VG Oldenburg

Merkliste
Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 06.04.2009 - 5 A 680/09 - asyl.net: M15507
https://www.asyl.net/rsdb/M15507
Leitsatz:

Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung in der Türkei wegen separatistischer Aktivitäten des verstorbenen Ehemanns sowie einer Vielzahl von Mitgliedern der Großfamilie.

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Änderung der Sachlage, PKK, exilpolitische Betätigung, Kurden, Sippenhaft, Reformen, Menschenrechtslage, politische Entwicklung, Regimegegner, Separatisten, Terrorismus, Inhaftierung, Folter, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Ehemann, Großfamilie
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage, über die im Einverständnis mit den Beteiligten gem. § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entschieden werden konnte, ist begründet.

Der Widerrufsbescheid des Bundesamtes vom 29. Januar 2009 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO). [...]

Der angegriffene Widerruf liegt weder sachlich noch zeitlich außerhalb der Reichweite der materiellen Bestandskraft des genannten Bescheides. Die Streitgegenstände der Zuerkennung und des Widerrufs des Status eines politischen Flüchtlings sind identisch. Eine nach den o.g. Maßstäben wesentliche Änderung der Sachlage gegenüber der des im November 1998 erlassenen Bescheides lässt sich weder im Hinblick auf die Rückkehrgefährdung von (anerkanntermaßen) für die PKK und ihre Exilorganisationen aktiven Kurden noch im Hinblick auf die Gefährdung von durch sippenhaftähnliche Maßnahmen bedrohten Kurden feststellen. Die Verhältnisse haben sich zwischenzeitlich trotz der von der Beklagten dargestellten Reformen in der Türkei nicht so gravierend verändert, dass an dieser Wertung nicht länger festgehalten werden müsste. Zwar ist dem Bundesamt zuzugeben, dass sich die innenpolitische Situation und die Sicherheitslage in der Türkei zwischenzeitlich schon deutlich gebessert haben. Insoweit erweist sich auch die Darstellung in dem angefochtenen Bescheid und in dem gerichtlichen Verfahren im Wesentlichen als zutreffend. Nach den o.g. Maßstäben setzt die Rechtmäßigkeit eines Widerrufs aber voraus,. dass sich die Verhältnisse im Herkunftsstaat tatsächlich in einer Weise verändert hätten (d.h. verbessert haben), dass sich eine für die Flucht maßgebliche Verfolgungsmaßnahme absehbarer Zeit mit hinreichender Sicherheit ausschließen lässt. Eine derartige Prognoseentscheidung lässt sich hier nicht treffen. Denn die Rechtsprechung des erkennenden Verwaltungsgerichts (vgl. z.B. Urt. v. 17.09.2007 - 5 A 5078/06 - und Urt. v. 04.10.2007 - 5 A 4386/06 -) geht nach Auswertung aktueller Erkenntnismittel nach wie vor davon aus, dass es in der Türkei trotz der eingeleiteten Reformen immer noch zu menschenrechtswidriger Behandlung von inhaftierten Regimegegnern kommt, insbesondere wenn sie der Begehung von Staatsschutzdelikten verdächtigt werden. Dies gilt insbesondere für Personen, die als Auslöser von als separatistisch oder terroristisch erachteten Aktivitäten oder als Anstifter oder Aufwiegler angesehen werden. Gerade zu diesem Personenkreis zählte der Ehemann der Klägerin ebenso wie eine Vielzahl der Mitglieder der Großfamilie ... und damit zählt auch die Klägerin selbst nach Einschätzung des Gerichts unter Auswertung insbesondere auch der gutachterlichen Stellungnahme des Sachverständigen Oberdiek vom 28.05.2007 dazu. Hinsichtlich der für diese Einschätzung maßgeblichen objektiven Verhältnisse in der Türkei lässt sich aus den aktuellen Erkenntnismitteln nicht eine wesentliche nachträgliche Veränderung feststellen. Diesbezüglich macht sich das Gericht die Würdigung der Erkenntnismittel in den obergerichtlichen Entscheidungen, die Bestandteil der den Beteiligten vom Gericht zur Verfügung gestellten Liste sind, zu Eigen und verweist auf sie. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften seit Juni 2004 wieder aufgeflammt sind und ein Anstieg von Übergriffen der Sicherheitskräfte erneut zu verzeichnen ist und der Verschärfung des Antiterrorgesetzes am 29. Juni 2006 als Reaktion auf die Zunahme der Spannungen im Südosten der Türkei kann jedenfalls nicht davon ausgegangen werden, dass der durch eigene politische Aktivitäten Aufgefallene bei einer Rückkehr in die Türkei Verfolgungsmaßnahmen nicht mehr ausgesetzt sein wird.

Das Bundesamt vermochte auch nicht eine derartige Veränderung der speziell die Klägerin betreffenden Verhältnisse darzulegen und nachzuweisen.

Daher drohen der Klägerin schon allein wegen des regimefeindlichen Einsatzes ihres verstorbenen Ehemannes und der gesamten Großfamilie ... in der Vergangenheit bei einer Rückkehr in die Türkei strafrechtliche Ermittlungen, Festnahmen und Verhöre, bei denen sich die Gefahr der Misshandlungen und Folter nicht mit hinreichender Sicherheit ausschließen lässt. Dieser strenge Prognosemaßstab ist hier anzuwenden, da sich die Klägerin nicht auf eine gänzlich neue oder andersartige Verfolgung, sondern auf die ursprüngliche Verfolgung wegen sippenhaftähnlicher Gefährdung aufgrund exponierter exilpolitischer Betätigungen beruft und die Bestandskraft des früheren Bescheides gerade dies erfasst. [...]