VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 08.04.2009 - A 5 K 2643/08 - asyl.net: M15494
https://www.asyl.net/rsdb/M15494
Leitsatz:

Im Regelfall keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung wegen Separatismusverdachts in der Türkei.

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Separatisten, Verdacht der Mitgliedschaft, Oppositionelle, Änderung der Sachlage, politische Entwicklung, Reformen, PKK, Menschenrechtslage, Folter, Antiterrorismusgesetz, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen, Inhaftierung, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage ist begründet. [...]

Nach der ständigen Rechtsprechung der Kammer lässt sich ein Widerruf der Asylberechtigung von Personen, die wegen Separatismusverdacht die Türkei als politisch Verfolgte verlassen haben, derzeit (noch) nicht auf eine allgemeine Änderung der Verhältnisse in der Türkei stützen; auch heute noch erscheint es im Regelfall nicht mit hinreichender Sicherheit als ausgeschlossen, dass solche Personen bei einer Rückkehr in die Türkei politischer Verfolgung ausgesetzt sein würden (Urteile vom 02.02.2007-A 5 K 696/06 -, vom 08.12.2006 - A 7 K 99/06 -, vom 16.04.2008 - A 5 K 391/07 -; Urt. v. 18.06.2008 - A 5 K 2161/07 - juris). Dies entspricht verbreiteter und wohl überwiegender Rechtsprechung der Verwaltungsgericht erster Instanz (z.B. VG Stuttgart Urteil vom 15.05.2006 -A 11 K 711106 -; VG Minden Urteil vom 28.07.2006 - 8 K 275/06.A-; VG Ansbach Urteil vom 20.03.2007 - AN 1 K 06.30862 -).

Zwar hat sich die innenpolitische Situation in der Türkei, soweit sie die politischen Anliegen der Kurden betrifft, in den letzten Jahren merklich entspannt. Die positive Entwicklung erscheint aber bei allen Anstrengungen als zerbrechlich und damit noch nicht als unumkehrbar; auch lässt sich noch nicht mit der notwendigen Gewissheit feststellen, dass die vor allem auf der Gesetzesebene vorgenommenen Änderungen insbesondere in den Polizeidienststellen im Wesentlichen befolgt werden. Die von der PKK ausgehenden Gefahren für den türkischen Staat bestehen nach wie vor. Dementsprechend wird die PKK von den zuständigen türkischen Stellen auch heute noch mit großer Härte und immer wieder auch unter Einsatz von Folter gegen wirkliche oder vermeintliche Unterstützer bekämpft. Ob die in den letzten Jahren ins Werk gesetzten rechtsstaatlichen Verbesserungen von den nachgeordneten Behörden in der Regel beachtet werden, wird erst nach Ablauf eines längeren Zeitraums beurteilt werden können.

Insgesamt wurden seit 2002 acht sog. "Reformpakete" verabschiedet, die in kurzer Zeit umwälzende gesetzgeberische Neuerungen brachten. [...]

Die Glaubwürdigkeit des Regierungsbekenntnisses zur "Null-Toleranz-Politik" gegenüber Menschenrechtsverletzungen wird auch von dem türkischen Staat gegenüber kritisch eingestellten Menschenrechtsorganisationen nicht bestritten. Allerdings zeigten sich diese Organisationen angesichts einer im Jahr 2005 offenbar stagnierenden Entwicklung in manchen Bereichen enttäuscht. Die Umsetzung einiger Reformen geht langsamer als erwartet voran. Strukturelle Probleme bestehen fort. Amnesty international (vgl. Länderkurzinfo v. 31.07.2005) berichtet etwa, es gebe laut türkischen Anwalts- und Menschenrechtsorganisationen nach wie vor Fälle, in denen Aussagen und Geständnissen mit Folter erpresst würden. Das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) hält in seinem Dienstreisebericht vom 25.04.2006 fest, dass die schweren Menschenrechtsverletzungen in den Jahren 2004 und 2005 zwar erheblich zurückgegangen seien, sich seit Ende 2005 jedoch wieder ein Anstieg von Folter und Misshandlungen durch "subtilere" Methoden abzeichnet. Auch das Auswärtige Amt bezeichnet die Strafverfolgung von Foltertätern trotz aller gesetzgeberischen Maßnahmen und trotz einiger Verbesserungen immer noch als unbefriedigend. Allerdings haben die Übergriffe an Zahl und vor allem an Intensität nachgelassen, Fälle schwerer Folter kommen nur noch vereinzelt vor (vgl. Lageberichte des Auswärtigen Amts v. 11.01.2007, insbesondere S. 5, 9, 37 ff. und 47 und vom 25.10.2007, insbesondere S. 29; Kaya v. 08.08.2005 an VG Sigmaringen; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 09.02.2006 - A 12 S 1505/04 - und Nieders. OVG, Urt. v. 18.07.2006 - 11 LB 75/06 -, juris).

