom 3.7.1997, BGBl. II 1997, S. 1468).

Vorliegend ist aufgrund der Würdigung der Angaben der Antragsteller vor dem Bundesamt davon auszugehen, daß die Antragsteller mit einem von der italienischen Botschaft ausgestellten Visum in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sind. [...]

Es ist auch nicht ersichtlich, daß es sich bei den Reisepässen und den ausgestellten Visa um Fälschungen gehandelt hat. Der Antragsteller zu 1. hat selbst angegeben, er gehe davon aus, daß die Pässe und Visa vermutlich in Inguschetien ausgestellt worden seien, da dort die Ausstellung von Pässen möglich sei. Die Antragstellerin zu 2. hat angegeben, daß sie ihre Inlandspässe dem Schlepper gegeben hätten und aufgrund der Inlandspässe die Reisepässe angefertigt worden seien. Dabei muß es sich nicht um Fälschungen handeln, denn es besteht durchaus die Möglichkeit, daß der Schlepper echte Reisepässe durch Anträge der Antragsteller, gefälschte Anträge oder auch Bestechung bei den zuständigen Behörden erwirkt hat. Letztlich müssen es sich die Antragsteller zurechnen lassen, daß sie sich ihrer Pässe durch Rückgabe an den Schlepper begeben haben.

Da Italien den Antragstellern gültige Visa erteilt hat, ist Italien auch für die Durchführung der Asylverfahren zuständig. Italien ist als Vertragspartei sicherer Drittstaat im Sinne des § 26 a AsylVfG, wie sich aus Art. 16 a Abs. 2 GG und § 26 a Abs. 2 AsylVfG ergibt.

Die Bundesrepublik Deutschland hat auch nicht von ihrem Recht Gebrauch gemacht, die Asylbegehren der Antragsteller gemäß Art. 3 Abs. 4 des Dubliner Übereinkommens selbst zu behandeln. Die Anhörung der Antragsteller zu 1. und 2. allein reicht nicht aus, die für eine Übernahme notwendige Absicht, über das Asylbegehren auch in der Sache zu entscheiden, zu begründen. Gründe, die die Antragsgegnerin verpflichten könnten, von ihrem Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen, sind nicht ersichtlich.

Auch § 29 Abs. 3 Satz 2 AsylVfG steht der Feststellung, daß die Asylanträge der Antragsteller unbeachtlich sind, nicht entgegen. Nach § 29 Abs. 3 Satz 2 AsylVfG bleibt § 26a Abs. 1 AsylVfG unberührt. Die Bedeutung der Vorschrift ist umstritten. So wird sie einerseits dahin ausgelegt, daß bei einer Einreise über einen sicheren Drittstaat, der nicht zugleich nach den völkerrechtlichen Zuständigkeitsabkommen für die Prüfung des Asylbegehrens zuständig ist, wie z.B. bei den Antragstellern, die über Polen eingereist sind, § 29 Abs. 3 AsylVfG keine Anwendung findet (Kloesel/Christ/Häußer, Deutsches Ausländerrecht, § 29 AsylVfG Rn. 22). In der Begründung des Gesetzentwurfs zu § 29 Abs. 3 Satz 2 AsylVfG (BT-Drs. 12/4984 S. 48) heißt es hingegen: "Klarstellung, daß die Regelungen der §§ 26a, 34a Anwendung finden, wenn der Ausländer aus dem zuständigen Vertragsstaat eingereist ist.“ Dies spricht dafür, daß der Gesetzgeber die Fälle im Blick hatte, in denen der Ausländer aus einem sicheren Drittstaat eingereist ist, der zugleich nach den Zuständigkeitsabkommen zuständiger Vertragsstaat ist. Mit der Unberührtheitsklausel sollte die Anwendung der §§ 31 und 34a AsylVfG offengehalten werden mit der Folge der nur eingeschränkten Rechtsschutzmöglichkeiten bei dem Erlaß einer Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylVfG (vgl. § 34a Abs. 2 AsylVfG). Daß damit zugleich ein Vorrang der §§ 26a, 34a AsylVfG in Fällen wie den vorliegenden bestimmt werden sollte, läßt sich weder der Entstehungsgeschichte der Norm noch sonst dem Gesetz entnehmen. Vielmehr ist davon auszugehen, daß die Antragsgegnerin nicht gehindert ist, nach § 29 Abs.3 AsylVfG vorzugehen. [...]

Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Bundesamts ergeben sich schließlich nicht aus dem Vorbringen der Antragsteller, der Antragsteller zu 1. habe in Italien Blutrache zu befürchten, vor der ihn der italienische Staat nicht schützen könne. Im Rahmen eines Antrages nach § 80 Abs. 5 VwGO sind vom Ausländer geltend gemachte konkrete Gefahrenlagen im Staat, in den er abgeschoben werden soll, zu berücksichtigen. So kann der Ausländer gegen seine Abschiebung vorbringen, daß er in unmittelbarem Zusammenhang mit der Zurückweisung oder Rückverbringung in den Drittstaat dort Opfer eines Verbrechens werde, welches zu verhindern nicht in der Macht des Drittstaates steht (vgl. BVerfG aaO.). Das Vorbringen der Antragsteller, dem Antragsteller zu 1. drohe in Italien konkret die Gefahr einer Blutrache, ist unglaubwürdig. [...]