Verbessert hat sich auch die Lage der Kurden, was allgemein den Minderheitenschutz und die Ausübung kultureller Rechte betrifft. [...]

Auch haben die bewaffneten Auseinandersetzungen im Südosten der Türkei insgesamt abgenommen. [...]

Die PKK verkündete jedoch zum 01.06.2004 die Beendigung des von ihr ausgerufenen Waffenstillstands. Seitdem kam es im Südosten der Türkei nach offiziellen Angaben wieder vermehrt zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen türkischem Militär und PKK-Kämpfern, die seit Mai 2005 weiter eskaliert sind, obwohl die PKK in den Jahren 2005 und 2006 jeweils einseitig einen Waffenstillstand ausrief. So sollen nach Angaben türkischer Stellen in den letzten drei Jahren 359 PKK-Terroristen, 203 türkische Soldaten, 21 Polizisten und 22 Dorfschützer zu Tode gekommen sein. Allein seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe im Jahr 2006 sollen nach Presseangaben bis in das Jahr 2007 hinein mindestens 110 PKK-Mitglieder und 78 Soldaten ums Leben gekommen sein. Diese Entwicklung hat sich bis in die jüngste Zeit fortgesetzt (vgl. Lagebericht d. Auswärtigen Amts v. 11.09.2008, S. 16).

Einen weiteren negativen Wendepunkt für das sich über die letzten Jahre langsam verbessernde Verhältnis zwischen kurdischstämmiger Bevölkerung und türkischem Zentralstaat bildete ein von Gendarmerieangehörigen begangener Anschlag auf das Buchgeschäft des ehemaligen PKK-Mitglieds in einer Kleinstadt im Südosten der Türkei (Semdinli) im November 2005. Danach war ein weiterer deutlicher Anstieg der Spannungen in der Region zu verzeichnen. [...]

In Reaktion auf die Rückkehr der PKK zur Gewalt hat das türkische Parlament schon im Jahr 2006 ein Anti-Terror-Gesetz verabschiedet. Die von Menschenrechts-Organisationen und den Medien stark kritisierten Änderungen sehen u.a. eine Wiedereinführung des abgeschafften Straftatbestands für separatistische Propaganda, eine wenig konkret gefasste Terrordefinition, eine Ausweitung von Straftatbeständen, die Schwächung der Rechte von Verhafteten und eine Ausweitung der Befugnisse der Sicherheitskräfte vor. Diese gesetzlichen Änderungen drohen die Meinungsfreiheit erneut zu beschneiden und ermöglichen für viele Handlungen, die nicht im Zusammenhang mit Gewaltakten stehen, eine Verurteilung wegen Beteiligung an Terrordelikten. Dieses Anti-Terror-Gesetz wird allgemein als Konzession an die türkischen Sicherheitskräfte angesehen (Lagebericht d. AA v. 11.01.2007, S. 16).

Nach wie vor können bekannt gewordene oder vermutete Verbindungen zur PKK bei der Einreise zur vorübergehenden Ingewahrsamnahme, zum Verhör durch die Grenzpolizei und ggf. durch die Terrorabteilung der Polizei führen (vgl. AA v. 21.11.2005 an VGH Hessen, Az. 508-516.80/44245). Auch der Sachverständige Kaya führt aus, dass es möglich sei, als vermeintlicher PKK-Sympathisant oder -Unterstützer bei der Einreise in die Türkei festgenommen und einige Zeit festgehalten zu werden, wobei in einem solchen Fall mit einem Festhalten für maximal 24 Stunden zu rechnen sei (Kaya v. 09.08.2006 an VG Berlin und v. 08.08.2005 an VG Sigmaringen). Die Feststellung des Auswärtigen Amts, dass in den letzten Jahren kein einziger Fall bekannt geworden sei, in dem ein aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrter oder abgeschobener abgelehnter Asylbewerber gefoltert oder misshandelt worden sei, sei zwar zutreffend; unter den Zurückgekehrten oder Abgeschobenen habe sich nach seinen Informationen aber keine Person befunden, die Mitglied oder Kader der PKK oder einer anderen illegalen, bewaffneten Organisation gewesen oder als solche verdächtigt worden sei (Nieders. OVG, Urt. v. 18.07.2006 - 11 LB 75/06 -). Auch nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes ist es der Türkei bislang nicht gelungen, Folter und Misshandlungen weitestgehend zu unterbinden (Lageberichte des Auswärtigen Amts. 11.01.2007, S. 37 f., vom 25.10.2007, S. 29 und vom 11.09.2008, S. 25). [...]